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Weltendschmerz, oder: wer ist eigentlich schuld am Faschismus?

Source: ideogram.ai (Öffnet in neuem Fenster); prompt: “Weltendschmerz”

08/05/2025



Liebe Leute,

in all der Aufregung am Dienstag, irgendwann zwischen dem ersten und dem zweiten Kanzlerwahlgang, wurde mir ob der zunehmenden “Unregierbarkeit” des Landes mal wieder klar: ich halte es mittlerweile für kaum noch verhinderbar, dass der Faschismus auch in Deutschland wieder an die Macht kommt, mindestens für eine (eventuell kurze) Legislaturperiode, eventuell natürlich auch länger. Weil der Aufstieg des Faschismus in den reichen, in den privilegierten, mithin in den fundamental auf Ausbeutung und Diebstahl beruhenden Externalisierungs- und Verdrängungsgesellschaften des globalen Nordens eben gerade nicht das unterdeterminierte Resultat dieser oder jener parteipolitischen Fehlentscheidung, oder dieser oder jener vergänglichen „Krise“ ist: er ist das strukturell überdeterminierte Resultat, erstens, der Tatsache, dass es in einer materiell schrumpfenden Welt (in einer Welt, in der mehrere planetare Grenzen bereits überschritten worden sind) immer mehr immer brutalere Konflikte um existierende Privilegen geben wird, und diese Konflikte sich besser, leichter mit einem arschlochigen-bis-faschistischen mindset führen lassen, als mit den Werten einer scheinhumanistischen Verdrängungsgesellschaft; und zweitens dessen, was ich in Anlehnung an den romantischen „Weltschmerz (Öffnet in neuem Fenster)“ angefangen habe, unseren Weltendschmerz zu nennen, ein Gefühl, das ich (vgl. Marxens Kategorie des „Gattungswesens“) für den zentralen Gattungsaffekt im globalen Kollaps halte.

Just to be clear: ich sage nicht, dass der Faschismus in Deutschland notwendigerweise an der Macht bleiben wird, denn wie die USA gerade beweisen, haben die Faschos ja auch keine Lösungen für die Probleme, die sie immer auf „die Ausländer“ schieben. Und obwohl das faschistische Wahlvolk sich natürlich nicht besonders um die Realität schert, schert es sich doch durchaus um seinen Geldbeutel. Ich sage aber, dass die AfD in den nächsten Jahren an die Macht kommen wird, und ich sage, dass auf dem Weg dahin zwar viele nichtfaschistische Akteure viele Fehler machen, manche die Faschisierung sogar aktiv vorantreiben werden, dass aber am Ende keiner von ihnen die eigentliche „Schuld“ am Wiederaufstieg des Faschismus tragen wird. Eine Situation, die wir bereits aus der Klimakatastrophe kennen, und die eine rationale Problembearbeitung nicht gerade wahrscheinlicher macht.

So let's take this step by step...


Wer ist schuld...?

Im Kontext des merz'schen Wahldebakels war sie wieder weithin zu bewundern, jene politische Paradedisziplin (Öffnet in neuem Fenster): das oft immer lächerlichere Zuweisen von Schuld an Akteure, die unmöglich das Problem verursacht haben können, sich aber dafür eignen, Sandsäcke, Blitzableiter für unsere Frustrationen zu sein. Union und SPD verkacken die eigene Fraktionsdisziplin, 18 Stimmen aus beiden Fraktionen fehlen Fritze am Ende? Naja, dann waren ja auf jeden Fall erstmal nicht Union oder SPD und ihre Großkopferten Schuld (nach so nem Debakel sollten Fraktionsvorsitzende eigentlich erstmal ins Schwert fallen, denn die sind ja die Manager der Fraktion), sondern, so wurde in den sozialen Medien zeitweise diskutiert, die Grünen und die Linken, die nicht für Merz gestimmt hatten. Auch am nächsten Tag geht die Debatte weiter, prominent in einem Text von Jonas Schaible für den Spiegel, der proklamiert: “Die Suche nach Schuldigen muss ganz oben beginnen (Öffnet in neuem Fenster).”

