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MCP - Der Literatur-Newsletter im September 2022

Liebe Leser*innen,

vor über einem Jahr, im August 2021, ging der erste MCP-Newsletter zu euch auf die Reise. Ich freue mich sehr, dass er euch auch auch im zweiten Jahr begleiten darf und wir weiterhin gemeinsam Literatur entdecken. Was für ein Glück, wenn Inspiration auf diesem unkomplizierten Weg von meinem Regal in eures wandern darf. Ich starte die Septemberausgabe nun mit drei Büchern, die ich euch herbstfrisch aber glühend warm ans Herz legen möchte.

Lieblinge im September:

Seit 2015 „Das Ende von Eddy“ (übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel) erschienen ist, gehört Édouard Louis für mich zu den spannendsten und wichtigsten Stimmen der französischen Literatur. In „Anleitung ein anderer zu werden“ (Öffnet in neuem Fenster) (übersetzt von Sonja Finck) erkennen wir viele bekannte Motive seiner bisherigen autofiktionalen Bücher wieder – sein Aufwachsen als homosexueller Junge in der Arbeiterklasse einer nordfranzösischen Kleinstadt bis zu seinem Aufstieg in die geisteswisschenschaftliche Elite von Paris – und doch halte ich dieses Buch nicht nur für unverzichtbar in seinem Werk, es ist sogar mein neues Lieblingsbuch von Édouard Louis. Mit schonungsloser Ehrlichkeit und großer Offenheit beschreibt Louis, was ihn all das gekostet hat: Das Ablegen seines Namens, die oft gewaltsamen inneren und äußeren Veränderungen, die er an sich vorgenommen hat, um endlich in der Gesellschaft anzukommen, die Häutungen und der Verrat. Und wie auch meiner Göttin der Autofiktion, die in der Rubrik Lebensbuch am Schluss dieses Newsletters heute endlich einen Platz finden wird, gelingt es Édouard Louis aus diesen Fragmenten seines unfassbar bewegten, aber noch sehr jungen Lebens (er ist nicht einmal dreißig Jahre alt), grandiose Literatur zu machen. Er schreibt die Scham ab, indem er sie sehr deutlich beschreibt und befreit damit nicht nur sich sondern auch uns Lesende. Ein zartes, für Louis fast versöhnlich unwütendes und doch unvermindert kraftvolles Buch.

Im ocelot haben wir neulich die Buchpremiere von Musa Okwonga „Es ging immer nur um Liebe“ (Öffnet in neuem Fenster) (übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig) gefeiert. Hier (Öffnet in neuem Fenster) kann man sein wunderbares Gespräch mit dem mairisch Verleger Daniel Beskos als aufgezeichneten Instagram-Livestream nachschauen. Dieses Buch schafft es, wie kaum ein anderes, dass einem beim Lesen die Tränen vor Lachen in die Augen treten und, dass man wenige Seiten später weinen muss, wegen all der verzweifelten Zärtlichkeit menschlichen Seins. Es ist eine Liebeserklärung an Berlin und an das Leben als solches. Es ist poetisch und ernst und witzig. Es thematisiert Rassismus und Liebeskummer, Kuchen und Fussball. Es ist in kurze Passagen gegliedert und dadurch sehr gut auch zwischendurch lesbar und trotzdem wiegt es wunderbar schwer und hallt lange in uns nach. Es ist nicht nur wegen der verwendeten 2. Person, dem angesprochenen Du, ein Dialog. Musa Okwonga führt ein Gespräch mit uns, von dem wir nicht möchten, dass es je aufhört.

„Passagen“ (Öffnet in neuem Fenster) von Ann Quin (übersetzt von Elisabeth Fetscher) lässt sich im Vergleich zu den beiden anderen Lieblingen im September kaum beschreiben, so wunderbar rätselhaft, so flirrend, so surreal ist die Geschichte einer Frau, die sich in einer totalitären (?) Welt mit ihrem Liebhaber auf die Suche nach ihrem verschwundenen (und vermutlich längst getöteten) Bruder macht. Der Roman ist eine Wiederentdeckung von 1970, als er ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals bereits im März Verlag erschien. Das aktuelle Nachwort von Claire-Louise Bennett (übersetzt von Eva Bonné) hilft nicht nur, Ann Quin besser einzuordnen, es kündigt auch den Sog an, dem man sich ohnehin nicht entziehen kann, wenn Claire-Louise Bennett empfiehlt, dieses Buch an einem Stück zu lesen: „Es zwischendurch aus der Hand zu legen, wäre ein bisschen so, als wollte man eine Auster in kleinen Happen und mit langen Pausen essen – sinnlos, zutiefst irritierend und letztlich unbefriedigend. Trinken Sie es in einem Zug. Werden Sie zum Meer.“ Ann Quins grandios klare Sprache in einer betörend schönen Übersetzung von Elisabeth Fetscher sorgt dann ganz von allein dafür, dass man sich diesem Buch in zwei intensiven, lustvollen Stunden ganz und gar widmet, dass man lesende Hingabe übt und manche Fragen keiner Antwort mehr bedürfen.

