»Liegen lassen lernen«
»Option eins: Ausrasten. Erstmal richtig ausrasten. Kevin-McCallistermäßig ausrasten. Mit wedelnden Armen schreiend durch die Wohnung rennen. Durch den langen Flur. Wenn es einen gibt. Gab es einen? War da einer? Weißt du gerade nicht. Aber panisch sein. Panisch werden. Bist du nur leider nicht der Typ für. Nie gewesen. Diese Form der Übertragung. Stress in Energie. Kinetik. Heißt das so? Von innen nach außen. Quasi Puls in Panik. Deswegen hat Bea immerzu behauptet, du wärest auf dem Spektrum. Weil sie nie die gleiche Art an Panik an dir sehen konnte, die sie an sich selbst gesehen hat. Fand sie komisch. Richtig komisch. Komisch, wie seltsam. Immer dieses Ruhig Sein an dir. Und dieses Ruhig Bleiben. Weil sie sich immer eingebildet hat, keine Panik, das hieße auch kein Puls. Aber das stimmt halt nicht. Eingebildet. Was für ein Arschlochwort. Puls hattest du schon immer. Puls hast du auch jetzt. Puls hast du gerade richtig. Und zwar wie. Wie für zwei. Wie für dich und ihn. Scheißescheißescheiße. Du hast hier gerade Puls für zwei. Musst du auch. Weil einer muss ja. Und er, der Typ neben dir, der von gestern Nacht, der hat halt keinen mehr. Fuck. Lustiger Gedanke. Vermeiden. Unbedingt vermeiden. Wie heißt das? Pieta oder Pietät? Kommst du immer durcheinander mit. Stimmt halt leider. Das mit lustig. Schluss damit! Unmenschlich sei das, hat Bea immer gesagt. Da musst du aber sagen: war auch unmenschlich an ihr. Dass sie zwar immer gleich in Panik geraten ist, aber nie in Übersprung. Dass sie für deinen Übersprungshumor nichts über hatte. Schon gar nicht viel Verständnis. Panik ist Pöbel, denkst du. Kann doch jeder. Mensch, wie Tier, egal. Aber Übersprung, da bist du dir nicht sicher, ob das Hamster wirklich können. Wieso Hamster? Nur ein Beispiel. Oder Hühner oder Habichte. Komm, noch ein Tier mit H, denkst du. Hornisse. Insekten zählen nicht, würde Bea sagen. Dann eben Hund und Humboldtpinguin. Fische gehen auch. Hecht und Hai und Heilbutt. Das ist auch Übersprung. Das siehst du sofort. So viel Selbstwahrnehmung geht immer. Trotz Puls. Trotz ihm hier. Wie er da liegt. Wie tot. Na ja. Nicht wie. Sondern tot. Zehn Prozent, die können immer raus aus dir und von oben rauf schauen. Auf ihn und dich und wie du dich verhältst. Draufschauen. Das ging schon immer. Ganz egal, ob Puls oder Panik. Zehn Prozent, die von außen auf dich draufschauen und die sehen: Dass dir jetzt so eine pietätlose Pointe einfallen will und dass du ausgerechnet jetzt Tiere zählen musst. Tiere mit H. Das! Das ist Übersprung in Reinform!
Option zwei: Abhauen. Warte, würde Bea sagen. Lass erst mal Anamnese machen. Heißt das so? Natürlich heißt das so. Das weißt du. Anamnese. Anamnese wie Anabolika. Nicht wie Amalgam. Aber passt das auch? Oder macht man Anamnese nur bei Lebenden? Dann eben Leichenschau. Boah, ekelhaft. Wieder so eine Pointe. Lass mal später eklig sein. Lass lieber Analyse machen. Bingo. Analyse. So heißt das. Stichprobe. Mal mit der flachen Hand wohin fassen. Ist doch egal, wohin. Nur für alle Fälle. Also echt jetzt: Nur für alle Fälle. Sieht man schon ganz deutlich, dass er tot ist. Sieht man an der grauen Haut und weil sich nichts bewegt. Weil sich gar nichts nicht bewegt. Nicht doppelte Verneinung. Sondern zweimal nichts. Überhaupt nichts. Andererseits: Gesoffen gestern. Bisschen Ketamin, echt wenig. Versprochen, Bea! Aber warmer Gin zum Schluss, dann er, sein halbes Bier und plötzlich diese Flasche Sekt im Taxi und dann irgendwo Kreuzkölln. Noch halbe Stunde lang gerammelt wie bekloppt, beide nicht gekommen, wie auch mit dem Keta-Gin, und dir von ihm noch Melasan oder so Zeug zum Schlafen geben lassen. Ach Quatsch. Melatonin. Und deshalb nur für alle Fälle anfassen. Nochmal anfassen. Weil, vielleicht ist er gar nicht blass und grau, nur deine Stäbchen oder Zäpfchen sind am Arsch. Wegen Keta-Gin. Welche machen bunt im Auge? Stäbchen oder Zäpfchen? Scheißegal. Also schnell die Hand zum Nacken. Kalt. Nochmal