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Heißer Herbst: Lasst uns auf die 9-Euro-Ticket-Bewegung setzen

Ein persönliches Vorwort (also: noch persönlicher, als sonst)

Liebe Freund*innen, es ist Euch vielleicht aufgefallen, vor zwei Wochen kam kein Text von mir, was im gewissen Sinne eine Vertragspflichtsverletzung meinerseits darstellt, oder auch einfach: unzuverlässig war. Dafür zuerst meine aufrichtige Entschuldigung, und dann eine kurze Erklärung: wie viele von Euch wissen (s. mein “coming out” als klimadepressiv (Öffnet in neuem Fenster)), geht es mir zur Zeit nicht gut, ich kämpfe mit Depression, einem gebrochenen Herzen, Geldproblemen und “substance abuse issues” (das auf Englisch zu schreiben macht es ein wenig leichter, es zuzugeben). Ohne jetzt allzu tief ins Detail zu gehen: diese Kombination machte es mir vor zwei Wochen unmöglich, einen Text zu schreiben, I was lost in that other world. Jetzt bin ich wieder mehr in dieser Welt, erhalte ab heute therapeutische Unterstützung, und meine Community (including you wonderful people) ist am Start, um mir zu helfen – was wirklich einen Unterschied macht. Danke für Eure Geduld, Eure Unterstützung, und Euer Interesse an meinen Ideen, mögen sie manchmal auch etwas anstrengend sein.

Mit dankbaren und heute irgendwie überraschend positiv gestimmten Grüßen,

Euer Tadzio

5.9.2022, “Montagsdemos” in Leipzig: die Generalprobe im Verhältnis linke &/vs. rechte Krisenproteste geht nochmal gut (Öffnet in neuem Fenster): “Linke und rechte Demonstrant*innen blieben am Montagabend in Leipzig sichtbar getrennt. Versuche von Rechtsextremen, die Linke-Demonstration gegen die aktuelle Preisexplosion für sich zu vereinnahmen, wurden unterbunden. Erst recht bildete sich keine Querfront. Und: Die Demokrat*innen waren in der Überzahl.” Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieser Erfolg nicht unerheblich der linksradikalen Antifa (Öffnet in neuem Fenster) zu verdanken war, die die zahlenmäßige Übermacht ausmachte, und die Demos klar räumlich trennte – indem sie die eine blockierte.

Ich bin jetzt mal nicht abergläubisch, und glaube, dass eine gelungene Generalprobe nicht bedeutet, dass die Premiere ein Reinfall wird, denn: die richtig großen rechten Sozialproteste, der angekündigte “heiße Herbst” soll so richtig erst am 8.10. beginnen, da wird die AfD ihre “Sozialkampagne (Öffnet in neuem Fenster)” starten. Das kann zum Problem werden.

Die energie- und bewegungspolitische Gemengelage ist für die gesellschaftliche Linke ziemlich vertrackt, denn es scheint nur zwei ziemlich unattraktive Alternativen zum heißen Naziherbst zu geben: entweder, wie Teile der LINKEN – ich nenne sie meist den linksnationalen, oder auch Wagenknecht-Flügel, organisatorisch derzeit angeführt vom Leipziger LINKE-MdB Sören Pellmann – versuchen, den Faschos den Montag, genauer, das Label „Montagsdemonstration“ streitig zu machen; oder eigene Sozial- oder Anti-Reichen-Proteste an einem anderen Tag zu organisieren.

Ich halte von beidem nicht viel.

In Bezug auf die Frage der “Montagsdemos” stimme ich nd-Autor Robert Mey zu, der argumentiert hat (Öffnet in neuem Fenster), das Label sei nach den Erfolgen der Pegida-Bewegung mit zu viel brauner Scheiße verkrustet. Es besteht bei größeren Demos die Gefahr, dass einerseits eine Art ideologischer Durchseuchung von rechts nach links stattfindet, andererseits aufgrund unklarer räumlicher Trennungen Linke Demonstrant*innen zu rechtem Zählvolk würden. Die Entstehung einer nationalen “Querfront”, die von rechten Strateg*innen herbeigesehnt, und von zentristischen Kommentator*innen als Abwehrdiskurs gegen die Repolitisierung der “sozialen Frage” aufgebaut wird, ist sicherlich für diesen Herbst noch keine realistische Perspektive. Aber da die Energiepreis-Frage die nächsten Jahre – in fact: diese kapitalistische Entwicklungsphase, den Post-Earth-Capitalism – bestimmen wird (Öffnet in neuem Fenster), ist er hier tatsächlich (entschuldigt das Klischee) wichtig, den berüchtigten Anfängen zu wehren.