Liebend gern gehört

Diese Rubrik hatten wir schon länger nicht mehr, aber in den letzten Wochen hatte ich einige Gelegenheiten, mir Bücher vorlesen zu lassen.

„Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher bei Kiepenheuer & Witsch gehört für mich zu den stärksten deutschsprachigen Neuerscheinungen des Jahres und ich freue mich sehr, dass der Roman nun auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht. Der Roman um eine Tochter, die in den Achtziger Jahren miterleben muss, wie die vermeintlich übergewichtige Figur ihrer Mutter vom Vater verantwortlich gemacht wird, für alles, worin er selbst versagt, ist mehr als nur eine Weight Watchers Entstehungsgeschichte: Es ist das beklemmende Kammerspiel einer Familie, die stellvertretend für eine ganze Generation steht und eine feministische Auslotung der Möglichkeiten von Selbstbestimmung, nicht nur in der damaligen Zeit. Ich bin durch den Roman geradezu gerauscht. Doch gerade, weil das Thema so komplex und trotz aller Historie so aktuell ist und weil Daniela Dröscher ihren Figuren so wunderbar viel Tiefe verleiht, war es mir ein großes Bedürfnis, mir die Geschichte noch einmal ganz in Ruhe anzuhören, grandios vorgelesen von Sandra Voss für argon.

Wer Karen Duves Erzählstimme aus „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ genauso vermisst hat wie ich, kann sich jetzt über ihren Roman „Sisi“ freuen, der gerade bei Galiani erschienen ist. Nach Annette von Droste-Hülshoff widmet sich Karen Duve nun also der legendären Elisabeth von Österreich und sofort verfalle ich wieder ihrem Ton, der die opulente und brillant recherchierte Geschichte in der ungekürzten Autorinnenlesung für den Hörbuchverlag tacheles selbst eingelesen hat. Niemand könnte das besser. Die raue, teils spöttische Stimme, die mit großer Präzision und fulminanter Beschreibungsfähigkeit und trotzdem mit lässiger Leichtigkeit ganze Jagdgesellschaften in meine Vorstellungskraft zaubert, lässt keinen Zweifel daran, dass die Autorin den Spagat geschafft hat, einer Ikone so nah wie möglich zu kommen, ohne ihrem erdrückenden Ruf zu erliegen und ohne sie als Figur zu verraten. Es ist eine reine Lust, Karen Duve zuzuhören, wie sie diese Geschichte liest.

Bücher der Stunde

Da ich im letzten Monat eine Sommerpause für den Newsletter eingelegt hatte, ist mir leider eine Ankündigung entgangen, die mir doch so sehr am Herzen lag: Ich durfte „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“ (Öffnet in neuem Fenster) von Annabelle Hirsch im Verlag Kein & Aber vorab lesen, bestaunen und bewundern und darf nun gemeinsam mit Leïla Slimani und Lauren Elkin auf der U4 meine Begeisterung beweisen: So ein sprudelnder Quell feministischer Geschichte hat in meinem Regal gefehlt! Die Inspiration, die dieses Buch schenkt, ist magisch, doch vor allem zeigt es: Wir waren schon immer da! Ihr könnt also davon ausgehen, dass ich gerade mein bevorzugtes Weihnachtsgeschenk geleakt habe. 

Ergänzend dazu passt „Unlearn Patriarchy“ (Öffnet in neuem Fenster), herausgegeben von Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch im Ullstein Verlag. In 15 Texten von Kenza Ait Si Abbou, Madeleine Alizadeh, Ise Bosch, Teresa Bücker, Olaolu Fajembola, Tebogo Nimindé-Dundadengar, Laura Gehlhaar, Linus Giese, Kübra Gümüşay, Kristina Lunz, Lena Marbacher, Friederike Otto, Margret Rasfeld und Emilia Roig lernen wir genau das: Das Patriarchat zu verlernen. 

