Genoss*innenbeitrag: Klassenkampf vs. Arschlochgesellschaft
(Source: ideogram.ai (Öffnet in neuem Fenster) . Prompt: class struggle)
Liebe Leute,
heute mal eine neue Rubrik: Genoss*innenbeiträge. Ich stelle mit Freude fest, dass meine Beiträge und manchmal etwas polemischen Begriffskonstruktionen unter Euch Debatte auslösen, und freue mich, gute Beiträge, die sich kritisch mit meinen Ideen und den Strategiefragen der Klimabewegung auseinandersetzen, hier auf meinem Blog (ich nenn’s nicht mehr Newsletter, war irgendwie ein Misnomer ;)) zu veröffentlichen.
Der erste Genoss*innenbeitrag kommt von der grandiosen Lisa Pöttinger aus München, die u.a. dieses Jahr ganz zentral in der anti-IAA-Mobilisierung präsent war, und die sich - ich hoffe, sie nimmt mir diese Kategorisierung nicht übel - der Klimagerechtigkeitsfrage aus einer mehr klassenbewussten, dare I say ein wenig orthodoxeren marxistischen Perspektive nähert, als ich das tue.
Ihr ausgezeichneter und für mich völlig nachvollziehbarer Starting Point: die meisten Menschen werden nur ungern “Arschlöcher” genannt, was mein Konzept der Arschlochgesellschaft zwar vielleicht lustig macht, vielleicht hat es - gesteht sie mir zu - einigen explanatorischen Gehalt. Aber eröffnet es uns funktionierende strategische Wege nach vorne, erlaubt es uns, neue gesellschaftliche Bündnisse zu bilden? Und was hat das der Klimakampf mit der “Klassenfrage” zu tun?
Danke, liebe Lisa, dass Du Dir die Zeit genommen und mir die Ehre erwiesen hast, Dich mit meine, Geschreibsel auseinanderzusetzen. So without further ado, I give you: Lisa Pöttinger, Klassenkampf vs. Arschlochgesellschaft.
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Genoss*innenbeitrag: Wer wird schon gern „Arschloch“ genannt?
Tadzio und ich waren im Austausch bezüglich der von ihm proklamierten „Arschlochgesellschaft“. Wir haben uns entschieden, dass ich netterweise meine solidarische Kritik auf seinem Blog veröffentlichen kann (den ihr gerne unterstützen dürft).
Angefangen hat meine Kritik damit, dass ich nur die Tweets, aber nicht die dazugehörigen Texte gelesen hatte, sodass bei mir Folgendes rübergekommen ist:
Die Gesellschaft besteht zu einem großen Teil aus Arschlöchern (ohne Erklärung, warum sich Leute wie Arschlöcher verhalten und was diese Dynamik verändern könnte) und daher brauchen wir eh nicht versuchen, sie zu überzeugen/mitzunehmen/… Aber wir sind immerhin die Guten, die keine Arschlöcher sind. Verbittert können wir darauf blicken, wie alles den Bach heruntergeht und wären mehr Leute so moralisch gut wie wir, dann wäre alles anders gelaufen.
Das hat mich zunächst einmal an ökofaschistische Ideen erinnert und ein essenzialistisches „Der Mensch ist schlecht“-Narrativ, was ja so nicht der Fall ist, wenn man sich mal die Mühe macht, den Hintergrund zu lesen (my bad ;)).
Wir sind also in Zeiten angekommen, in denen nicht mehr alle einmal kurz entrüstet aufschreien, wenn von Gewalt gegen Migrant:innen gesprochen wird (und dann aber wegschauen, wenn es passiert), sondern in denen ein Großteil der Gesellschaft klatschen (Bayernwahl: 66% der Wählenden wählen rechts-rechtsextrem). Zwar gab es auch zuvor schon Sarrazin usw. aber der Rechtsruck ist deutlich erkennbar in Sprache und Taten. Ich bin mir da immer nicht sicher, was ich schlimmer finde: Verschleierte rechte Politik à la Asylreform mit den Grünen in politisch meist korrekter Sprache oder ganz offen rechte Politik & Sprache à la Union, Freie Wähler, AfD und FDP… Denn letztendlich finde ich Taten immer wichtiger als Worte. Wir können auf jeden Fall sagen, dass das Fehlen einer starken link(sliberal)en Opposition und die Grünen in der Regierung wie bereits 2010 richtig scheiße ist – sowohl fürs Klima, Armutsbetroffene als auch Diskriminierungsbetroffene. Insbesondere angesichts der multiplen Krisendynamiken.