Ich hatte es ja schon länger vorhergesagt: in der Polykrise, in der politische Probleme im Schnitt immer unlösbarer werden, besteht Politik immer weniger aus Versuchen, die nunmehr unlösbaren Probleme zu lösen, sondern darin, auf eine politisch produktive Art und Weise die Schuld für das Problem einem Akteur zuzuweisen, der dann als Sündenbock fungieren darf. Das ist dann win-win-lose, also netto ziemlich gut. Denn die Schuldzuweisung löst zwar das eigentliche Problem nicht, führt aber dazu, dass die schuldzuweisende Person sich nicht schlecht fühlen muss, ihre Hände, um das alte Bild zu verwenden, in Unschuld waschen kann. Und “sich nicht schuldig fühlen müssen” ist im Kollaps der größte anzunehmende politische Erfolg. It's all that's left.

Was aber, wenn Schlechtes passiert, aber niemand wirklich, in der letzten Instanz daran schuld ist? Dann haben wir ein Problem, denn wir können die Schuld dafür niemandem zuweisen, was eine Art emotionaler Unfähigkeit der Auseinandersetzung mit dem Problem zu produzieren scheint. Im Umkehrschluss sind es gerade die Probleme, für die es keine klaren und offensichtlichen “Schuldigen” gibt, die uns am meisten fertig machen, denn die Kreuzigung eines oder einer Schuldigen ist immer noch die einfachere und meistens sehr viel befriedigendere Art und Weise der Problemlösung, als die tatsächliche Problemlösung, die vor allem bei den in der Polykrise immer häufiger auftretenden wicked problems (Öffnet in neuem Fenster)ziemlich anspruchsvoll bis eben, wie gesagt, unmöglich sein kann.

...am Aufstieg des Faschismus?

Zum Beispiel der Aufstieg des Faschismus. Ihr kennt vermutlich die ungefähren Umrisse der Debatte: auf der einen Seite die gesellschaftliche Rechte, von moderat bis radikal, die der Meinung ist, dass es die Nichtbearbeitung der (mehr oder minder legitimen) Sorgen und Ängste “einfacher Deutscher” ist, die zum Aufstieg des Faschismus führt, das, und natürlich die brutale Wokismus-Diktatur, die Merkel und die Ampel dem Land aufgedrückt haben. Abgesehen davon, dass es natürlich keine “woke Diktatur” gibt, ist das ein durchaus nachvollziehbares Argument: soziale Bewegungen, auch rechte, entstehen dort, wo der Eindruck entsteht, dass ein politisches System eine gesellschaftliche Problematik nicht bearbeitet – ob diese “real” oder “imaginiert” ist, spielt dabei erstmal keine Rolle. Auf der anderen Seite die gesellschaftliche Linke (never mind “die Mitte”, die eiert nur ideenlos herum), die, bewaffnet mit soliden sozialwissenschaftlichen Studien, immer wieder darauf verweist, dass das Übernehmen rechtsradikaler talking points, eben die Bearbeitung der auf rechts gefühlten Probleme (zum Beispiel: “Es gibt zu viele Ausländer im Land!”) nicht dazu führt, die harte Rechte kleinzuhalten, oder sie in Merzens Formulierung “zu halbieren”, sondern dazu, dass die Rechte weiter an Macht und Einfluss gewinnt. Auch ich schrieb letztes Jahr so einen Text: “rechte Politik stärkt rechte Parteien (Öffnet in neuem Fenster)”.