Wenige Bücher wurden mit so viel Spannung erwartet, wie „an alle orte, die hinter uns liegen“ (Öffnet in neuem Fenster) von Sinthujan Varatharajah. Am Montag, den 26.9. erscheint das Buch bei hanserblau. Das sagt der Klappentext: Eine Frau steht drei Elefanten in einem deutschen Zoo gegenüber. Es ist  Sinthujan Varatharajahs Mutter. Die Frau, eine Asyl suchende Tamilin,  und die Elefanten haben etwas gemeinsam: Sie haben eine weite Reise  hinter sich. Alle vier wurden verschleppt oder vertrieben und treffen in  einem sogenannten Elefantenhaus aufeinander.
Von diesem Moment aus  begibt sich Sinthujan Varatharajah auf eine intensive Spurensuche und  verknüpft Augen öffnend Aspekte globaler Kolonialismen mit europäischer  Asylpolitik. Mit großer Klarheit stellt Sinthujan Varatharajah grundsätzliche Gewissheiten infrage und wählt dabei einen persönlichen  Zugang, der sich ins Gedächtnis brennt.
Ich freue mich sehr, sehr auf dieses Buch.

Kleinod im Kinderbuch

Hier auf die schnelle ein paar Kinderbücher, die ich fürs ocelot bestellt habe und in die ich mich erst recht verliebt habe, als ich sie frühmorgends aus den Kisten packen durfte:

„Donnerstag. Eine Geschichte über Trennung“  von Ann Bonwill, übersetzt von Pia Jüngert und illustriert von Kayla Harren zeigt mal wieder deutlich, warum der Zuckersüß Verlag (Öffnet in neuem Fenster) fast jedes Mal in dieser Rubrik einen Platz findet und findet für Kinder ab vier Jahren Trost und Zuversicht, wenn Eltern sich trennen.

„Alle meine Freunde“ (Öffnet in neuem Fenster) von Larysa Denysenko, übersetzt von Mila Piredda und illustriert von Masha Foya im Rowohlt Kinderbuchverlag Rotfuchs ist eine Feier der Diversität am Beispiel von 17 Kindern einer 4. Klasse, die in ganz verschiedenen Familiensituationen leben. Für Kinder ab fünf/sechs Jahren ist das Buch durchaus schon geeignet, aber ich halte es durch die ganze Grundschulzeit für absolut wichtig.

„Ich bin Alex“ (Öffnet in neuem Fenster) von Jean-Loup Felicioli, übersetzt von Edmund Jacoby, bei Jacoby & Stuart, erzählt für Kinder ab neun/zehn Jahren die Geschichte des trans*Mädchens Alex, das nach dem Umzug von L.A. nach Berlin an eine neue Schule kommt. 

Termine

Falls ihr Lust habt, mich in den nächsten vier Wochen (digital oder offline) zu treffen, geht das am allerbesten bei einer der folgenden literarischen Gelegenheiten:

Noch jetzt im September, am kommenden Mittwoch, gibt es um 20:30 Uhr eine Doppelfolge unseres blauschwarzberlin (Öffnet in neuem Fenster) Podcasts im Instagram Livestream. Folge 43 musste ja krankheitsbedingt verschoben werden und weil Ludwig Lohmann (Öffnet in neuem Fenster)und ich gerade enorm viel (Aufregendes aber auch Schönes) um die Ohren haben, konnten wir keinen schnellen Ersatztermin finden und machen nun erstmals eine Doppelfolge. Stellt den Grauburgunder kalt.

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Einen Tag später, am Donnerstag, den 29.9. um 19:30 Uhr darf ich dann die Buchpremiere von Elisabeth R. Hager und ihrem grandios-rasanten Roman „Der tanzende Berg“ (Öffnet in neuem Fenster), der gerade bei Klett-Cotta erschienen ist, im Silent Green (Öffnet in neuem Fenster) moderieren. Wir sprechen über Wolpertinger und Vorurteile, über Handwerk und Liebe, über das Leben am Abhang und darüber, wie man die Berge zum Tanzen bringt.

