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Zeit für unhöfliche Gesten

Samstagabend. Eine Veranstaltung im Rahmen der Lit.Pop.Cologne 2024. Friedeman Karig, Autor und Journalist, und Lea Bonasera, Doktorandin und Klimaaktivistin bei der Letzten Generation, sprechen über Widerstand. Ich kannte Bonasera bis dahin nicht, erwartete aber emotionale Ansprachen und radikale Thesen. Bonasera stellte zu Beginn des Gesprächs hingegen klar, dass sie nichts von den anderen Menschen im Raum unterscheide und dass jeder Mensch zu Protest fähig sei.

„Ich habe lange gelebt, wie viele Menschen in meinem Umfeld in Deutschland leben: Mein innerer Kompass war da und hat mir unmissverständlich eine Richtung gewiesen, aber ich bin ihm nicht konsequent gefolgt.“ Lea Bonasera, Die Zeit für Mut ist jetzt!

An dem Abend lernte ich, dass es über 350 Arten des Protestes gibt, mir fielen auf Anhieb keine zehn ein. Online gibt es eine Liste, vom Politikwissenschaftler Gene Sharp begonnen und seitdem stetig erweitert, auf der sich bekannte Protestformen wie Petitionen, Demonstrationen, Streiks oder Briefe an Abgeordnete finden, dazu das Tragen von Buttons, Hupkonzerte oder das Zeigen „unhöflicher Gesten“. Wichtig ist, dass der Protest gewaltfrei ist und im Ergebnis das Leben vieler verbessert.

In ihrem Buch Die Zeit für Mut ist jetzt! schreibt Bonasera, dass ziviler Ungehorsam ein ergänzendes Mittel der Demokratie ist und keineswegs andere Mittel ersetzt. Die Protestierenden erkennen die demokratische Grundordnung an und vertrauen den staatlichen Institutionen (weswegen sie ihr Gesicht zeigen, unter ihren richtigen Namen auftreten und Strafverfolgung akzeptieren). Bonasera erinnert an historische Beispiele des zivilen Ungehorsams, an Rosa Parks oder Martin Luther King. Historische Beispiele haben jedoch den Nachteil, dass niemand mehr weiß, dass sie zu ihrer Zeit ebenfalls als unverschämt (oder „bekloppt“) bezeichnet wurden.

„Fast alle Protestbewegungen, auch die, die wir heute für einwandfrei demokratisch und moralisch komplett über jeden Zweifel erhaben erachten, wie zum Beispiel die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, haben in ihrer Zeit natürlich massive Zweifel hervorgerufen und auch massive Abwehrreaktionen. Die wurden auch von moderaten Liberalen als Quasi-Terroristen verunglimpft, obwohl sie vollkommen gewaltfrei protestiert haben.“ Robin Celikates im Deutschlandfunk

Lea Bonasera zitiert in ihrem Buch den Philosophen und Sozialwissenschaftler Celikates ebenso wie andere Wissenschaftler:innen und Studien. Bei der Lektüre lernte ich viel über zivilen Widerstand, vor allem aber verstand ich, dass ich mir eine Meinung zu zivilem Ungehorsam gebildet hatte, ohne mich vorab zu informieren. Ich wusste nichts oder sehr wenig über die Bewegung und den wissenschaftlichen Kontext und tat die Proteste von Extinction Rebellion oder Letzte Generation als „krawallig“ und unwirksam ab.

Dabei kenne ich selbst fruchtlose Meinungsgespräche mit Menschen, die sich zwei Minuten mit einem mir wichtigen und/oder länger bekannten Thema beschäftigt haben, und mir eben schnell erklären möchten, warum ich falsch liege und was ich nicht bedacht habe.

Wie viel weiter könnten wir gesellschaftlich sein, würden wir nicht immer wieder bei den Basics anfangen? Würden wir uns und unserem Gegenüber den Gefallen tun, uns etwas in das entsprechende Thema einzuarbeiten?

Das Problem ist nicht neu. Die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb 1902 über große Denker ihrer Zeit (gendern nicht nötig), die sich zu feministischen Forderungen (damals unter anderem Wahlrecht für Frauen) äußerten:

„Aller Logik, Wissenschaftlichkeit und Gewissenhaftigkeit bar, bummeln sie fahrlässig auf einem Gedanken-Trödelmarkt umher und bieten alten Plunder, den sie irgendwo billig aufgelesen, feil (…).“ Hedwig Dohm, Die Antifeministen

Im Gespräch von Karig und Bonasera klang der Vorwurf durch, die Medien würden manches falsch oder verkürzt darstellen. Mag sein, aber in Deutschland wird niemand daran gehindert, sich Hintergrundinformation zu den Überschriften anzueignen.

Oder doch?

Die Journalistin Teresa Bücker schreibt in ihrem Buch Alle_Zeit, wie sehr Erwerbsarbeit und „privates Beschäftigtsein“ unser Leben strukturieren und wofür Zeit fehlt:

„Auszeiten, Nachdenkzeiten, (…) Familienzeiten, (…) Zeit für Kultur, Ehrenämter und politisches Engagement, offene und unverplante Zeiten – all das sind produktive Zeiten, nur nicht im Sinne direkter wirtschaftlicher Wertschöpfung. Sie bringen Dinge hervor. Sie sind der Stoff, aus dem unsere Freiheit besteht.“ Teresa Bücker, Alle_Zeit

Dem ewigen Problem des Zeitmangels kann man individuell begegnen, dazu Bücker in Alle_Zeit, „weniger zu arbeiten, mit weniger Geld auszukommen oder privat weniger zu unternehmen“. Damit das nicht zum nächsten Optimierungstrend für „Gutverdiener:innen“ wird, sondern gesellschaftliche Realität, braucht es andere Ansätze. Manch eine Idee, die Bücker in ihrem Buch dafür vorstellt, mag utopisch erscheinen. Hier aber hilft es zu recherchieren, was Utopien sind und welchen Zweck sie erfüllen.

Viele Grüße und bis in zwei Wochen!

Kristina

Was andere machen

Absolute Leseempfehlung aus diesem Newsletter dürfte klar sein: Alle_Zeit von Teresa Bücker. In diesem Video gibt’s einen kurzen Einblick:

https://www.youtube.com/watch?v=7F_uSiN32V4 (Öffnet in neuem Fenster)

Zudem hat die Autorin ein Mailing bei Steady und schreibt in der letzten Ausgabe über die kürzlich veröffentlichte Geburtenziffer für Deutschland, es sei eine gute Gelegenheit „sich selbst in Erinnerung zu rufen, dass es über nahezu jedes Thema viel mehr zu wissen, zu entdecken, zu fragen gibt, als die einfach klingenden Antworten.“ > zum Newsletter (Öffnet in neuem Fenster)

Wer eine Dreiviertelstunde Zeit hat, kann in der Sendung Der Rest ist Geschichte des Deutschlandfunks nachhören, wie ziviler Ungehorsam wirkt. > zur Folge (Öffnet in neuem Fenster)