»Keine Kleider machen Leute«
»Es ist erst kurz vor zehn. Auch wenn die Bauarbeiter aus dem Oderbruch schon »Mahlzeit« sagen. Es hat nur zwei Dekaden Zeit gebraucht, bis sie mich grüßen. Dabei kommen jedes Frühjahr neue. Im Oderbruch trägt man wohl weiter, wen von den Anwohnern man grüßen kann. Seit diesem Jahr gehöre ich dazu. Mit etwas Glück, wenn ich mir nichts darauf einbilde, bleibt es auch dabei.
Die Nachbarschaft sieht noch verschlafen aus. An unserem Straßenende geht nicht viel. Nur vor dem Wettbüro fegt einer Zigarettenstummel in den Rinnstein. Berlin, das Funktionale, fängt erst an der nächsten Kreuzung an. Hier wohnen Kleinunternehmer und Klienten. Beides Euphemismen. Aber mit jeder Semesterschmelze steigt der Pegel und langsam kommt die Waterkant aus Co-Working und Kernsaniert zu uns hinaufgeschwappt.
Die letzte Welle spülte Dennis in den Kiez. Er strahlt mir ins Gesicht. »Dieser Kiez!«, sagt er. »Der. Macht. Mich. Fertig.« Das sagt Dennis gern. Er sagt es nicht, wie ich es sagen würde. Dass wir aus derselben Kreisstadt zugezogen sind, mit 20 Jahren Abstand zueinander, in die Diaspora, dass wir in der gleichen Straße wohnen, im gleichen Haus, im gleichen Stock, ganz zufällig, für ihn macht mich das vorbestimmt oder vertrauenswürdig. Noch bin ich unentschlossen, ob er irrt.
Wir sitzen in seiner Loggia und schauen auf die Nachbarschaft. Seit einer Stunde laufe ein nackter Mann die Straße auf und ab, und brülle in einer Tour: »What time is it? WHAT TIME IS IT?«. Das müsse man gesehen haben. Vielleicht brüllt er, weil ihm niemand antwortet. Es ist Brückentag. Alle sind sie weggefahren. Unter den New-Balance-Schuhen liegt der Strand. Nur an der Ecke sitzen zwei. Ein junges Paar. Ich tippe auf Franzosen. »Portugiesen!«, sagt Dennis. »Es klingt wie Ungarisch! Und wenn es klingt wie Ungarisch, dann sind es Portugiesen.« Acht Wochen in Berlin und schon ein Master in Tourismuswissenschaften.
Das Paar sitzt auf einem Sperrmüllsofa. Das Sofa steht schon länger hier, als Dennis wohnt. Jedem der sporadischen Passanten sieht man Ekel an. Und den Gedanken: »Wenn die wüssten.« Er hat seinen Kopf auf ihre Beine gelegt und gießt sich Sternburg in den Mund. Sie streichelt seine Stirn und liest ihm vor. Tragend und mit strenger Stimme. Wie die Poesie eines Soldatenkönigs. Die Sonne überkippt das Paar mit Licht. Es hat was von Theater. Dann erkennen wir den Text. Sie liest aus einem Bücherkistenbuch von Ottolenghi. Rezepte. »Wahnsinn!«, flüstert Dennis. »Dieser Kiez! Der. Macht. Mich. Fertig.« Er hat das Kinn auf die Balkonbrüstung gelegt. Ich denke an die alte Kulke, die 40 Jahre lang an dieser Brüstung klebte, um sich zu verrauchen. »Wenn er wüsste.«
»Da kommt er!«, ruft Dennis. Er löst das Kinn vom Blech der Brüstung. Man hört ihn schon, dann sieht man ihn. Kleider machen Leute. Keine Kleider auch. »Da!«, ruft Dennis. Er habe mitgezählt. Zum fünften Mal laufe der nackte Mann die Straße lang: »What time is it? WHAT TIME IS IT?« Dennis steht auf. Steht wie die Kulke an der Brüstung. Gafft hinunter. Ich nenne das Provinzblick. Fast hat der Nackte uns erreicht. Da kommt ein Streifenwagen um die Ecke, rollt im Schritttempo vorbei, lässt das Fenster runter und ohne rauszuschauen ruft eine Polizistin: »IT'S VIERZEHN UHR!« Der nackte Mann steht stramm, salutiert, macht auf dem Absatz kehrt und geht geschäftig fort. Dennis lacht. »Dieser Kiez!«, sagt er. »Der. Macht. Mich. Fertig.« Er sagt es nicht, wie ich es sagen würde. Mich macht er anders fertig. »Mahlzeit«, ruft ein Bauarbeiter aus dem Oderbruch. »Mahlzeit«, ruft Dennis zurück. Es ist nicht 14 Uhr.«
Herzlich willkommen zur zehnten Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer …
»… , dass ich mir das Rauschen angewöhnt habe. Immer muss es rauschen. Ich stehe auf – schon falsch – ich wache auf und widme mich im Liegen der Berieselung. Lasse es mir Slide um Slide in meine Birne rauschen. Als hätte mir der Nachtschlaf eine gierige Ebbe in den Kopf gelegt. Jetzt rauscht es wieder rein. Wie in ein Vakuum. Zwei Ventile statt der Pupillen, wo zischend was hineingeht. Wenn die Slides verebbt sind, wird es Reel. Dann geht es auf die Ohren. Für alles einen Podcast. Zum Frühstück. Zu den ersten Mails. Wenn die Arbeit echtes Augenmerk verlangt, dann halt Musik. Zum Mittagessen wieder Optisches. Rick & Morty. Pickle Rick. Schon wieder. Hätte ich den Mund nicht voll, ich könnte