Verdrängungsgesellschaft und Reaktanz
Bei Tadzios Beschreibung von Übergang Verdrängungsgesellschaft zu Arschlochgesellschaft dürfte das Phänomen der Reaktanz eine wichtige Rolle spielen: Wenn Leute mit der Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit oder mit schweren Vorwürfen in ihrem Selbstbild oder tatsächlichen Freiheit bedroht sind, dann reagieren sie trotzig, widerspenstig, defensiv und zumeist irrational.
Ich finde das passt sehr gut zu den derzeitigen Dynamiken:
allen wird von NGOs, liberalen Politiker:innen, Unternehmen(swerbung), usw. erzählt, sie seien schuld an der Klimakrise, weil sie falsch konsumieren Vorwurf
postkoloniale Ansätze geben uns zu verstehen, dass der globale Norden, der auch oft als ein uns alle umfassendes „Wir“ kommuniziert wird, massiv die Lebensräume und Körper der Menschen aus dem globalen Süden aus(ge)beutet (hat) Vorwurf
alle merken, dass der Geldbeutel enger wird, entweder am eigenen Leib mit realen Einschränkungen & Ängsten oder weil sie von den Schlangen an der Tafel mitbekommen (Angst vor) Einschränkung Freiheit
Und dabei haben die Leute schon so ein gewisses Bauchgefühl, dass die Vorwürfe so irgendwie ungerecht sind. Sie kriegen mit, dass 1 Kreuzfahrtschiff so viel CO2 rauspustet, wie eine Kleinstadt. Sie haben auch nicht dafür gestimmt, dass der IWF über Staatsschulden Länder des globalen Süden in die Knie zwingt. Besonders moralisierende Vorwürfe kommen ja gerne aus der privilegierten Lastenradl-Alnatura-Reise-aber-auf-Mallorca-Ecke. Und anstatt Klassenhass zu schüren, der sich auf die Klatten & Quandts (BWM), Musks (Tesla), Bezos (Amazon) etc. dieser Welt richtet, richtet sich so eine Art Klassenhass auf diese kulturelle Elite. Das wird unterstützt von Rechten, die diese Gruppe sehr gut als diejenigen framen, die „uns alles wegnehmen wollen“.
Von daher finde ich ein reaktionäres „Das lassen wir uns nicht gefallen“ und „wir bäumen uns gegen all die Werte auf, die dieser vermeintliche Feind uns aufmoralisieren = aufzwingen will“ schon nachvollziehbar. Das ist dann auch sehr gut in den Kapitalismus integrierbar, weil diese „Woke-Elite“ (ich finde die diskursive Umnutzung des Begriffs woke (Öffnet in neuem Fenster) ziemlich problematisch) die Wut und den Hass abschirmt, der sich genauso gut auf das Kapital richten könnte.
Nobody likes a moraliser
Ich finde es für die Praxis immer erstmal nützlich (zu versuchen) zu begreifen, woher gesellschaftliche Reaktionen kommen, weil man daraus schließen kann, wie man ihnen entgegentritt. Weiteres Moralisieren wird wohl auf noch mehr Reaktanz treffen. Deswegen finde ich den Begriff der „Arschlochgesellschaft“ auch schwierig. Jemanden als Arschloch bezeichnen mag zwar inhaltlich (für einen Zeitabschnitt/ein Verhalten) korrekt sein, hilft mir aber nicht, diese Person wieder auf die „richtige“ Seite zu ziehen. Und ich bin überzeugt davon, dass viele, die sich gerade wie Arschlöcher verhalten, nicht menschlich schlecht sind und/oder menschlich schlecht bleiben müssen, weil es ihrer wahrsten Essenz entspricht. Die Bezeichnung als Arschloch erinnert wohl zu sehr an diese Moralisierung bzw. die damit einhergehende Herabwürdigung.
