Vorwärts nimmer, rückwärts immer: die räumliche Logik des Kollaps
Liebe Leute,
ihr kennt womöglich (hoffentlich!) die ikonischen Worte, mit dem seit jeher die Folgen der SerieN beginnen, die früher noch “Raumschiff Enterprise” hießen, aber seit einigen Jahrzehnten eigentlich nur noch als “Star Trek” bekannt sind: “Space. The final frontier...” Der Text endet mit der Aufforderung “to boldly go where no one has gone before.”
Die Richtung der Moderne
Ich steige hier nicht nur mit Star Trek ein, weil ich ein ausgeprägter SciFi-Nerd bin. Star Trek steht ikonisch für die Zeit der Hochmoderne, der Zeit der großen modernen U- und gleichzeitig Dystopien (Roddenberry, Asimov, Lem, Orwell, Huxley...). Star Trek entspringt der Vergangenheit, in der die Zukunft immer noch als stetiger gesellschaftlicher Fortschritt gedacht werden konnte, eine Zukunft in der es in einer amerikanischen Fernsehserie aus den 60ern (!) auf der Erde und den hyperentwickelten Planeten des imperialen galaktischen Zentrums (Vulkan, etc.) kein Geld mehr gibt, keine Armut, keine Kriege, und die Peripherie dieses Imperiums durch seine ständige Erweiterung (“the final frontier”) die große Weite der Galaxie immer weiter zivilisierte.
Die “Richtung” der europäischen Moderne, angetrieben vom ewig wachsenden Kapitalismus und seinen Bedürfnissen der inneren und äußeren Landnahme, also der sozialen und geographischen Expansion, ist klar: nach außen, nach vorne, nach oben, die moderne räumliche Logik ist eine expansive. Hier zeigt sich übrigens wieder die moderne, wachstumsorientierte Seelenverwandschaft kapitalistischer und sozialistischer Projekte: “Vorwärts immer, rückwärts nimmer” war zwar eine Formel aus der DDR, aber sie beschreibt tatsächlich den Verlauf kapitalistischer Wirtschaften besser, als den des Sozialismus.
Von diesem den drei großen politischen Projekten der Moderne – Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus – gemeinsamen Wachstumsfetischismus habe ich schon gesprochen, als es um unsere individuelle und gesellschaftliche Trauer (Öffnet in neuem Fenster) (or lack thereof) ging. Ich schlug einen gesellschaftlichen Trauerprozess vor, in dem es um den Verlust der besseren Zukunft für Alle gehen sollte, um eine bewusste Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass es mit mittlerweile absoluter Sicherheit der nächsten Generation von Menschen, auch denen, die in Deutschland oder einem anderen reichen Land geboren werden, schlechter gehen wird, als uns heute, anstatt besser. Ich schlug diesen Trauerprozess vor, weil ich sicher war, dass es ohne ihn keinerlei rationale Anpassung an eine sichere Zukunft von Katastrophe, Kollaps und Faschismus geben könnte, und legte damit einen Gesellschaftsoptimismus an den Tag, der mir heute, kaum 1,5 Jahre später, ziemlich fremd vorkommt.
Der U-turn der Geschichte
Annahmen über die “Richtung” gesellschaftlicher Entwicklungen sind eine der wirklich grundlegenden Mentalitätsstrukturen, die sich Gesellschaften geben. Wenn Ihr ein bisschen in der Klimagerechtigkeitsbewegung unterwegs wart, habt Ihr vielleicht Geschichten über indigene Kosmovisionen gehört, die eine zirkuläre Zeitlichkeit aufweisen: da geht's nicht rauf und nach vorne, sondern immer wieder im Kreis herum. Anders die messianische Zeitlichkeit, da ist alles scheiße (linear und horizontal), bis Messias alles perfekt macht.
Und dann gibt's da eben die oben beschriebene Zeitlichkeit der kapitalistischen Moderne. Wie einzigartig die ist, wurde mir so richtig erst durch Gore Vidals spannenden historischen Roman “Creation” bewusst, der im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. spielt, und Sokrates mit Buddha, Lao Tsu mit Xerxes ins Verhältnis setzt. Ich hab das Buch vor 15 Jahren gelesen, aber was mir davon im Kopf geblieben ist, ist diese Einsicht: “krass, die meisten dort beschriebenen Kulturen, Religionen und Philosophien sehen das Leben grundsätzlich als ein irdisches Jammertal an. Eines, das zu durchwandern wir verdammt sind, ohne darauf wirklich relevanten Einfluss zu haben” (die norddeutsch-protestantisch sozialisierten unter Euch sollten mit dieser Philosophie noch was anfangen können ;)).
