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„Willst du ein Stück Zeitung haben?”

Wie eine Begegnung in der S-Bahn mein Leben veränderte

Ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl, als ich auf dem roten Sofa bei meiner Freundin Alu mein Handy blinken sah. Hatte er echt schon geantwortet? Verrückt. Und dabei haben wir uns erst von einigen Stunden verabschiedet und davor eben erst kennengelernt. Seitdem standen wir in stetigen Kontakt. Sollte es diese Typen echt noch geben, die direkt antworten und ernst meinen, was sie sagten? Ehrliche Jungs, die nicht dieses blöde „rar-machen“ Spiel spielten. „Mach dich rar, sei ein Star“, so hatte es mir mal eine Freundin erklärt. Ein Spiel, das ich zu diesem Zeitpunkt perfektioniert hatte.

Aber von vorne: Es begann in der S-Bahn, an einem Morgen im Winter, an dem es sehr stark schneite. An einem Tag Anfang Dezember vor elf Jahren. Mir fällt das dieses Jahr besonders auf, weil die Situation dieselbe ist. Die gleiche Freundin hat wieder eingeladen, zum Gemeinsamen rein feiern. Wie auch vor elf Jahren wollte ich zu ihr fahren. Es schneite an diesem Freitag wie verrückt. Die ersten Meldungen aus dem Radio, dass die S-Bahnen reihenweise ausfielen wegen zugefrorener Gleise taktierten mich erst mal gar nicht. Ich saß mit meinem Kaffee etwas frustriert am Frühstückstisch meiner WG und verbrannte mir wie immer die Zunge. Tilli, meine Mitbewohnerin, stierte muffig vor sich hin und schaufelte mechanisch ihr Müsli in sich hinein. Wir sprachen wenig an diesem Morgen. Die Stimmung war mies, wir hatten beide keine gute Nacht hinter uns. Tilli würde sich mich dem Rad durch Massen an Schneematsch strampeln müssen und ich mich in der Bahn umher drängeln. Erst am Sonntag-Abend werden wir wieder selig zusammen auf dem Sofa sitzen. Aber bis dahin sollte sich mein Leben ein Stück verändert haben.

Die Nacht hatte ich mit einem alten Freund verbracht, wir flirteten schon immer viel, es lief nie etwas, auch in dieser Nacht nicht. Obwohl ich es gerne gehabt hätte, aber er wollte die Freundschaft nicht gefährden. Bla, bla, bla, ich war bockig. Meine Stimmung sollte auch noch eine ganze Weile nicht besser werden. Ich bekam meine Bahn nur knapp, sprintete schwitzend die Treppen am S-Bahnhof Neukölln hoch und sprang hinein. Kein Sitzplatz, stattdessen feuchter Dampf, dichtes Gedränge, Mundgeruch, nasser Schweißgeruch, Hundenasen, Husten und beschlagene Fensterscheiben. Stehen von Neukölln bis Westkreuz, ich war schon am Ende, bevor der Tag überhaupt begonnen hatte. Die beinahe schlaflose Nacht steckte mir in den Knochen und ich begann zu frieren, denn es zog kalt durch die offenen Fenster des Waggons. Ich hasse kalten Wind. Immer wieder blieb die Bahn außerhalb der Bahnhöfe stehen, Schneeverwehungen und Sturm brachten Berlin beinahe zum Stillstand. Kaum vorstellbar heute, aber es war so.

Kurz vor dem Bahnhof Westkreuz, wo ich Richtung Potsdam umsteigen musste, ergatterte ich einen Platz. Erleichtert plumpste ich in den Sitz und lies meinen Blick schweifen. Ich schaute in grimmige Gesichter, die stumpf vor sich hin glotzten. Manche lasen Bücher oder Zeitung, kaum einer schaute auf sein Handy. Es war eine Zeit vor Smart-Phone&Co.. Ich beobachte gerne andere Leute, schaue in Augen, lächele auch mal und halte Blickkontakt. Aber an diesem Morgen wollte ich ausnahmsweise einfach nur meine Ruhe haben. Also schloss ich die Augen. Keine gute Idee, denn ich nickte ein. Als ich aufwachte, verpasste ich fast meinen Ausstieg. Und weil ich so verwirrt und irgendwie orientierungslos auf den Bahnhof stolperte, auch meine Anschlussbahn. Schöner Mist. Jetzt musste ich warten.

Und es schneite und schneite und schneite. Es war wirklich heftig: Dicke, fette Flocken tanzten durch den grauen Berliner Himmel und bedeckten die Stadt unter einer weißen, zarten Schicht. Der Wind pfiff kalt über den Bahnsteig und wenn ich nicht so gefroren hätte, wäre es eigentlich sehr schön, irgendwie surreal, zauberhaft. Ich wartete und wartete und wartete. 10 Minuten, 20 Minuten, 30 Minuten, 45 Minuten. Längst hatte ich in der Redaktion angerufen, dass ich (etwas) zu spät kommen würde. Na toll und das, obwohl ich die Zeit abends nicht aufholen konnte, denn ich wollte ja zum Geburtstag fahren. Mit dem ICE einmal quer durch Deutschland, ich ahnte Schlimmes. Und als ich es fast aufgegeben hatte, kam tatsächlich eine S-Bahn ungefähr eine Stunde zu spät. Der Grund: Winter. Komisch im Dezember.

