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Demokratie Verteidigen: Das Coming Out der... “vielfältigen Gesellschaft”?

(Foto: Wolf Schumacher)

Liebe Leute,

ich wünsche es Euch wirklich von ganzem Herzen, dass Ihr es geschafft habt, am Sonntag auf der Straße zu sein, oder aber, wenn Ihr an den (allerallermeisten) Orten Deutschlands wohnt, wo gestern keine machtvollen pro-Demokratie, ergo anti-AfD-Proteste stattfanden, doch zumindest aus den Nachrichten und sozialen Medien einen wirklichen Eindruck davon bekommen konntet, was da gerade passierte.


Ereignis” statt bloßer Demo

Denn das waren keine “ganz normalen” Demos, im Sinne der meist nutzlosen und oft entmächtigenden Selbstvergewisserungsrituale, zu denen viele Demonstrationen im Laufe der Zeit verkommen. Zumindest in Berlin, aber ich hörte ähnliche Geschichten von Potsdam und aus anderen Orten, war diese Demo – die Veranstalter*innen Fridays for Future sagen, es waren 25.000, was bedeutet, dass (sorry FFF, historisch übertreibt Ihr hier zu hart) innerhalb von 2 Tagen in Berlin mind. 12-15.000 Menschen gegen die AfD mobilisiert werden konnten, was eine erhebliche Zahl für die demomüden Berliner Antifaschist*innen ist – nicht nur größer, als Alles, was die Hauptstadt in den letzten Jahren an antifaschistischer Praxis gesehen hat, es fühlte sich vor allem viel kraftvoller an. Ich erinnere mich nur ungern an den 8.10.22, als ung. zehntausend AfD-Hansel in Berlin demonstrierten, und wir nicht einmal 1000 waren, die sich dem in den Weg stellten. Nein, gestern waren wir kein vereinzeltes Häuflein Aufrechter, wir waren Viele, und das fühlte sich gut an. And what's more, es waren halt nicht nur Die Üblichen Verdächtigen. Der Spiegel schrieb ähnliches über die sehr spontan am Freitag einberufene Kundgebung in Hamburg: “Doch viele andere sind ohne Fahnen oder Schilder gekommen. Für manche, so wie Dieter Uhlig, ist es die erste Kundgebung seit vielen Jahren oder überhaupt (Öffnet in neuem Fenster).“

Die Demos waren also “nicht normal” in dem Sinne, dass sie außergewöhnlich im Sinne von extraordinär waren: dass sie den Lauf des Gewöhnlichen unterbrachen, diesen verändern, weil sie zuerst die an ihnen teilnehmenden Subjekte verändern, diese ermächtigen, aber darüber hinaus, weil sie neue gesellschaftliche Akteure oder Wahrheiten erschaffen (können). Wer sich mit linkem Theoriekram auskennt wird hier merken, dass ich mich auf den linken Theoretiker Alain Badiou beziehe (übrigens der Theoretiker, seit Gramsci, des “vorpolitischen Raums”, der “Metapolitik”, von dem auch Steve Bannon und Martin Sellner beeinflusst sind), und sein Konzept des “Ereignis”. Die Idee dahinter ist: sozialer Wandel verläuft nicht linear, sondern in Brüchen, die wir heute oft als “Kipppunkte” bezeichnen, die aber auch nur einfach “Inflexionspunkte” auf Kurven sein können, wo sich der Verlauf der Kurve fundamental ändert.

Ich glaube, gestern war so ein Ereignis: gestern haben wir kurz die Umrisse eines neuen gesellschaftlichen Subjekts gesehen, einem antagonistischen, antifaschistischen und doch auch sehr bürgerlichen Gegenpart zur Arschlochgesellschaft. Ich nenne es mal vorläufig: die vielfältige Gesellschaft.


Chronologie I: AfD + Bauern = der rechte Zangenangriff

Aber Moment, das geht jetzt einen Schritt zu schnell, so let's back up, und weil die Entwicklungen gerade wirklich mit unglaublicher Geschwindigkeit verlaufen, versuche ich mal eine kurze Chronologie der Ereignisse. Direkt nach dem Ende der gesellschaftlichen Sylvesterfeierlichkeiten, bei denen diesmal die Krawalle und darauf folgende Krawalldiskussion über Neukölln et al. weitgehend ausblieb, begannen die Bauernproteste ihren Schatten auf die deutsche Politik zu werfen – Proteste übrigens, die, wie der Guardian (Öffnet in neuem Fenster) uns heute erinnert, schon in verschiedenen europäischen Ländern integrale Bestandteile von deren jeweiligen Rechtsrucken (Plural von “Ruck”?) waren. Am Freitag morgen, 5.1., erfuhren wir, dass diese Proteste schon bevor sie begonnen hatten ein unglaubliches gesellschaftliches Machtpotential artikulierten, waren sie doch in der Lage, bevor der erste Trecker die erste Straße blockierte, die schwache Ampel zu erheblichen Konzessionen zu zwingen

Ich erklärte das als einen der ersten taktischen Moves im “Großangriff der Arschlochgesellschaft (Öffnet in neuem Fenster)”, mit dem einschränkenden Zusatz, dass meine Perspektive auf die Bauernproteste durchaus selektiv ist: ich blende die landwirtschaftsspezifischen Elemente der Proteste verhältnismäßig stärker aus, und fokussiere mehr auf die allgemein rechten Aspekte der Aktionen und Demos, die sie eher in die Tradition 2016 – Pegida, 2020 ff. - Schwurbler, 2024 – Bauernproteste stellen, als in die konkreter bäuerlicher Forderungen.