Neben den (irgendwie) linken Montagsdemos gibt es noch andere Akteure, die versuchen, linke Sozialproteste zu organisieren, along the lines of “eat the rich”, Wer hat, der gibt (Öffnet in neuem Fenster), etc. Diese Versuche sind natürlich lobenswert, da es wichtig ist, die Frage von Ungleichheit und Armut im nationalen Rahmen nicht kampflos den Rechten zu überlassen. Aber: große, gar Massendemonstrationen werden nicht von den “richtigen” Inhalten, nicht einmal vom besten Slogan getrieben. Die politische Produktivkraft einer Massenbewegung sind gesellschaftliche "Affekte", vereinfacht gesagt: kollektive Gefühlslagen.

Dass es einen "wir haben keinen Bock, so hohe Mieten/Energiepreise zu zahlen"-Affekt gibt (wie taz-Autor Erik Peter (Öffnet in neuem Fenster) im persönlichen Gespräch argumentierte), steht außer Frage. Aber zur *Mobilisierung* eines Affekts zu eventuell konfrontativen Demos – und let's be honest, wenn wir von großen Sozialprotesten reden, die in der Lage sein sollen, die Auswirkungen steigender Energiekosten für ärmere Menschen abzufedern, reden wir eigentlich notwendigerweise von in Teilen konfrontativen, oder zumindest konfrontationsfähigen Demos) – braucht es eine zweite Zutat: einen *Antagonismus*, a villain, a bad guy (or guys).

Und in der Konstruktion eines effektiven Feindbildes haben uns die Rechten, die Aluhüte und Queridiot*innen, die Nazis was voraus, denn sie haben im vergangenen Jahrzehnt eine "wir gegen das System"-Position kultiviert, die den gesellschaftlich verspürten Frust über steigende Preise erst politisiert, ihm eine Richtung geben kann: Die Preise sind zu hoch, Schuld sind „die da oben“ (alles Elitäre, Linksgrünversiffte, die denken lustigerweise sogar, dass Antifa = Elite), also ist das auf die Straße gehen für niedrige Energiepreise auch gleichzeitig ein Kampf gegen die da oben. Das is eine durchaus effektive Mobilisierungskombo.

Dagegen können wir zwar - sollten wir irgendwann die richtigen Inhalte und Slogans finden (Öffnet in neuem Fenster), but we all know that we haven't found them yet because it's objectively complicated - unsere eigenen Demos organisieren, aber: wer wäre dort der Antagonist? Die Reichen und die Konzerne?

Dream on, Genoss*innen.

Erstens ist *klassenkämpferisch* artikulierte Armut in Deutschland beinahe unbekannt. Mit Ausnahme der 2004/5 Anti-HartzIV-Proteste, aus denen die WASG hervorging, die später mit der PDS zur LINKEN fusionierte – übrigens eine Protestdynamik, die im alten Westdeutschland so nicht möglich gewesen wäre, denn hier fütterten die erfolgreichen „Wende“-Protesterfahrungen im Osten die politische Kultur der BRD an – besteht in den Sozialwissenschaften ein weitgehender Konsens, dass Armut in Deutschland in Stille leidet, im Gegensatz zum Beispiel zu Armut in Frankreich, die gerne auch mal nen Molli schmeißt.

Zweitens werden die großen Konzerne des Landes – von VW zu RWE – weniger als Ausbeuter*innen oder als raffgierig gesehen, sondern eher als „Teil der deutschen Familie“ betrachtet, und, um ein Konzept aus Schweden aufzugreifen, im bundesdeutschen „Volksheim“ geht es uns doch noch verhältnismäßig gut, oder?