Diese beiden Positionen scheinen erstmal gegensätzlich zu sein, aber sie haben eines gemeinsam: beide verorten die Ursache für den Aufstieg des Faschismus in den Dynamiken der Parteienkonkurrenz, beide argumentieren, dass jeweils “die andere Seite schuld sei”, beide glauben, dass sie im Grunde alles richtig gemacht haben. Was aber, wenn genau das Gegenteil stimmt, wenn weder die eine, noch die andere Seite am Faschismusproblem schuld ist? Wenn beide auf keinen Fall alles richtig, sondern richtig viel falsch gemacht haben, diese Fehler aber nicht hinreichend kausal relevant waren, dass wir sie als zentrale Treiber des Aufstiegs des Faschismus benennen können? Was, wenn der Aufstieg des Faschismus von Faktoren unter- und außerhalb unserer direkten Kontrolle getrieben wird? Dann haben wir, wie angedeutet, ein Problem, denn dann ist dieser Aufstieg durch die Mittel der Parteienkonkurrenz eben gerade nicht wirklich zu stoppen, dann ist er strukturell überdeterminiert, und wird sehr wahrscheinlich vorerst weitergehen, relativ unabhängig davon, wie gut oder schlecht die neue Koalition regiert. Denn während es zwar stimmt, dass “rechte Themen aufgreifen” die Rechten stärkt, stimmt es leider auch, dass rechte Themen zu ignorieren diese im Schnitt nicht gerade schwächt. Es ist hier schon wieder ein bisschen so, wie mit dem Klima: natürlich machen rechte oder linke Regierung unterschiedliche Klima- und Energiepolitik. Aber weil das Ausmaß der Klimazerstörung durch ein Land eher vom Wirtschaftswachstum, als von einzelnen Policies abhängt, ist es am Ende fürs Klima auch egal, ob von links oder von rechts Wachstum gefördert wird: either way, die Klimakatastrophe wird weiter vorangetrieben.

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Weltendschmerz

Und wie bei der Klimakatastrophe kommen die Begierden, die flows, die den neuen Faschismus antreiben, “von unten”, von der gesellschaftlichen Basis, im Schnitt also von uns allen. Ich meine das nicht im schuldhaften Sinne, sondern im Verorten kausaler Relevanz.

Das Argument von der Faschisierung zur besseren Verteidigung unserer Privilegien habe ich im Kontext der Analyse und Kritik der Arschlochgesellschaft (Öffnet in neuem Fenster)bereits aufgeschrieben. Hier würde ich gerne weiter über die Idee des Weltendschmerz nachdenken, die ich während der Beantwortung der Frage: “Glaubst Du wirklich, die Rechten schämen sich dafür, dass die Welt gerade kaputt geht? (Öffnet in neuem Fenster)” entwickelte: ich bin überzeugt davon, dass die Tatsache, dass wir diesmal nicht nur die Welten Anderer zerstören, sondern diesmal auch unsere eigene, und noch mehr die unserer Kinder, ein unglaublich wuchtiges Schuldgefühl produziert, nicht nur bei irgendwelchen linksgrünwoken Veganerhippies, sondern bei allen Menschen, die sich dieser Tatsache bewusst sind, und sie deshalb verdrängen, ebenso bei denen, die sich schon in die Arschlochisierung gerettet haben, denn diese ist ja gerade deshalb attraktiv, weil sie sagt: “hey, Du musst Dich ob des Endes der Welt nicht schlecht fühlen – entweder ist es egal, oder es war nicht Deine Schuld, sondern die der Woken/Queers/trans/Ausländer/Frauen/etcs...”

Nochmal zurück zum Weltschmerz (Öffnet in neuem Fenster), nach Jean Paul “ein Gefühl der Trauer und schmerzhaft empfundener Melancholie, das jemand über seine eigene Unzulänglichkeit empfindet, die zugleich Teil der Unzulänglichkeit der Welt, der bestehenden Verhältnisse ist.” Eine schmerzhaft empfundene Melancholie ob der eigenen Unzulänglichkeit... und was ist schmerzhafter, als die Unzulänglichkeit, die ob der eigenen Rolle in der Zerstörung zuerst unzähliger anderer Welten (Kolonialismus, Imperialismus ff.) und nun der eigenen Welt gefühlt wird? Wie kann die Welt noch “unzulänglicher” sein, als in dem Moment, in dem sie Kipppunkt für Kipppunkt aufhört, für uns bewohnbar (“liveable”) zu sein?

Jede rationale, jede realitätsbasierte Betrachtung der Welt muss diesen Affekt zumindest teilweise auslösen, und unsere Rolle in der Zerstörung der Welt (mag sie auch noch so klein sein, war sie doch zumindest meist unwidersprochen, wir wissen ja spätestens sei übert 50 Jahren, seit dem Club of Rome, dass das mit dem unendlichen Wachstum auf einem endlichen Planeten immer schon magisches Denken war) macht ihn noch schlimmer: hätte ich etwas anderes tun/machen/wählen sollen? Jede Person, die sich schon einmal mit einer traumatischen Erfahrung auseinandergesetzt hat, weiß, wie wahnsinnig unangenehm solche Fragen sind, wie gerne mensch die vermeiden würde.