Als dann am vergangenen Montag der rechte Rand der Bauernproteste in Berlin auf der Straße war, bestätige sich, was ich die Tage davor schon geahnt hatte: die Debatte um eine mögliche “Vereinnahmung” der Bauernproteste von rechts war müßig, denn rechte Proteste können nicht von rechts vereinnahmt werden. Die Republik verstand, wenngleich wie üblich eher unterbewusst, als bewusst, dass es sich hier um eine wuchtige Machtdemonstration der gesellschaftlichen Rechen handelte. Eine immer stärker werdende rechtsradikale Partei mit ausgeprägten faschistischen Elementen in den Parlamenten, und plötzlich eine starke rechte Bewegung auf der Straße: das ist die Art von Zangenangriff, der tatsächlich erfolgreich sein kann.

Chronologie II: die correctiv-Recherche als (millieuspezifischer) Kipppunkt

In diesen (für Uns) angstgefüllten Wahrnehmungsraum platzte am Mittwoch die mittlerweile berühmte “correctiv Recherche” zum “Geheimtreffen” zwischen hochrangigen AfD-Funktionären mit Naziideologen wie Sellner und Kubitschek in Potsdam, bei dem u.a. die massenhafte Vertreibung von Geflüchteten, aber eben auch deutschen Staatsbürger*innen diskutiert wurde. Wie von Vielen betont: an der Recherche war nur sehr wenig wirklich inhaltlich neu, wir wissen eigentlich, wie die Faschos auf den von ihnen herbeifantasierten “Great Reset” antworten wollen – mit ethnischer Säuberung. Faschos besprechen Faschosachen, so sind die halt. Und dass Fortschritte der AfD-Faschisten in Richtung Regierungsmacht nicht unbedingt nachhaltige gesellschaftliche Gegenbewegung produziert, hat ja schon die kleine Machtübernahme in Sonnenberg gezeigt: kurzes Aufregungsstrohfeuer, dann weitermachen im Normalwahnsinn.

Nur: dieses Mal war das anders. Seit Tagen wird in allen Nachrichtensendungen immer wieder die “correctiv Recherche” erwähnt, und diese als Anlass genommen, bisherige Urteile (Positionen – oder auch spezifische “Wahrheiten”) zu hinterfragen. Stellvertretend dafür nehme ich mal den guten Hendrik Wüst, der immer wieder versucht, sich “links” von Merz in einer Art konservativem “Mainstream” zu verorten und diesen zu artikulieren. Der sagte (Öffnet in neuem Fenster), zwar nicht zum 1. Mal, aber diesmal mit viel größerer gesellschaftlicher Resonanz: “die Zusammenkunft in Potsdam mit einzelnen AfD-Funktionären habe gezeigt, dass die zweitgrößte Oppositionspartei im Bundestag (Öffnet in neuem Fenster) keine Protestpartei sei. Er wurde wie schon vor einigen Monaten deutlich: 'Die AfD ist eine gefährliche Nazipartei.'.”

Ich glaube, dass wir hier an einem dieser “sozialen Kipppunkte” sind, von dem die Klimabewegung gerne redet, die es aber im Klimafeld in den letzten Jahren immer nur gegen uns gab, nie in die von uns erhoffte Richtung. Die correctiv Recherche hat es einem bestimmten Spektrum der verbleibenden “gesellschaftlichen Mitte”, dem, sagen wir mal, in Punkto Antifaschismus zumindest potenziell vernünftigen Teil der Verdrängungsgesellschaft, erlaubt, die AfD endlich als waschechte Faschistenpartei zu framen, und somit die im “Nie wieder” geronnenen Erfahrungen und Werte zu mobilisieren, um endlich gegen den Rechtsruck aufzustehen. Warum konnte diese Recherche gerade jetzt so viel Raum einnehmen und so wirkmächtig werden? Nicht unbedingt wegen der spezifischen Inhalte (obwohl die Drohung der Deportation deutscher Staatsbürger*innen schon schwer wiegt) Weil gerade jetzt die Angst größer ist, als bisher, weil die Macht der Faschos auf einem Höhepunkt ist, auf dem sie möglicherweise in der BRD noch nie war. AfD-Umfragehoch + Bauernproteste + correctiv Recherche = gesellschaftlicher Kipppunkt, zumindest in den o.g. “Mitte”-Milieus.


Die neue Mission: Vielfalt for Future

In dieser Situation fuhren die von mir oft kritisierten Fridays for Future zu alter Form auf: sie luden zu einer Großdemo in Berlin vor dem Brandenburger Tor auf (zusammen mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und anderen progressiven Großplayern), auf der auch die Rede von Luisa Neubauer zeigte, dass FFF immer noch in der Lage ist, wirklich signifikante Teile der Gesellschaft anzusprechen, und diesen mit dem Frame “for future”, Zukunft gegen die Vergangenheitsfetischisierung der rechten Arschlöcher, eine Richtung und eine positive Erzählung zu bieten. Deutlich wurde, dass es hier um die Selbstkonstituierung eines neuen gesellschaftlichen Subjekts geht, eines, das der Arschlochisierung eine Zukunft von Offenheit und Vielfalt entgegensetzt.

Ich muss es für heute leider hierbei belassen, weil ich mich jetzt fertig machen muss, um zur Bauerndemo am Brandenburger Tor zu fahren. Dazu wird es dann morgen den nächsten Text geben. Wahrscheinlicher Titel: a tale of two Deutschlands.

Euer Tadzio

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