Wie anders doch die Vorstellung von Geschichte und Zukunft im Kapitalismus, vor allem im Massenproduktionskapitalismus, der im globalen Norden spätestens seit den “goldenen Jahren” der Nachkriegszeit tatsächlich ein System darstellte, in der signifikante materielle Lebensverbesserung für immer mehr Menschen eine reale Möglichkeit war: für einen selbst, und noch mehr, wenn man selbst für die eigenen Kinder spart. Darin steckt der Grundgedanke: mein Leben wird im Laufe meines Lebens besser werden, und das meiner Kinder wird dann noch besser. Unsere Vorstellung davon, wie unsere Leben, wie die Geschichte im allgemeinen verläuft, unterscheiden sich fundamental von allen anderen bekannten Kosmovisionen/Geschichtsphilosophien, und das ist, naja, war einer der zentralen Fortschritte der Moderne: die Möglichkeit, sich eine bessere Zukunft für Alle vorzustellen, und auch dementsprechend zu handeln.
Und dann macht die Scheißgeschichte halt plötzlich nen krassen U-turn, legt eine radikale 180-Grad-Wendung hin: bis vor ganz kurzem war es noch möglich, ohne allzuviel Verdrängung zu glauben, dass die Zukunft besser wird. Jetzt ist das nur noch möglich, wenn man total high ist (auf Meth, auf Hopium, doesn't matter, same difference), und genau deshalb war es natürlich so albern von mir, da auf einen “gesellschaftlichen Trauerprozess” zu setzen. Je fundamentaler die Frage, desto weniger gern wird sie behandelt, das wissen wir von unseren bad boyfriends.
Strategischer Rückzug?
Trotzdem. Egal, wie sehr wir es ignorieren wollen. Hier geht es nicht um Forderungen und Versprechen, die ignoriert werden können, hier geht es um einen materiellen Megaprozess (im Grunde: die Richtung und Stärke globaler sozioökonomischer Flows), der rational beobachtbar ist. Die Frage ist: wie gehen wohlhabende Gesellschaften damit um, wenn der lange verdrängte Kollaps da ist, wenn das undenkbare passiert ist, und Gesellschaft an einem bestimmten Ort tatsächlich kaputt ist, und alles (politische, kollektive, individuelle) “Prepping” nicht ausgereicht hat?
Diese Fragestellung ist eine Weiterführung der Gedanken zur “Katastrophe als strategischer Raum”, und kam mir in den Kopf, als ich im Zuge meiner Recherchen zur “solidarischen Kollapspolitik” während der Flutkatastrophe in Valencia über die Idee des “strategic withdrawal (Öffnet in neuem Fenster)” stolperte: ursprünglich ein militärischer, später ein marktstrategischer Begriff, bezeichnet er im Kontext der Klimakollapsdebatte den Prozess des Rückzugs menschlicher Siedlungen aus Gebieten, die in der Katastrophe nicht mehr ohne ständige Lebensgefahr bewohnbar sind, die nicht mehr versicherbar sind, wo also niemand mehr leben kann, nicht will.
Die Frage ist also: was passiert, wenn sich die fundamentale, die Grundrichtung gesellschaftlicher Entwicklung ändert, und wir uns nicht darauf vorbereitet haben? Meine These ist ja, dass eine Gesellschaft, die sich nicht auf den Kollas vorbereitet, dazu verdammt ist, ihn weiter zu verdrängen, und in dieser Verdrängung immer absurdere Formen von Dummheit, aber auch neue Formen von Exklusion, Brutalität und Unterdrückung produziert. Dass also auch hier, auch beim Thema “Klimaanpassung”, im Grunde die selben Dynamiken sichtbar sein werden, wie beim Thema “Klimaschutz”.