mitsprechen. Nach dem Essen Nickerchen mit Reels. Nettonickerzeit ist schwer zu sagen. Am Nachmittag ein bisschen Steuer machen bei Hack und Zeit Verbrechen. Pause. Slides. Einmal habe ich aus reiner Not heraus auch Lanz & Precht gehört. Feierabendbier mit A und S im Brüsseler Eck. Stereo. Stillwerden im Gespräch der anderen. Privatpodcast. Dreiviertelbier sind rum und noch kein Wort gesagt. Was reimt sich noch auf Lauschen? Richtig! Nächstes Mal zu zweit. Der Zwang zum Zwiegespräch. Nächstes Mal, versprochen. Erst Bier wegbringen. Auf dem Klo kurz eine Sprachnachricht. Noch eine. Noch eine. Toilettenzeiten sichtbar machen. Toilettenzeit summieren. Ab zehn kein blaues Licht mehr. Kein Bildschirm. Zum Runterkommen Kopfhörer. Weißes Rauschen. Einschlafen. Wälzen. Aufwachen um kurz nach zwei. Sich wundern, wo das Handy in der Hand herkommt. Ach, wenn es schon hier liegt, dabb kurz die Slides aus Übersee. Halb sechs. Ich wache auf. Schon falsch. Ich rausche aus dem Schlaf.«
#2 / Toujours la tristesse
Kiosk an der Müllerstrasse:
»Guten Morgen. Haben Sie die Süddeutsche?«
»Süddeutsche geht nur bis Mitte.«
»Wie bitte?«
»Süddeutsche geht nur bis Mitte. Und Mitte geht bis Schwartzkopffstraße.«
»Verkauft die sich hier nicht?«
»Wo?«
»Im Wedding.«
»Wat denken Sie denn?«
»Und warum nicht?«
»Weil keen Sternburg drin ist'.«
#3 / Feine Ablese
Angelesen: Vatermal (Öffnet in neuem Fenster) von Necati Öziri
Seit seiner Lesung beim Bachmann-Wettbewerb habe ich mich ein bisschen ferngehalten von Necati Öziri. Weil ich nicht gespoilert werden wollte. Von ihm selbst vielleicht, seinem anbrechenden Erfolg als Autor und dem, was die Lesung in Klagenfurt schon ab Minute eins überdeutlich prophezeite: die Kraft dieses großartigen Buches, was da zu erwarten war. Seit gestern liegt es hier, und ich sag’ jetzt was, auch wenn ich erst 60 Seiten drin bin: Bücher wie »Vatermal« machen dieses komische Land ’ne ganze Ecke besser.
Ausgelesen: Windstärke 17 (Öffnet in neuem Fenster) von Caroline Wahl
Mir erschließt sich die Begeisterung total. Schon damals bei »22 Bahnen«. Sprache auf dem Höhepunkt des Zeitgeistes. So geschliffen und realistisch geschrieben, dass man es ohne Probleme in den Schulkanon aufnehmen könnte. Mir fallen aber auch Komplimente dazu ein, die vielschichtiger sind: »bekömmlich« zum Beispiel . Die Leser:innen bekommen genau das geliefert, was sie sich erhofft haben. Das ist per se nichts Schlechtes. Ein Bestseller ist ein Fluch. Aber was man auch erwähnen könnte: Zwei Bestseller dagegen, die sind ein Segen. Möge sich Caroline Wahl bei Fallwickl oder Strunk angucken, was wiederkehrender Erfolg bedeuten kann: Das große Privileg, die Freiheit, sich literarisch auch mal in eine unbequeme Richtung zu entwickeln.
Abgelesen: 25 letzte Sommer (Öffnet in neuem Fenster) von Stephan Schäfer
Ich hätte ja wirklich gerne eine Was-Wäre-Wenn-Maschine zu Hause. Schön ein paar Parameter eintippen und sich in Ruhe anschauen, wie die Wirklichkeit sich ändert. Was wäre wenn. Vorher, nachher. Vorher, nachher. Was wäre gewesen, wenn meine Eltern ihre polnische Heimat nicht verlassen hätten? Was wäre gewesen, wenn Deutschland gegen Spanien gewonnen hätte? Was wäre gewesen, wenn der Autor von »25 letzte Sommer« vor seiner Autorenkarriere nicht zufällig schon Chef von Gruner + Jahr, RTL und RTL+ gewesen wäre? Meine Hypothese zu allen drei Szenarien: Nicht besonders viel wahrscheinlich.
#4/ Wenn der Berg nicht zum Paul kommt
Ich spür’ ja schon wieder, wie der Lektor grantig wird, sobald ich hier zu viele Termine reinpacke. Deshalb brav am Manuskript verharren und nur einen Gig rausballern. Immerhin einen exotischen:
10.07. / BERLIN / Humorlesung
Alle Termine, alle Infos gibt es nach der Winterpause unter: paulbokowski.de (Öffnet in neuem Fenster)
#5 / Das letzte von der Rolle
Auch beim besten Wiegenfeste,
Sei’s bei Sekt oder Kebab.
Feiert man der Leben Reste,
Die man noch zu leben hat.
Warum bin dann ich der Buhmann?
An den Kindertisch verbannt!
Weil ich beim Kartoffelschnitzen
Die Vergänglichkeit benannt?
Scheiß auf Spaß in bunten Lettern.
Mein Geschenk ist der Genuss,
Der aus der Erkenntnis sprießet:
Wir sind sterblich! Bald ist Schluss!
#6 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit.
#7 / Nachklang
🔊 🔊 Squeeze mit »Up the Junction« 🔊 🔊
https://open.spotify.com/intl-de/track/1zU0kAJdEPyRs4x5gkQQER?si=af81c8d959cf4f98 (Öffnet in neuem Fenster)