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Ich bin so süchtig

Der vollkommen subjektive Newsletter über Medien, Digitalgedöns und extrem viel Privatleben ist zurück. Heute geht es darum, dass ich dachte, besser zu sein als andere – und dann war ich es doch nicht.

Eines der häufigsten Probleme, das ich in meinem Umfeld höre, lautet: "Es fällt mir schwer, im Moment zu sein". Zu beschäftigt sei man mit Vergangenheit oder Zukunft. Ein guter Abend flöge manchmal unbemerkt vorbei. Auch ich kenne dieses Gefühl. Wer nicht?

Handys spielen dabei natürlich eine Rolle. Sie liefern die unsichtbare Gegenveranstaltung, lassen schlagartig FOMO oder Erinnerungen aufploppen. Und sie sind das einzige Beweismittel. Die Überlegung, wie sich der magische Moment festhalten und letztlich auch verwerten lässt, beschäftigt selbst Menschen, die nicht besonders Social-affin sind.

Ich erinnere mich gut daran, wie viel meine Eltern früher darüber nölten, dass ich zu lange am Rechner und am Telefon hing. Mit wem kann man denn nur die ganze Zeit so schreiben? Das fragte mich meine Mutter oft (Disclaimer: Es waren nie süse Bois). Mittlerweile, scheint mir, ist es ihre Generation, die exzessiv Handyfotos schießt oder in unpassenden Momenten im Telefon verloren geht. Anders als ich und meine Bubble richten sie die Kamera ohne Ankündigung, beinahe heimlich, auf Freunde und Familie – und senden die Fotos ungefragt per WhatsApp an Hinz und Kunz. Oft fühle ich mich in solchen Momenten überlegen. Immer zum Handy greifen? Alles fotografieren müssen? So schlimm ist es bei mir zum Glück nicht. Mein Telefon bleibt bei Verabredungen in der Tasche. Der Ton ist immer aus.

Ich bin Profi darin, fürs Handy den richtigen Moment zu wählen – und die angemessene Etikette

Was ich ausblende: Dass ich einfach nur besser darin bin, meinen Konsum zu verbergen. Das Filmen bei Konzerten, das spontane Foto oder das Abdriften im Telefon – ich bin Profi darin, den richtigen Moment zu wählen und die angemessene Etikette. Die, die höflich ist, möglichst einvernehmlich und nicht zu needy.

Das Telefon erst dann rasend schnell aufleuchten lassen, wenn die Verabredung wirklich ganz sicher in der Toilette verschwunden ist. Beim Fotografieren schon ankündigen, wo man das Bild posten würde. "Ich will nur meinem Bruder zeigen, dass du auch da bist!". Zugegeben, manchmal habe ich gelogen und das Bild bei Insta gepostet. Auf Klo in unsäglicher Geschwindigkeit 3-4 Nachrichten schreiben, die man im Kopf schon vorformuliert hatte – um Zeit zu gewinnen. Zurück am Tisch: das Handy in der Tasche, der Ton immer aus.

Ich hatte ein bisschen mehr Zeit als meine Eltern, das alles zu lernen. Im Verstecken von Konsumverhalten sollen übrigens auch Suchtkranke ziemlich gut sein.

News, um am Stammtisch nicht völlig zu versagen

  • Von wegen tl;dr: Google arbeitet an einem KI-Tool, das die Kernbotschaften von Artikeln kurz und knackig zusammenfasst. Ein schwedischer Verlag (Öffnet in neuem Fenster) experimentierte mit solchen Kurzversionen – und stellte überraschend fest, dass Lesezeiten für den ganzen Artikel damit sogar noch gesteigert würden. Wenn die Leute wüssten, was ungefähr kommt, läsen sie lieber nochmal tiefer rein. Auch YouTube testet ein KI-Feature, mit dem sich Videos zusammenfassen lassen. Mega Bock drauf, dass mich dann noch mehr Dudes in "Konversation" mit Facts beballern nach dem gelungenen Einstieg: "Ich hab letztens in einem Podcast gehört / in einer YouTube-Dokus gesehen...".

  • PowerPoint war auch mal Kunst: Ausgerechnet ein Whiskeyhersteller hatte 1948 auf einer Verkaufstour die wohl erste Business-Slideshow à la PowerPoint gegeben – damals ein pompöses und lächerlich teures Kunstspektakel. "It is composed of pictures, yet it is not static,” soll jemand aus dem Publikum damals gesagt haben. “The overall effect is one of magnificence.” Krass! 1:1 meine Worte, als ich das erste Mal die erbärmlichen Zahlen der Redaktion, in der ich Praktikum machte, auf einer völlig manisch-psychedelisch animierten PowerPoint sah. (Ganzer Artikel (Öffnet in neuem Fenster))

  • Wusstest du, dass Bob Ross für seine Show extra vorher geübt hat, so zu sprechen, als läge er mit einer Frau im Bett? Ist jetzt keine News. Wollt's nur mal einwerfen.

  • Weil Coca-Cola viel imitiert wurde, entschied man sich 1915, eine eigene Flaschenform zu entwickeln, die man dann patentieren könne. Das Briefing für 10 potenzielle Hersteller: Entwerft eine Flasche, die so unverwechselbar ist, dass man sie selbst dann noch erkennt, wenn man sie im Dunkeln ertastet – oder wenn sie zerschmettert am Boden liegt. Auch ein random Fact, der in diesem Newsletter absolut nichts zu suchen hat!

  • Befremdliche KI-Hände kennen wir schon. Was aber ist eigentlich mit dem Lächeln auf vielen Bildern los? Die KI malt Gesichtern grundsätzlich ein Hollywood-Grinsen auf. Aber wie wir lächeln und warum, hängt stark vom kulturellen Kontext ab. Sehr schönes Bildmaterial und gute Zeilen dazu gibt es in diesem älteren Stück von Jenka Gurfinkel (Öffnet in neuem Fenster).

Das war die 35. Ausgabe des bitterbösen Newsletters über Netzwelt, Medien, neues Arbeiten und extrem viel Privatleben. Danke, dass du auch dann bleibst, wenn ich nicht da bin. Dass ich in der letzten Ausgabe im Mai "meine Wahrheit" gesprochen habe, ließ bei mir schlagartig eine Art Knoten platzen. Mir geht es seit einer Weile wieder ziemlich gut. Stellenweise sogar exzellent. Ich bedanke mich für die ganzen liebevollen Zuschriften damals. Das hat mir eine Menge bedeutet.