Und genau das ist das Angebot, das der neue Faschismus macht: “Du siehst, wie die Welt abbrennt, und das stresst Dich? Wähl die AfD, dann musst Du Dich nicht mehr stressen. Wir erklären Dir, dass die Welt gar nicht kaputt geht, und Du wirst Dich gaslighten lassen, weil Du es so willst, Du willst Dir einreden lassen, dass Deine eigene Wahrnehmung, dass Deine Ängste und Sorgen gar nicht so groß sind. Und die, die wir Dir nicht ausreden können? Die schüren wir und projizieren sie auf einen Sündenbock, auf den Du dann wie auf ne Piñata draufhauen kannst, bis die Süßigkeiten rauspurzeln. Die Welt endet einerseits nicht, andererseits bist Du nicht dran Schuld, dass sie endet, und letztens ist das Ende der Welt auch gar nicht so schlecht, weil das dann der Tag X / die rapture / das jüngste Gericht ist, und Du weißt, wie Faschos haben mehr Waffen und Geld, als die Anderen.” (Bezeichnenderweise ist das auch die Struktur einer durchschnittlichen Trump-Ausrede: “It didn't happen, and if it happened, I didn't do it, and whaddya know, if it's happening, maybe it's not such a bad thing.”) So gesehen ist niemand als solcher “schuld” am Faschismus, denn der Faschismus ist selbst ein Modus der Schuldverarbeitung.

Je mehr Weltendschmerz, desto mehr Faschismus

Je mehr kaputte Welt, desto mehr Weltendschmerz, desto mehr Interesse an einer politischen Erzählung und Praxis, die dazu führt, dass mensch diesen Schmerz nicht fühlen muss. Oder konkreter: in einer Situation, in der immer mehr Katastrophen zu immer mehr Kriegen und immer mehr Migrationsbewegungen führen, hat auch die “Mitte” in den reichen Ländern ein erhebliches Interesse daran, immer mehr von diesen Migrant*innen nicht in die reichen Länder zu lassen – nicht nur wegen der gefühlten Konkurrenz um Ressourcen, sondern, weil wir die Migrant*innen als Verkörperung unseres schlechten Gewissen (Öffnet in neuem Fenster)s wahrnehmen: “Gelegentlich nimmt diese Schuld sogar konkrete Form an, in der Form der 'ökonomischen Migrantin', die also nicht aus 'legitimen', 'politischen' Fluchtgründen in den liberalreichen Norden flüchtet, sondern aus niederen, ökonomischen Beweggründen, wie dem Wunsch, überleben zu wollen.” Je mehr wir Menschen aber von der Chance des Überlebens ausschließen wollen, desto attraktiver wird es, diese Menschen ideologisch abzuwerten, sie zu entmenschlichen, weil das die ganze “lasst uns mal das Mittelmeer militärisch absichern”-Zukunft viel leichter begründbar macht. Je mehr Katastrophe, desto mehr Migration, desto mehr Entmenschlichung und Verrohung im globalen Norden, um diese leichter abwehren zu können (“Oma, warum hast Du so widerliche faschistische Werte?” “Damit ich besser im Mittelmehr die Leute erschießen lassen kann!”.

Je mehr sichtbare Zerstörung der Welt, desto mehr Weltendschmerz, desto attraktiver das faschistische Angebot, auf die sichtbare Welt zu scheißen, sich einfach eine zu imaginieren, in der man sich dann nie, nie mehr schlecht fühlen muss, weil man immer recht hat, und alles darf. In einer kollabierenden Welt sind es diese Dynamiken, die den Faschismus antreiben. Deswegen wird er zunächst einmal auch an die Macht kommen: denn er verspricht im Grunde das, was ein guter Drogenrausch verspricht: totales Entschämen, und totales Vergessen (“oblivion”). Und das ist natürlich sehr viel angenehmer, als die einzig andere realistische Option: Akzeptanz und Verantwortungsübernahme.

“Urgh. Klingt anstrengend”, denkt sich die Verdrängungsgesellschaft. “Dann doch lieber Arschlochisierung und Faschismus.”

Mit weltendschmerzenden Grüßen,

Euer Tadzio

Kategorie Arschlochgesellschaft

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