Wenn also unter anderem Reaktanz zum Rechtsrutsch führt (mit der Einengung unserer (wahrgenommenen) Handlungsspielräume durch die multiplen Krisen als materielle Basis), dann müssen wir die Reaktanz auflösen/verringern. Bzw. der Hass und die Wut müssen umgelenkt werden auf diejenigen, die tatsächlich am meisten Verantwortung für die Krisen und damit die Probleme der Menschen tragen. Und deshalb poche ich so auf eine klassenkämpferische Klimagerechtigkeitsperspektive: Ich sehe darin die Möglichkeit, dass wir eine gemeinsame Subjektposition finden. Die Leute fühlen sich bereits verarscht, wenn sie in den teuren Bioladen gehen sollen, während Deutschland Kreuzfahrtschiffe weiterfahren lässt. Sie fühlen sich an der Kasse um ihren Lohn betrogen. Die Wut aufgrund der Zustände ist schon längst da – aber er richtet sich noch auf die falschen (die allerdings mit ihrer unsympathischen moralisch-heuchlerischen Erhabenheit auch ein einfaches – und im Vergleich zum Kapital auch gefühlt erreichbares – Ziel sind). Eine taktische Frage wäre für mich also: Können wir diese Wut umlenken? Wie können wir unsere Praxis so gestalten, dass sie zeigt, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit stehen sich nicht entgegen, sondern gehören zusammen? Wie kommunizieren wir, dass wir eine internationale Perspektive einnehmen und nicht selbst den verhassten moralisierenden Ton einschlagen, der so stark mit Heuchelei verbunden ist?
Mehr linker Populismus?
Vielleicht brauchen wir mehr linken Populismus? Eine Idee, die ich als Bildungsfan immer skeptisch betrachte, weil ich Leute nicht verdummen will. Aber wir brauchen die Wut. Die Wut darüber, dass wir bald keinen bewohnbaren Planeten mehr haben. Die Wut darüber, dass es wenige gibt, die dadurch unendlich reich werden. Die Wut darüber, dass es auch genau diese Leute sind, die unsere Löhne drücken, die Preise und Mieten erhöhen (nicht notwendigerweise im Einzelfall, aber in der Masse). Gruppenbasierte Wut funktioniert bei feministischen und antirassistischen Bewegungen, weil die Leute sich betroffen fühlen und über die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, wütend sind. Auch hier kann der Klassenbegriff hilfreich sein. Natürlich gibt es andere Kategorien der Subjektivierung – wie Tadzio mir schrieb: Menschen verhalten sich wie „schwuchteln, tussis, nazis, konsumierende, arschlöcher, rechtsanwälte, hausmeister, liberale“ und nicht wie ein imaginiertes homogenes Proletariat. Aber all das zu sein, widerspricht der Klassenzugehörigkeit auch nicht. Wir sind nicht diejenigen, die entscheiden, dass und wie viele SUVs jährlich produziert werden. Wir sind nicht diejenigen, die sich im Klimakollaps einen Bunker mit Sicherheits-Diener:innen kaufen können. Ich bin überzeugt, aktiv daran zu arbeiten, dass wieder ein breiteres Klassenbewusstsein entsteht, kann dabei helfen, dass wir uns betroffen fühlen und die Wut gegen die richten, die ja tatsächlich über ihre Position im Wirtschaftssystem vermittelt unsere Lebensgrundlagen zerstören. Über den eigenen Tellerrand schauen und sich als globale Klasse zu verstehen, wird dann für viele wohl erst der 2. Schritt sein.
In einem von Tadzios Texten steht, dass *wir“ wissen, was die rationale und ethische Entscheidung wäre, sie aber nicht treffen. Auch hier gehe ich nicht ganz mit, denn in den allermeisten Gesprächen, die ich mit Nicht-Aktivist:innen führe, ist da vor allem utter blankness. Es gibt keine realistisch wirkenden Alternativen zum Kapitalismus – honestly, wer kennt oder hat ein ausreichend konkretes Bild von degrowth communism? Es gibt keine Vorstellung, wie man den Kapitalismus überwinden könnte, wenn man sich darauf einlässt, dass da noch etwas anderes existieren könnte. Diejenigen, die auf Reformierung setzen, merken selbst, dass mit Abwanderung von Unternehmen weniger Steuern und damit weniger Geld für Klimaschutz ein irgendwie unlösbares Problem da ist. Ich glaube nicht, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung weiß, was die richtige Entscheidung ist, noch wie man sie durchsetzen könnte. Wir sind politisch ent-bildet und ent-powert. Die neoliberale Indoktrination hat jegliche Alternativentwürfe lachhaft erscheinen lassen und uns ent-kollektiviert. Wie oft höre ich beim Flyern: „Was hat das mit mir zu tun?“ Gleichzeitig sind wir hier im kapitalistischen Zentrum durch einen gewissen Anteil am Kuchen des Kapitals großartig eingehegt und bestochen worden. Die Revolution beginnt wohl nicht in Deutschland, aber wir müssen ihr den besten Nährboden bereiten.
