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Sepia und Glitzer als Gefühl

Als Studentin wohnte ich in unmittelbarer Nähe der Kölner Universität. Heute wird man es sich kaum leisten können, damals zahlte ich für diverse Zimmer im Umkreis von maximal fünfzehn Minuten Fußweg zum Hauptgebäude nie über 300 Euro. Gut, eines der Zimmer lag in einem unsanierten Altbau und war nur im Sommer zu ertragen (ich habe es folglich keine zwei Winter durchgehalten), aber die Umgebung war malerisch, besonders im Herbst.

Die Dichte an Buchgeschäften und Buchantiquariaten in der Nachbarschaft war bemerkenswert. Zwei Antiquariate lagen direkt nebeneinander, lange konnte ich nur schwer zuordnen, welcher Besitzer in welches Geschäft gehörte. Die Atmosphäre beider Verkaufsräume: ein bisschen 60er-Jahre-Studentenproteste, ein bisschen Kord, ein bisschen sepiagefärbt. Autumn Core trifft Dark Academia, würde man heute auf Social Media schreiben.

Köln, März 2007 © Kristina Klecko

Die beiden Besitzer hatten die passende Attitüde – sie wirkten nicht allzu einladend, aber auch nicht wirklich abweisend. Anders als in vielen anderen Antiquariaten hatte ich hier nicht das Gefühl, ich müsste, um Zutritt zu bekommen, die Erstausgaben in meinem Bücherregal aufzählen. (Null.) Ein paar Mal habe ich Bücher gekauft, die in den Grabbelkisten vor der Tür dieser Antiquariate für wenige Euro angeboten wurden. Vielleicht die zerfledderte Ausgabe zu russischem Formalismus (für ein Proseminar gekauft, aber nicht oft benutzt) oder die Bücher von Simone de Beauvoir (die ebenfalls noch auf ihre Sternstunde warten)? Es würde passen, aber sicher bin ich mir nicht mehr. Die „richtig antiquarischen Bücher“ konnte ich mir nicht leisten. Besser, ich dachte, ich könnte es nicht, denn gefragt hatte ich nie. (Wenn ich mich daran erinnere, weiß ich wieder, warum es nicht reicht, gebührenfreie Tage in Museen oder vergünstigte Plätze in der Oper einzuführen... Kulturelle Teilhabe scheitert vorher.)

Sepia trifft Glitzer

Vor ein paar Monaten sah ich auf Instagram ein Video mit einem der beiden Antiquare. Ich staunte über mehrere Tausend Likes und Kommentare. Was war da los? Ich klickte mich durch das Profil. Klaus Willbrand, der Antiquar, hatte sich mit Daria Razumovych, Lektorin und Social-Media-Profi, zusammengetan und ist auf TikTok, Instagram und YouTube durchgestartet. Die Videos sind ähnlich aufgebaut. Willbrand sitzt in seinem Geschäft, hinter ihm Bücher, vor ihm, nicht im Bild, seine Gesprächspartnerin Razumovych, und beantwortet Fragen zu Literatur: Welche deutsche Schriftstellerin wird unterschätzt? Marieluise Fleißer. Welcher deutsche Schriftsteller ist überschätzt? Hermann Hesse. Was sagt Willbrand zu Marcel Reich-Ranickis Kritik an Elfriede Jelinek?

„Dafür hätte man ihn stundenlang in den Hintern treten müssen.“

Es ist ein lustiges Namedropping und es kommt an. Vielleicht, weil es einen nicht beschämt, dass man die meisten Autor:innen nicht kennt und die meisten Bücher nicht gelesen hat – Klaus Willbrand ist in seiner Verkörperung des Lesens jenseits aller Bestsellerlisten, Stapel ungelesener Bücher und Leseziele.

Die Videos greifen nach einem Gefühl. Nach der Sehnsucht nach Ruhe, einer Tasse Tee, einer guten Zeit.

Gerade jetzt.

Danke, dass du mitliest, und bis in zwei Wochen.

Kristina

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Was andere machen

Herr Willbrand in Aktion.

https://www.youtube.com/watch?v=LxkcD-ZbZUQ (Öffnet in neuem Fenster)

Der Song zum Text.

https://www.youtube.com/watch?v=RsEZmictANA&pp=ygUGV2lsbG93 (Öffnet in neuem Fenster)
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Kategorie Essays