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Welches “wir” soll es sein?

Dieser Text ist im Rahmen einer Schreibwerkstatt an der TH Köln unter der Leitung von Rasha Khayat und Simone Scharbert entstanden. Wir, die Teilnehmer:innen, waren aufgerufen, über das „wir“ in Literatur und Gesellschaft nachzudenken. Das ist mein Versuch, leicht überarbeitet und ergänzt.

So viel wurde zum „wir“ gesagt – und doch habe ich weiterhin das Gefühl, ich schleiche um das Wort herum und komme nicht näher. Als Kreise haben wir das „wir“ definiert, als kleine gemütliche oder große unbehagliche. Doch wie klein muss ich den Kreis ziehen, damit es gemütlich wird? Wenn ich das „wir“ als „ich und mindestens eine weitere Person“, wie es ein:e Teilnehmer:in benannt hat, akzeptiere, wäre die kleinstmögliche Einheit „ich und mein Partner“. Sicher sind wir ein „wir“. Irgendwie. Doch wie sehr sind wir ein „wir“? Ist unser „wir-sein“ nicht ein Angenommenes, ein zu leicht Akzeptiertes? Ein „wir“, das ist, weil es sein muss? Auch in diesem „wir“, so viel Mühe wir uns auch geben, bleibt vieles leer für den jeweils anderen. Dort ein Mann, hier eine Frau – und alle Strukturen und Stereotype, die damit verbunden sind. Das „wir“ der anderen.

Laax/Schweiz, Dezember 2008 © Kristina Klecko

Ein:e Teilnehmer:in sagte, dass sich die Kreise berühren können. Bin ich die Schnittstelle der Kreise, die mir offen stehen? Wenn dem so ist, docke ich an den nächsten Kreis an – den Kreis meiner Freundinnen. Frauen. Wir teilen Erfahrungen, die für andere Worthülsen sind. Aber wir teilen nicht alle Erfahrungen, weil wir auch Singles, Ehefrauen, Geschiedene, Mütter, Nicht-Mütter … sind. Ein „wir“ steht nie für sich allein.

Ich ziehe weiter meine Kreise: Befreundete Paare, (ehemalige) Kolleg:innen, (nahe und ferne) Verwandte, Nachbar:innen…

Und nun diese Schreibwerkstatt. Ein gemütliches „wir“. Ein Kreis, in dem man sich verstehen könnte. Finden wir in dieser Konstellation ein „Gesellschafts-Wir“? Oder ist es nicht möglich, gar nicht nötig?

„Wir müssen wieder zu einer gemeinsamen Sprache finden“, mahnen Politiker:innen. Ich störe mich am Wort „wieder“. Wer spricht da und warum glaubt diese Person, es habe jemals ein „wir“ mit mir, mit „uns“, gebildet? Haben „wir“ jemals an einem Tisch gesessen und uns verstanden, und es dann verlernt? Eher nicht.

Wir sind so viele. Aus allen Himmelsrichtungen. Hier und nicht hier geboren. Mit Deutsch und mit keiner gemeinsamen Sprache ausgestattet. Falsche Dichotomien.

Was stimmt: Wir haben unterschiedliche Vergangenheiten, Kränkungen und Glücksvorstellungen in uns. Wenn ich mich über eine Tubenpresse als Geschenk oder über einen russischen Popsong in einem deutschen Theater freue, geht es mir nicht um die Presse und nicht um Pop. Ich laufe bloß nicht zufällig in alte Erinnerungen hinein. Deshalb.

Und das bin nur ich.

Wer, als das „wir“ ein „wir“ gewesen sein soll, dabei war, hebe die Hand.

Und senke sie wieder.

Wir fangen neu an.

Danke, dass du mitliest!

Mit diesem Text verabschiede ich mich in eine kurze Winterpause. Am 10. Januar lesen wir uns, wenn du möchtest, wieder.

Bis dahin wünsche ich dir eine gute Zeit!

Kristina

PS: Gern gelesen? Ich freue mich, wenn du das Mailing an Freund:innen, Kolleg:innen oder Verwandte weiterleitest. Das unterstützt mein Schreiben ungemein.

Hier schreibt

…Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion (heute Russland) geboren, seit 1997 in Deutschland, seit 2006 in Köln. Nach Stationen in Literaturvermittlung und der Nachhaltigkeitsbranche, bin ich seit 2024 freiberufliche Autorin, Texterin und Schreibdozentin.

Weitere Infos zu mir, meinen Texten und Schreibkursen gibt es unter 🔗 www.kristina-klecko.de (Öffnet in neuem Fenster).

In diesem Mailing veröffentliche ich alle 14 Tage, jeweils am Freitag, kurze Essays über das Lesen, das Schreiben und das Leben. Immer am ersten eines Monats gibt es zudem einen neuen Text in der Rubrik 🔗 Romansuche (Öffnet in neuem Fenster) – über Fortschritte und Rückschläge auf der Weg zu meinem Debütroman.

Kategorie Essays