Ich also endlich rein in die Bahn, die natürlich entsprechend voll war. Ich bekam wieder keinen Sitzplatz und stellte mich in die nächste Ecke, versenkte die Hände in den Taschen und zappelte von einem Bein auf das andere, um wieder warm zu werden. Ich schaute aus dem Fenster, drehte mich um und sah ihm direkt ins Gesicht. Huch. Was war das? Er war nicht grau, er sah auch nicht erfroren aus. Im Gegenteil, er zauberte mir ein Grinsen aufs Gesicht. Rote Jacke, blaue Bommelmütze, leichter Schritt. Ich war beeindruckt, drehte mich aber erst mal wieder weg. Leicht wie Sommer und frohe Farben im ewigen Grau des Winters. Mein Lachen wurde breiter. Nicht übertreiben, ermahnte ich mich. Ich stellte mich also wieder sehr lässig in meine Ecke, nicht ohne die blaue Mütze im Augenwinkel zu behalten. Die Bahn fuhr los und er holte eine Zeitung aus der Jackentasche. Toll! Eine Zeitung, eine echte Zeitung aus Papier. Ich liebe Zeitungen, das Gefühl von bedrucktem Papier in den Händen und der Dampf von Kaffee ist unschlagbar.

Ich beobachtete ihn, wie er stehend in der S-Bahn Zeitung las und dachte angestrengt darüber nach, wie ich seine Aufmerksamkeit erregen könnte. Ich rückte etwas näher, blaue Mütze schaute zu mir. Blickkontakt. Ich rückte wieder weg, tat aber so, als wäre ich an seiner Zeitung interessiert. Drehte mich ungelenk, aber auffällig um die Schlagzeile zu erkennen. In dem Moment fällt blaue Mütze eine Seite aus der Zeitung heraus, er schaut mich an. Blickkontakt. Bückt sich und hebt die Seite auf. Blickkontakt. Ganz zartes erstes Lächeln. Sehr gut, ich muss doller lachen und drehe mich weg. Schließlich will ich nicht aufdringlich erscheinen. Da stoppt die Bahn mitten im Nichts, irgendwo zwischen Potsdam und Wannsee. Durchsage: „Aufgrund von starken Schneefalls und damit verbundenen Schneeverwehungen verzögert sich unsere Weiterfahrt um einige Minuten. Wir bitten um ihr Verständnis.“

Super, denke ich und frage mich, ob ich es heute überhaupt noch zur Arbeit schaffen würde. Blaue Mütze las währenddessen tiefenentspannt weiter seine Zeitung. Warum hat der so eine Arsch-Ruhe? Muss der nicht zur Arbeit? Was macht der wohl? Oder studiert er noch? Hach, ich wollte mich so gerne unterhalten. Ich versuche das mit der Zeitung noch mal, lehne mich rüber, verliere beinahe das Gleichgewicht, er merkt es, muss grinsen, ich auch – und dann gibt er mir endlich eine Seite ab.
„Willst du ein Stück Zeitung haben?“
„Ja gerne, scheint ja noch eine Weile hier zu dauern.“
Ich bekomme den Hauptteil. Na immerhin ganz gut. Ich tue so als würde es mich ernsthaft interessieren, blättere gewichtig durch die Seiten und überlege fieberhaft wie das jetzt weiter gehen könnte mit uns, als die Bahn wieder losfährt.

An der nächsten Station steigen Kinder ein. Viele Kinder mit Schlitten und Rucksäcken. „Oh man“, sage ich, „die haben es gut. Mir wäre jetzt auch eher nach Schlitten fahren.“ Blaue Mütze dreht sich zu mir, lacht und nickt. „Ja oder eine heiße Schokolade.“ Ich schaue ihn etwas verwundert an, jetzt geht er aber ran, damit habe ich nicht gerechnet und gebe ihm erst mal seine Zeitung zurück. „Und fährst du auch zur Arbeit?“
„Ja“, antwortet er, „aber ich hab noch Zeit und du?“
„Ich bin mehr als zu spät, stand schon eine Stunde am Westkreuz.“ Das dauert zu lange, denke ich. Noch zwei Stationen und ich muss raus. Streng dein Gehirn an, Heli, wie soll es weiter gehen?!
Wir schauen schweigend aus dem Fenster, beobachten den Schneesturm, als die Bahn wieder stoppt. Danke Schicksal!
„Oh ja, einen heißen Kakao oder Kaffee könnte ich auch gebrauchen“, sage ich. Keine Antwort, die Bahn fährt weiter. Nächste Station, nur noch eine und die Sache ist schneller vorbei, als sie angefangen hat. Blaue Mütze scheint das auch zu denken und sagt: „Sollen wir nachher zusammen einen Kaffee trinken?“ JAJAJAJAAAAAAA, denke ich.
„Ja gerne, wann und wo?“ sage ich. Schneller, ich sehe schon meinen Bahnhof. Er kramt in seiner Tasche. „Vielleicht heute am frühen Nachmittag am Hauptbahnhof?“

„Gut, dann bis nachher, ich muss hier raus.“
„Gib mir noch schnell deine Nummer“, sagt blaue Mütze, falls was schief geht.“ Ich sage schon im Aussteigen noch schnell meine Nummer und springe leicht&lebendig aus der Bahn.

Helen

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Sophie Schäfer! Kein RauschVon Worten ohne eine Illustration von dir:

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