Als Gesellschaft haben wir mit dieser Frage im Nachgang der Ahrtalflut Bekanntschaft gemacht, als ganz kurz und wirklich sehr, sehr vorsichtig, die Frage diskutiert wurde, ob es unbedingt eine gute Idee sei, mitten in einem Flutgebiet teure Häuser direkt an der Flutschneise neu aufzubauen, wo wir doch alle wüssten, dass es für die Entwicklung von Flutkatastrophen nur eine Richtung gibt: immer mehr, immer größer, immer zerstörerischer (was übrigens auch zeigt: das eine, was auch im Kollaps noch die “Richtung der Moderne” zelebriert, ist die Katastrophe an sich). Natürlich erlebt und fragt man sich ähnliches in allen von schweren oder gar multiplen Extremwetterereignissen heimgesuchten Katastrophenregionen. Auch da stellt man sich die Frage, “what happened so as not to make the same mistakes again (Öffnet in neuem Fenster)”, und erleben meist, dass wir uns als Individuen und als Gesellschaft gegen das verwehren, was rational wäre: gegen den strategischen Rückzug aus Gebieten, deren weitere menschliche Besiedelung im eskalierenden Kollaps jeden Tag irrationaler wird.
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Real-existierende Reaktionen
Jenseits dieser offensichtlichen und erwartbaren Verdrängung ist aber, wie schon betont, die Umkehr des grundsätzlichen “Flows” der Moderne ein materieller Prozess, der zwar in seiner gesellschaftlichen Bedeutung ignoriert, dessen konkrete Folgen on the ground aber immer erstmal eine Realität darstellen, mit der zumindest die Bewohner*innen der Katastrophenregion umgehen müssen. Es sollte also möglich sein, ein paar grundsätzliche Muster zu erkennen, wie reiche Gesellschaften (die jetzt erstmal mein Vergleichsmaßstab sind, es geht ja um Handlungsmöglichkeiten für hier in D) auf Situationen reagieren, in denen sich sich eigentlich “zurückziehen” sollten, es aber nicht tun.
Geld: Die erste und für wohlhabende Gesellschaften offensichtliche Reaktion ist, mehr Geld in die Hand zu nehmen, und erstens in Katastrophenhilfeinstitutionen wie das Technische Hilfswerk THW, oder in den USA die Federal Emergency Administration FEMA zu stecken, zweitens und hauptsächlich in Förderprogramme für die betroffenen Regionen. Ökonomisch rational wäre es, Menschen Geld anzubieten, um anderswo ihre Leben so wieder aufzubauen, dass sie nächstes Jahr nicht gleich wieder flutgefährdet sind. Aber in einer Welt steigender Mieten in Städten und Grundstückspreisen in Nichtflutgebieten ist das mit der Umsiedelung dann doch nicht so leicht. “Dies (würde) den Druck auf die übrig bleibenden Gebiete erhöhen, sowohl was Wohnraum als auch was Arbeitsplätze und landwirtschaftliche Flächen angeht. Letztlich (entstünde) so ein neues Präkariat, ähnlich wie die 'Ausgebombten'. (Öffnet in neuem Fenster)” Aber die Erfahrung in den USA nach dem Doppelhurrikan Helene und Milton war folgende: “'Viele Städte seien schlichtweg 'geschockt'“, so dass sie danach anfangen, schnell wieder auf die gleiche Weise zu bauen, selbst wenn sie dadurch weiter der Flutgefahr ausgesetzt sind. Sie wollen so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren (Öffnet in neuem Fenster).'”
Diskurs: In der Schweiz, einem Land, das wegen seiner Location in einer volatilen Bergregion und der zeitlichen Nähe der agrarischen Gesellschaft ähnlich wie Schweden oder Finnland eine ausgeprägte Krisenbereitschaftspraxis hat, wird durchaus über “strategische Rückzüge” diskutiert. Im Weltspiegel (Öffnet in neuem Fenster) fragte kürzlich ein Bewohner eines von Gerölllawinen bedrohten schweizer Bergdorfs dies: “'Müssen wir ganze Alpendörfer aufgeben? Die Politik wird sich damit befassen müssen, die Gesellschaft als ganzes: wie viel ist uns das Berggebiet wert?'” Immerhin, hier verhängen Gemeinden durchaus rationale Nutzungsverbote, und das Land investiert viel in den Schutz vor Gerölllawinen. Ungewöhnlich für eine Verdrängungsgesellschaft findet hier eine gesellschaftliche Debatte statt: “werden wir Teile der Bergregionen aufgeben müssen?”