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Am 6.10. um 20 Uhr feiern wir mit dem wunderbaren aki Verlag (Öffnet in neuem Fenster) auf meinem Kanal (Öffnet in neuem Fenster) die Instagram-Buchpremiere des Romans „Strega" (Öffnet in neuem Fenster) von Johanne Lykke Holm, übersetzt aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Dazu werde ich euch zu Beginn ein wenig über meine Leseerfahrung mit „Strega“ erzählen und daraus lesen und dann erst mit der Autorin und danach mit Dorothee Elmiger, die das Nachwort zum Roman geschrieben hat, im Gespräch sein.

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Endlich gibt es Gelegenheit, zu einer kleinen Landpartie: Am 8.10. mache ich einen Ausflug in den Oderbruch, um am Nachmittag bei der literarischen Veranstaltungreihe OderBuch (Öffnet in neuem Fenster) in der Dorfkirche Neulietzegöricke in Neulewin die Veranstaltung Was wir sehen und wo wir hinwollen – Die Zukunft erinnern mit Judith Schalansky und Sascha Macht zu moderieren, die bei der Gelegenheit aus „Verzeichnis einiger Verluste“ und „Spyderling“ lesen werden. 

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Am 11.10. muss ich zwar selbst nicht allzu viel tun, aber ich freue mich so auf diesen Abend, dass ich euch herzlich einladen will, dabei zu sein, wenn der Verleger Sebastian Guggolz, der Übersetzer Maximilian Murmann und die Autorin des Nachwortes Antje Rávik Strubel bei der Buchpremiere die Wiederenetdeckung von „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ (Öffnet in neuem Fenster) der finnischen Autorin Eeva-Liisa Manner (1921–1995) sprechen. Um 20 Uhr gehts im ocelot (Öffnet in neuem Fenster) los. Die Abendkasse öffnet um sieben. Der Eintritt kostet 5 Euro. (Die Veranstaltung wird durch die großzügige Unterstützung des Finnland-Instituts in Deutschland ermöglicht sowie durch den Verein Das finnische Buch.)

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Am Freitag, den 14.10. um 18 Uhr beginnt das von Maren Wurster und Petra Kappler inszenierte Festival Archäologie des Verlusts (Öffnet in neuem Fenster). Die Autor*innen Ulrike Draesner, Christian Dittloff, Daniel Schreiber, Senthuran Varatharajah, Yirgalem Fisseha Mebrahtu, Caca Savic, die künstlerischen Kollektive Mikro-kit und Politisch Schreiben, die Performance-Künstlerin Ella Zwietnig sowie der Dichter Sam Zamrik begeben sich auf eine archäologische Suche. Freigelegt werden persönliche Verluste, das kann ein Mensch sein, eine Identität, ein Geschlecht, ein politisches System, eine Kultur, eine Heimat oder eine Selbstverständlichkeit. Vom 14. bis 16. Oktober 2022 werden ihre Funde und Fragmente im Roten Salon der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz in Berlin präsentiert, in Lesungen und Gesprächen, in Performances, Workshops und einem Live-Podcast mit Susann Brückner und Caro Kraft. Beim offenen Rhizom-Text sind alle eingeladen, online mitzuschreiben. Ich darf nach der Eröffnungsperformance von Ella Zwietnig um 19 Uhr das erste Gespräch des Festivals mit Daniel Schreiber und Yirgalem Fisseha Mebrahtu führen: 

„Das Grau der Trauer“ – Daniel Schreiber
„Reminiszenz“ – Yirgalem Fisseha Mebrahtu

Zum Auftakt unserer literarischen Suche setzen sich die Autor*innen Daniel Schreiber und Yirgalem Fisseha Mebrahtu mit ihren persönlichen Verlusterfahrungen ihnen naher Menschen auseinander. Ihre Texte loten ihre Gefühle, Gedanken, ihre Beobachtungen aus. Alles ist ein Geflecht, welches von der eigenen Person ausstrahlt. Es ist auch: ein Blick in den Spiegel, in die Vergangenheit. Das Gespräch wird in englischer Sprache stattfinden.

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Die Oktoberfolge #45 unseres blauschwarzberlin Podcasts könnt ihr euch schon mal für den 26.10. vormerken.