Drittens gibt es keinen weit verbreiteten "hate the rich"-Affekt, mit dem wir mehr als nur ein paar tausende linke und linksradikale Genoss*innen mobilisieren könnten. Deutschland hat keine, oder zumindest keine so sichtbaren, Megakapitalistenkarrikaturen wie Bezos oder Musk, deren Jetfuel-getriebener Schwanzvergleich im Weltall wie aus einer Simpsons- oder Southpark-Episode entlehnt anmutete. Wir haben die vergleichsweise unsichtbaren Quandts, oder (bis vor kurzem) den im persönlichen Gespräch freundlich und fast zuvorkommend wirkenden Herbert Diess. Es wird hier nicht so schnell eine linke „Pitchfork Brigade“ geben, daher kein „hate the rich“-Affekt, and remember: a demo is at best only ever as strong, as the affect it seeks to channel. Ohne den ist alles nur Slogan.

Also wieder alles nur scheiße?

Nicht ganz, denn da gibt es ja noch das 9-Euro Ticket. Das Ende dieses aus dem nichts gekommenen sozialökologischen Verkaufsschlagers (Öffnet in neuem Fenster), der auch, zumindest frühen Studienergebnissen nach zu urteilen, einen positiven Klimaeffekt hatte (was das 9Euro-Ticket von so ziemlich allen anderen Policies der Bundesregierung fundamental unterscheidet), brachte in Windeseile Kampagnen hervor wie Nullfürimmer (Öffnet in neuem Fenster), den von der schwedischen Planka.nu-Kampagne (vgl. Kapitel 5 meiner Diss (Öffnet in neuem Fenster)) inspirierte 9-Euro-Fonds (Öffnet in neuem Fenster), die Gratisfahraktionen der Letzten Generation, sowie eine wundervolle Subvertising-Kampagne zum 0-Euro-Ticket.

Wir sehen: da passiert viel mehr, als bei vielen anderen Themen. Hier sehen wir tatsächlich organisches Wachstum einer Bewegung, mit einer Vielzahl kreativer, dezentralisierter Aktionen, die dann später, inshallah!, eine schlagkräftige gesellschaftliche Macht konstituieren.

Aber nicht nur die initialen Beobachtungen, auch die Geschichte gesellschaftlicher Aufstände macht hier Mut: Der Moment, wo ein einmal gegebenes oder erkämpftes “Entitlement” (wie z.B. ein billiges ÖPNV-Ticket, oder eine Sozialleistung, oder Arbeitslosengeld vs. HartzIV) den Leuten wieder weggenommen wird, ist traditionell auch der moment, an dem populare Rebellionen ausbrechen können. This is now.

Deswegen wäre mein Tipp: Klar müssen wir den Rechten was entgegensetzen, aber den Kampf um den Montag werden wir verlieren, & unsere Leute werden die Gesamtzahlen erhöhen, die den Rechten zugerechnet werden; ganz abgesehen von Durchseuchungseffekten der Querideologie. Außerdem sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass irgendetwas, das wir als bloße Reaktion auf, oder zur Verhinderung einer großen rechten Mobilisierung machen werden, diese in ihrem Wachstum wirklich einschränken wird.

Stattdessen sollten wir auf *reale* Bewegung setzen, und die 9-Euro-Ticket-Bewegung war schon am 2.9., eine Realität. Stellt Euch vor, wir ziehen das richtig hoch, & gewinnen am Ende sogar! Nullfürimmer, die FDP liegt blutend am Boden, die Grünen sind überrascht, dass effektiver Klimaschutz möglich ist & populär sein kann... und die gesamte Gesellschaft sieht, dass eine linke/linksradikale/klima-Kampagne interveniert, eingegriffen und ihr Leben verbessert hat. Also, Genoss*innen: rein in den ÖPNV, rein in die Kampagne - this way our future lies.

Mit, wie schon gesagt, überraschend hoffnungsvollen Grüßen,

Euer Tadzio

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