weiter unten. Näher an der Brust. Am Herzen. Wo noch eine Decke drüber ist. Garprobe. Halt dein Maul Kopfübersprung, denkst du! Eiskalt. Zurück zu Option zwei: Abhauen. Geht nicht, würde Bea sagen. Scheißescheiße, geht nicht. Unmenschlich wäre das, sagt Bea, denkst du. Wie sieht das aus? So, mir nichts, dir nichts aus der Bude latschen. Die Nachbarschaft, ein Glücksspiel. Wo in Kreuzkölln seid ihr. Seid ihr ist eigentlich schon falsch. Bist du in Kreuz oder in Kölln? Fünfzig, fünfzig. Entweder stehen Kifferkids im Hof, die keinem ins Gesicht schauen, oder im Treppenhaus, da steht das Gegenteil: Einer aus Tübingen mit Westpension und Zweitwohnsitz und merkt sich deine Fresse bis ans Lebensende. Du hörst tagein, tagaus so Crimescheiß. Wo Leute schon für weitaus weniger im Knast landen. Einfach gehen! Wie sieht das aus? Verdächtig. Unmenschlich und total verdächtig, würde Bea sagen.
Option drei: Scheiß auf die Optionen. Lass lieber runterkommen. Einfach runterkommen. Lass langsam denken. Lass langsamer denken. Lass noch langsamer denken. Sich im Kopf behutsam dazu zwingen, lange Sätze zu bilden. So ist gut! Lass Sätze bauen, die peu à peu ein bisschen länger werden. Mehr Füllwörter und Silben und ruhig mal was wie peu à peu benutzen. Vielleicht mal was mit einem Nebensatz, würde Bea sagen. Du solltest einen Satz mit Nebensatz versuchen, der sich selbst die Zeit nimmt, zwischen den Schläfen rechts und links ein wenig nachzuklingen. War das einer? Scheißegal. Der Kasus macht dich lachen. Lass den Kopf über den Körper fahren. Lass über den Satzbau alles rhythmisieren, auch deine Atmung. Jetzt geht die Luft zum Rachen rein und zu beiden Nüstern wieder raus. Du sagst das so, auch wenn dir klar ist, dass Menschen keine Nüstern haben, sondern Nasenlöcher. Jetzt haben die Semester Germanistik sich bezahlt gemacht. Damit dein Puls zur Ruhe kommt. Jetzt merkst du die Bedürfnisse. Jetzt merkst du endlich, dass dir übel ist und kalt und dir vor Puls die Ohren klingeln und du zu gleichen Teilen diesen Drang verspürst: Wasser trinken, Wasser lassen. Und du machst über dem Ohr eine hohle Hand. Über dem anderen auch. Wie über deinen Augen, wenn du Aura hast. Und du stellst dir vor, dass ein weicher Ball aus Medizin in deinen Händen liegt. So weich und sanft, fast eine Salbe. Noch luftiger. Und langsam drückst du diesen weichen Ball hinein in deine Ohren. Das hat Bea dir gezeigt. Du weißt, dass es bescheuert ist. Aber du weißt auch, dass es manchmal hilft. Und behutsam drückst du diesen Ball hinein, zu beiden Seiten, bis deine Hände flach auf deinen Ohren liegen. Bis alles dumpf und still geworden ist. Und endlich merkst du, dass dir nicht die Ohren klingeln. Plötzlich seid ihr drei, die hier in diesem Zimmer liegen. Du, ein Toter und sein Telefon. Nur Esel nennen sich zuerst. Das denkst du noch. Und du fragst dich, wie lange nach dem Tod das mit dem Esel gilt. Dann springst du auf und fängst im Knäuel aus Klamotten an zu suchen.«
Herzlich willkommen zur neunten Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer …
… , dass man beim Statistischen Bundesamt mal nach Korrelationen schauen sollte zwischen Psychoanalysezahlen meiner Generation und den Ausstrahlungsterminen von Alfred Jodocus Kwak. Was haben wir das als Kinder weggesuchtet! Minderjährige Ente verliert bei ungesühntem Verkehrsunfall Eltern und Geschwister und muss fortan nackt bei einem sehbehinderten Maulwurf hausen, während der Kindergartenerzfeind (sic!) nach einem bunten Mobbing-Strauß aus Klassenhass und Lookismus den Faschismus etabliert. Und wem das immer noch zu fröhlich ist, dem sei noch flott die weniger bekannte zweite Strophe der Titelmelodie zitiert: »Ich bin auch schon mal traurig, so abgrundtief traurig, dann bin ich schaurig traurig, dann tut mir alles weh. […] Auch bin ich nicht mehr fröhlich, so fröhlich, so fröhlich. Bald bin ich nicht mehr fröhlich. Dann bin ich tot. Normal.«
#2 / Toujours la tristesse
Regionalexpress Richtung Cottbus.