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Und am 27.10. ist dann endlich wieder Buchpremierenzeit, denn die wunderbare Simone Scharbert (Öffnet in neuem Fenster) feiert mit mir und euch um 19:30 Uhr das Erscheinen ihres Romans „Rosa in Grau. Eine Heimsuchung“ (Öffnet in neuem Fenster) bei der edition AZUR in der Brotfabrik (Öffnet in neuem Fenster). Ich durfte dieses Buch bereits vorab lesen, und bin berührt und begeistert: Was für ein starkes, tiefes Buch! Und mit der thematischen Tiefe erfasst  uns auf jeder Seite eine innige Wortliebe. Mit Präzision und Poesie  erzählt Simone Scharbert vom schwer Fassbaren. Ihre Sprache zieht uns in  die direkte Umlaufbahn der inneren und äußeren Unfreiheit einer Frau, die stellvertretend für viele weitere steht.

Lebensbuch

In der arte Mediathek (Öffnet in neuem Fenster) sind noch bis Ende Oktober die „Super 8 Tagebücher“ von Annie Ernaux zu sehen. Für mich war es offen gestanden besonders rührend, aus wie vielen verschiedenen Ecken ich den Hinweis darauf erhielt. So viele Menschen registrierten die Sendung und dachten sofort an mich und sorgten dafür, dass ich diese kleine Dokumentation von Ernaux' Leben auf keinen Fall verpassen würde. Ich habe sie nicht nicht verpasst. Sondern in bester Gesellschaft gesehen und bewundert und war doch vor allem noch ganz beseelt von einer wirklichen Begegnung, mit dieser für mich unglaublich wichtigen Autorin, die ich Ende August im Hause Suhrkamp (gemeinsam mit anderen Buchhändler*innen) haben durfte. Im wachen und beeindruckenden Gespräch mit ihrer Übersetzerin Sonja Finck bewies Annie Ernaux (geboren 1940) wieder einmal, warum ich jedes Jahr mit nicht nachlassender Innigkeit die Daumen dafür drücke, dass sie doch bitte den Literaturnobelpreis bekommen möge. Ich glaube, wenn ich nur eine Autorin nennen oder empfehlen dürfte, diese Frage nach der Einen (ihr ahnt es, das ist eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber wenn ich es müsste) würde ich ihren Namen nennen und nichts bereuen. So viel bedeutet sie mir.

Und begonnen hat alles mit ihrem Werk „Die Jahre“, das mir im Ernauxversum auch immer noch von allen Büchern das wichtigste ist.

Annie Ernaux. Das ist für mich ein Synonym für literarische Relevanz. Ich bin so dankbar, dass wir in den grandiosen Übersetzungen von Sonja Finck immer mehr von dieser brillanten Autorin lesen dürfen. „Die Jahre“ zeigen für mich ein Gesamtbild ihres Werkes.

Eine Frau schaut mittels Fotos zurück auf ihr Leben, von der Tochter einer Arbeiterfamilie im Nachkriegsfrankreich bis zur gefeierten, soziologischen Schriftstellerin heute. Das könnte leicht pathetisch werden, wäre es nicht die große französische Intellektuelle Annie Ernaux, die mit ihrem Werk das Denken und Schreiben so vieler (anderer von mir geschätzten Autor*innen) geprägt hat. Es geht um Herkunft, um Emanzipation, um Bildung, ums Werden und ums Sein, um Sexualität und Verlust, um Mutterschaft und Abtreibung, um Politik und Geschichte und die Zusammenhänge des ganz Großen im Einzelnen. Ganz sachlich, stets in der dritten Person bleibend, schreibt Ernaux hier ihre Geschichte, die durch ihren besonderen Blick auch die Geschichte einer ganzen Frauengeneration ist, die unser aller Geschichte ist.
Annie Ernaux war mein Schlüsselmoment für die lebenslange Liebe zu autofiktionaler Literatur. Annie Ernaux hat mein Lesen verändert.

Ich danke euch fürs Lesen dieses Newsletters. Es freut mich, wenn ihr durch ihn ein oder zwei Bücher (neu oder wieder) entdeckt habt. Lasst es mich gern in den Kommentaren auf Steady (Öffnet in neuem Fenster) wissen oder schickt mir eine Nachricht.
Wenn ihr den Newsletter mögt, empfehlt ihn gern weiter.
Die neue Ausgabe kommt wieder am letzten Sonntag im Oktober.  

Bis dahin wünsche ich euch ein gutes Lesen.
Eure Maria 

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