However: die Dorfgemeinschaften, die davon am meisten betroffen sind, wollen das natürlich nicht, obwohl wir – vgl. traditionelle Rationalitätsannahmen – ja davon ausgehen müssten, dass diese qua direkte Betroffenheit die rationalsten wären. Das beweist wieder: Klimabetroffenheit führt eben gerade nicht zu Klimarationalität: “Die Folgen des menschengemachten Treibhauseffektes spüren sie in Guttannen ganz konkret. Trotzdem scheitern Abstimmungen für mehr Klimaschutz oft.” Diese Debatte wird laufen wie die um die deutschen Kohlearbeitsplätze: manche werden sagen “Klimaanpassung”, die Bergdörfer werden Unmengen zu ihrer Rettung bekommen, und werden trotzdem aufgeben werden müssen.
Abandonment-by-desaster: Und weil wir als Gesellschaften weder das Thema “strategischer Rückzug” konfrontieren wollen, noch wirklich die Mittel haben (oder zumindest: aufbringen wollen), uns dem Druck der Klimakatastrophe zu widersetzen, bleibt am Ende natürlich nur das tatsächliche “abandonment”, aber dann halt nicht, um Begriffe aus der Degrowth-Debatte aufzunehmen, “by design”, sondern “by desaster”. „(Tenbury (Öffnet in neuem Fenster)) könnte das erste britische Stadtzentrum werden, das aufgrund von Überschwemmungen, die durch den Klimawandel noch verschärft werden, aufgegeben wird. Die meisten Menschen im Stadtzentrum können sich keine Versicherung leisten - die Prämien sind zu hoch, weil es so häufig zu Überschwemmungen kommt, hieß es. Unternehmen und Hausbesitzer haben sich darauf eingestellt, indem sie Steckdosen hoch oben anbringen, Dinge nicht auf dem Boden lagern und selbst behelfsmäßige Hochwasserschutzvorrichtungen bauen. (Aber die Gefahr ist klar:) 'Es wird eine Geisterstadt werden'.” Und da diese verlassenen Gegenden, diese Geisterstädte bei den Beobachter*innen ein Gefühl von Schuld auslösen, ist die Situation am Ende die: “Es ist, als wären wir auf einer Insel gestrandet, und alle haben uns vergessen.“
Was dann?
Bald gesellt sich Tenbury also zu den Teilen der Welt, in denen Menschen kürzlich gelebt haben, dies aber nicht mehr tun. “Seit den 1950er Jahren (Öffnet in neuem Fenster) haben sich weltweit bis zu 400 Millionen Hektar brachliegendes Land angesammelt - eine Fläche, die in etwa der Größe der Europäischen Union entspricht. Da die Klimakrise immer mehr Orte unbewohnbar macht - zu sehr von Überschwemmungen, Wasserknappheit und Waldbränden bedroht, um Häuser zu bauen, zu sehr von Bodenverschlechterung und Dürre betroffen, um Landwirtschaft zu betreiben -, ist mit weiteren Vertreibungen zu rechnen. Und was mit solchen “abandoned places” dann passiert, da gibt's wiederum ne ganze Literatur zu. Eine kleine Warnung vielleicht: die vor allem von Ökos gerne gehegte Annahme, dass “abandoned places” sich dann einfach selbst renaturieren und “re-wilden” ist weniger zutreffend, als viele von uns gerne glauben. Suffice it to say, dass wir nicht wirklich wissen, was bei “large scale abandonment” passieren würde, weil dies ein blinder, vielmehr, ein verdrängter Fleck unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung ist. “We talk about expansion, which is important. But there’s this other side – abandonment – that people don’t really talk about (Öffnet in neuem Fenster).”
Und wehe, ich sage Euch: weil es im Sinne einer räumlichen Metapher besser die Umkehrung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses beschreibt, von upwards and onwards zu back to basics, als irgendein abstraker klimapolitischer Politikvorschlag, den wir dann ignorieren können, wird dieses Thema fett werden. Der notwendige aber unterlassene Prozess des strategischen Rückzugs wird nach der verdrängten Kollapsakzeptanz die nächste wichtige Front der Verdrängungsgesellschaft.
Mit mittlerweile ziemlich jahresendmüden Grüßen,
Euer Tadzio