Was ist in Zukunft rational?
Die Analyse, dass wir nicht mehr an die Rationalität der Gesellschaft appellieren können, ist denke ich richtig. War das davor aber schon eine sinnvolle Strategie? Denn wenn diese Rationalität für die meisten subjektiv nicht umzusetzen war (z.B. fehlender ÖPNV auf dem Land, nicht genügend Geld für Bio), dann haben diese hauptsächlich mehr Irritation, Verdrängung und nun eben Reaktanz nach sich gezogen. Hier ist aber auch ein Riss im System. Vereinfacht gesagt: Uns wird gesagt, wir sollen uns X verhalten. X ist aber innerhalb des Kapitalismus gar nicht wirklich möglich für uns. Wenn X tatsächlich ein besseres Leben/Lebensgrundlagen für alle bringt, muss der Kapitalismus weg.
Was ich daraus ziehe: Ich stimme zu, dass es nichts bringt, von der Gesellschaft zu „erwarten, einzufordern, versuchen, zu erzwingen“. Wir müssen in die Gesellschaft intervenieren, um eine gemeinsame Identität und Verbundenheit der Lohnabhängigen aufzubauen, die sich gegen diejenigen richtet, deren Stellung im Produktionsprozess uns alle ausbeutet, also die Top-Konzern-Manager:innen & -Eigentümer:innen.
Und daher denke ich auch nicht, dass Klimaaktionen notwendigerweise zum Rechtsruck beitragen. Es kommt wohl drauf an, ob Leute sich damit identifizieren können, weil die Aktionen nicht von einer abstrakten Moral geleitet, sondern von gemeinsamen Erfahrungen, Ängsten und einer kollektivierenden Wut geleitet sind. Klimaaktivist:innen müssen nahbarer werden – nicht im Sinne von sympathischer und braver, sondern im Sinne von Zugang zu den Problemen der meisten Menschen. Wir sind schon teilweise ein recht exzentrischer Haufen, der mit akademischer Sprache viele Leute abhängt und sie misstrauisch macht. Und wenn wir uns dann noch Leuten in den Weg stellen und ihnen qua Aktionsform vermitteln „Wir bestrafen euch für euer klimaschädigendes Verhalten“, dann können wir auch gleich aufhören.
Tadzio schlägt solidarisches Preppen und Selbsthilfeworkshops à la Schweden vor. Dazu habe ich keine abgeschlossene Meinung. Es fühlt sich richtig an, damit jetzt zu starten, aber ich glaube, das kann nicht die einzige Perspektive sein. Zumal viele Menschen noch nicht die Notwendigkeit dessen sehen werden, weil es uns noch zu gut geht. Solche Strukturen können politisieren, sie können aber auch auf der Ebene der Symptombekämpfung bleiben (was nicht heißt, dass Symptombekämpfung schlecht wäre – wie viel schlimmer wäre die Welt ohne die Seenotrettung!). Aber ich würde lieber die Ursache bekämpfen (was im Fall Klima aber nicht dazu führen wird, dass es keine verheerenden „Symptome“ mehr gibt). Eine klassenbewusste Klimapolitik kann aber, denke ich, den Klimaaspekt und den Antifa-Aspekt zusammenführen, weil wir Leute zu Solidarität politisieren bzw. sie nicht alleine lassen.
Und dann habe ich mich auch noch gefragt: Woher haben wir die Ressourcen für solidarisches Preppen? Wie kommen wir da ran? Es führt eigentlich letztendlich nichts an der Enteignung des Kapitals vorbei…
Was die Ideen aus Schweden und der klassenkämpferische Ansatz gemein haben: Sie setzen beide bei den Sorgen, Problemen und ggf. schon bestehenden Kämpfen der Menschen an, anstatt ihnen zu sagen, was moralisch richtig wäre.
Lisa Poettinger