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Rosa Kugelblitz

Geschichten aus dem Baumarkt

„Guten Morgen, herzlich Willkommen, guten Morgen, haben sie schon die Baumarkt App?“

Ich stehe heute am Empfang, „guten Morgen“ ist meine Aufgabe, später „guten Tag“, dann bin ich fertig. Ich bin die Empfangsdame und verteile die Kund_innen auf die Abteilungen, sofern ich denn weiß, wo sie etwas finden. Ab und an schicke ich auch mal jemanden in die falsche Richtung, aber dazu ein andermal mehr. Erstmal „kontakte“ ich, so nennt sich nämlich die offizielle Bezeichnung: Kontakter_in. Eine junge Frau betritt lächelnd den Baumarkt, mittlerweile kann ich die Gesichter hinter der Maske unterscheiden, kann sehen ob sie lächeln oder grimmig gucken. Vor dem Bauch trägt sie ein Baby in einer Trage, an der einen Hand zieht sie einen voll beladenen Bollerwagen, an der anderen Hand ein kleines Mädchen – komplett in rosa. Blonde Zöpfchen hüpfen fröhlich unter ihrer Mütze hervor. Ich erkenne meine Chance für eine gute Tat! Da fragt mich die Mami: „Wo finden wir denn Bastelsachen?“

„Einmal die Rampe hochfahren und dann nach rechts abbiegen“, antworte ich freudig. Und obwohl es natürlich wegen des Bollerwagens unnötig ist, frage ich sie trotzdem „und möchten sie auch einen Einkaufskorb?“ Sie wundert sich, ist sie doch schon vollbepackt. Aber ich meine ja auch keinen normalen Einkaufskorb, sondern einen zum Hinterherziehen. Sie schaut noch immer fragend. Aber ich kenne mich doch aus mit kleinen Mädchen, meine war ja auch mal so klein und ich weiß zufällig wie gerne die etwas hinter sich herziehen. Ich spreche die Kleine an: „Guck mal“, sage ich direkt an sie gewandt, „möchtest du einen Rollkorb für eure Einkäufe haben?“

Sie schaut ein bisschen verdattert, als würde sie beim Einkaufen nie jemand direkt ansprechen. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass die Mama ein bisschen kichert und dann sagt „Nein danke, wirklich nicht.“ Aber ich kann es nicht lassen, hüpfe vergnügt zu den Körben, nehme einen aus dem Stapel und zeige dem kleinen Mädchen hoffnungsvoll den Korb mit dem langen Griff. Die Mama grinst jetzt breiter, ihre Mundwinkel schauen beinahe über der Maske hervor. Gleichzeitig schüttelt sie nun schon stärker den Kopf. Ihrer kleinen Tochter hingegen habe ich jetzt schon ein zartes Lächeln entlockt. Ich zeige ihr wie der Korb funktioniert, ziehe den Griff heraus, drehe den Korb und rollere ihn lachend hinter mir her. Ihre Augen strahlen jetzt, ihr Lächeln wird breiter sie streckt überzeugt die Händchen aus, nickt sehr gewichtig und greift nach dem Rollkorb.

In genau diesem Moment erkenne ich vielleicht das erste mal meinen Fehler. Denn ihr Blick verändert sich in der Sekunde, als sie den Griff des Korbes fest zwischen ihre Fingerchen klemmt. Er bekommt etwas Wildes, unberechenbares – fast wie eine kleine Tigerin, die ihr Opfer erspäht und entdeckt hat. Blitzschnell dreht sie den Korb um, positioniert ihn vor sich wie einen Schneepflug, ruft unfassbar und überraschend laut „Mamamaaaaa, Attacke!!!“, und gibt Gas. Den Korb wie einen Rammbock vor sich, stürmt sie davon. Die Mama zuckt nur mit den Schultern, als wolle sie mir sagen, „ich hab dich gewarnt“.

Ich schaue der Kleinen mit großen Augen und offenem Mund nach und weiß nicht so recht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Noch immer bin ich überrascht von diesem kleinen Mädchen, das so ruhig und schüchtern schien und das sich jetzt als wilder kleiner Rammbock entpuppt, kaum hat sie einen rollbaren Einkaufskorb vor sich. Erstaunt schaue ich in die Richtung, in die sie davon sauste und beobachte, wie sie aus einer andere Ecke wieder auftaucht, nur für einen Augenblick, dann ist sie wieder weg – und immer den Rollkorb vor sich herschiebend. Plötzlich höre ich es tappeln und rumpeln, die Mama noch „VORSICHT!“ schreien und dann hinter mir, von links, ich springe gerade noch zur Seite, als der rosa Kugelblitz mit den wehenden Zöpfen an mir vorbeifliegt. Mama ruft „Hier entlang mein Schatz“ und zeigt Richtung Rollband. Rumpel, Polter, Klirr, es rattert das Rollband aufwärts, dann verschwinden sie aus meinem Blickfeld.

„Guten Morgen, herzlichen Willkommen,“ ich wende mich wieder den Neuankömmlingen zu. Ungefähr eine Stunde später sehe die Drei noch einmal, nun auf die Kassen zustürmen. Also eigentlich stürmt nur eine, sie ist pink und ich muss an einen Ausdruck aus meiner Kindheit denken: Kugelblitz. Mein Papa mich nannte mich immer so. „Du bist wie ein kleiner Kugelblitz.“ Als Kind wusste ich nicht so genau, was er damit meint und heute kam es mir wieder in den Sinn. Der rosa Kugelblitz im Baumarkt rennt nun zwischen den Kassen hin und her, stets einen Rammbock vor sich her rollend, der jetzt übrigens gefüllt ist mit Glitzer, buntem Papier und anderen schönen Dingen. Ein Hund springt erschrocken zur Seite, eine ältere Dame hebt erstaunlich schnell ihren Krückstock „hoppala“, höre ich sie sagen. Als der Rammbock-Kugelblitz-Korb laut knallend wieder bei den anderen Körben landet, kehrt langsam Ruhe im Kassenbereich ein.

Abends sitze ich mit meiner Familie zusammen, erzähle die Geschichte vom kleinen rosa Mädchen mit dem Rammbock-Korb und mein Papa sagt genau das: „War wohl ein richtiger kleiner Kugelblitz, wie du früher.“ Abends im Bett fragt meine Tochter: „Mama, was ist ein Kugelblitz?“ Tja, gute Frage, die ich später Wikipedia stelle. Folgende Definition: Wissenschaftlich beobachtete Lichterscheinung meistens in der Nähe eines Gewitters. Kugelförmig. Und dann die alles entscheidende Beschreibung: Eine charakteristische Beobachtung ist die Beweglichkeit dieser Erscheinung. Innerhalb von acht bis maximal dreißig Sekunden ändern sie oft ihre Richtung, offenbar nicht vom Wind getragen, sondern orientiert an sichtbaren Objekten. Augenzeugen berichteten auch, dass sie wohl feste Hindernisse durchdringen. Manche sprechen von einem Ende mit einem lauten Knall.

Ich denke an das kleine Mädchen und bin mir sicher, heute einen Kugelblitz erlebt zu haben, er war rosa und hatte blonde Zöpfchen. Haltet die Augen offen, Wunder passieren überall, meistens sind sie leicht und sehr lebendig,
Helen

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Kein WortRausch ohne eine Illustration von Sophie Schäfer:

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