»Ach kiek eener an, der Herr Bokowski!«
»Guten Morgen.«
»Sie hätt' ick ja umsonst mitfahr'n lass'n. So viel Freude wie Se meener Frau in letzter Zeit jemacht ham.«
»Das hört man gerne. Vielen Dank.«
»Fahr'n Se öfter nach Cottbus?«
»Nee, nur heute.«
»Gibt's da wat?«
»So generell?«
»Nee, heute!«
»Ja, mich! Lesung an 'nem Oberstufenzentrum.«
»Mensch, Se sin' ja een Hanswurst in allen Gassen!«
»Ähm. Danke.«
»Ick wünsch' Ihn' wat.«
»Ja, dito.«
#3 / Feine Ablese
Angelesen: Yellowface (Öffnet in neuem Fenster) von Rebecca F. Kuang
40 Seiten drin und unter uns: Müht mich etwas. Vielleicht ist es zu nah an meiner beruflichen Lebenswirklichkeit gebaut. Und auch wenn die dichte Handlung mich reinzieht, treibt mich der Stilmix und die skrupellose Hauptfigur in gleicher Kraft auch wieder raus. Das ist kein Makel. Aber ich ahne: womöglich ist es das falsche Buch zur falschen Zeit. Hatte mal die englische Leseprobe auf dem Tisch und will hier ganz ausdrücklich die deutsche Übersetzung von Jasmin Humburg loben. Wenn der Debütroman von Toxische Pommes noch weiter auf sich warten lässt, dann bleibe ich erstmal dran.
Ausgelesen: wir sind pioniere (Öffnet in neuem Fenster) von Kaleb Erdmann
Brutal gesagt: Pärchenbuch, heteronormativ. Eigentlich schon länger nicht mehr meins. Trotzdem ein gutes Zeichen, wenn man sowas in zwei Tagen runterliest. Beim Lesen einen starken Sog verspürt, weil das Buch in Sound und Sprache einfach verdammt sauber gearbeitet ist. Steh ich drauf, wenn man einem Text dieses nerdige Feilen anmerkt. Was man aber wissen muss: Ist klassisches Stream of Consciousness. Obendrauf kompletter Verzicht auf Interpunktion und Großschreibung. Muss man mögen. Mochte ich. Hätte ich gern mit 18 gelesen.
Abgelesen: Herr Lehmann (Öffnet in neuem Fenster) von Sven Regener
Hear me out: Gibt nichts dran auszusetzen. Überhaupt nichts. Sehr lange auf meiner to-read-list gewesen. Seit schlappen 23 Jährchen oder so. Und anders als ich, ist es erschreckend gut gealtert. Reich-Ranicki sagte seinerzeit, er hätte schallend gelacht. Und da muss ich sagen: Humorschwelle im Feuilleton ist und bleibt mir ja ein Rätsel. Amüsant ist es allemal. Aber schallend? Muss einfach kein sehr lustiges Jahr gewesen sein, damals, 2001. Und jetzt kommt's: Trotzdem nach 200 Seiten weggelegt. Aus einem wirklich dummen Grund: Weil ich den Film so oft gesehen habe. Und es ist 1:1. Wirklich 1:1.
#4/ Wenn der Berg nicht zum Paul kommt
Ich spür’ ja schon wieder, wie der Lektor grantig wird, sobald ich hier zu viele Termine reinpacke. Deshalb brav am Manuskript verharren und nur einen Gig rausballern. Immerhin einen exotischen:
26.04. / OSNABRÜCK (Öffnet in neuem Fenster) / Romanlesung
Alle Termine, alle Infos gibt es nach der Winterpause unter: paulbokowski.de (Öffnet in neuem Fenster)
#5 / Das letzte von der Rolle
Buch um Buch um Buch verkaufen,
Hunderttausend oder mehr,
Ab und zu im Rundfunk laufen,
Macht bei Vattern nicht viel her.
Aber hier am Arsch der Erden,
Mit ‘nem Strauß fürs Muttilein
Gesichtet und erkannt zu werden:
Schon kriegen beide sich nicht ein.
#6 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit.
#7 / Nachklang
🔊 🔊 🔊 Third Eye Blind mit »Funeral Singers«» 🔊 🔊 🔊
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