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Erste und letzte Male

The way you spend your days
Is the way you spend your life
(Pale)

114/∞

Good evening, Europe!

In den letzten Wochen haben wir mal wieder die ersten drei „Toy Story“-Filme geguckt. Und ich sag mal so: Eine Reihe über Spielzeuge, die heimlich lebendig sind, und ihren Besitzer, der langsam älter wird und ihnen entwächst, ist mit einem Achtjährigen neben Dir etwas völlig anderes als mit einem Fünfjährigen.

Im allgemeinen Verständnis ist es so, dass eine Kindheit und das Leben als Eltern aus ganz vielen ersten Malen besteht: den ersten Worten, den ersten Schritten, den ersten Tagen im Kindergarten und in der Schule. Weniger verbreitet ist die Erkenntnis, dass diese Zeit gleichzeitig auch sehr viele letzte Male enthält — neben naheliegenden wie dem letzten Kindergartentag auch solche, bei denen man erst später begreift, dass sie stattgefunden haben.

Jedes Mal, wenn die Eichhörnchen vor unserem Wohnzimmerfenster durch die Baumkronen rennen, muss ich daran denken, dass mein Sohn die Tiere früher „Anthörten“ genannt hat - und den Maulwurf im Bilderbuch „Murlwauf“ - und dann irgendwann nicht mehr. Er hat immer noch seine „Paw Patrol“-Socken und das Handtuch, aber wann wir das letzte Mal zusammen geguckt haben, wie Ryder und die Fellfreunde knifflige Rettungseinsätze erledigen, das ist bestimmt schon mehrere Jahre her.

Neulich hat der übertrieben kumpelige Moderator auf WDR 4 (of all places), „Feel“ (Öffnet in neuem Fenster) als „einen der Klassiker von Robbie Williams“ angekündigt und ich dachte, ernsthaft überrascht: „Für mich ist ‚Escapology‘ immer noch das ‚neue‘ Album!?“ (Erzähler: „Das Album feierte im vergangenen November seinen 20. Geburtstag.“)

Immer wenn ich denke, dass in meinem Leben jetzt wirklich schon lange alles einigermaßen gleich ist (keine Studienanfänge oder -abschlüsse, keine neuen Partnerschaften oder Trennungen; die einzige Wohnung, in der ich länger gewohnt habe als hier, ist mein Elternhaus — und das auch nur noch vier Jahre lang), fällt mir ein, dass ich ein Kind habe, das nicht nur jeden meiner Tage anders macht, sondern für das auch vieles jeden Tag anders ist. Ein Aufwachsen mit Balu, dem Bär, und Baghira, dem Panta Rhei.

In den sieben Jahren hier sind aber auch alle Großeltern, mit denen ich etwas zu tun hatte, gestorben. Natürlich hatten sie in den letzten Jahren nicht mehr so eine große Rolle gespielt wie in meiner Kindheit und Jugend; ich habe sie nicht mehr täglich gesehen, sondern alle zwei Wochen mit ihnen telefoniert; ihr Einfluss auf meinen Alltag hatte deutlich nachgelassen und zu den Ratgeber*innen, die ich aktiv kontaktiere, wenn ich einen anderen Blick auf mein Leben oder meine Arbeit brauche, haben sie nie wirklich gehört. Aber manchmal kamen aus ihrer Richtung überraschende neue Inputs voller Neugierde oder über Jahrzehnte gereifter Weisheit. Und natürlich hatten sie mich in den Jahren davor unglaublich geprägt.

In einer Folge (Öffnet in neuem Fenster) von Anderson Coopers sehr tollem Podcast „All There Is“ (s.a. Newsletter No. 107 (Öffnet in neuem Fenster) und meinen Text auf FAZ.net (Öffnet in neuem Fenster)) sagt die Musikerin Laurie Anderson, dass ja auch wir Lebenden eigentlich permanent auf eine gewisse Art stürben, zum Beispiel wenn die Leute sterben, die uns noch als Kinder gekannt haben. Und Cooper stellt fest, dass der Junge, der er einmal mal war und den sein verstorbener Vater, sein verstorbener Bruder, seine verstorbene Mutter und sein geliebtes, inzwischen ebenfalls verstorbenes Kindermädchen kannten, eigentlich schon tot ist.

Ich weiß nicht, ob ich mich dieser Einschätzung komplett anschließen würde, aber ich finde das einen faszinierenden Gedanken. Vor allem kann ich daraus für mich auch eine Erklärung für das ableiten, was wir „Nostalgie“ nennen: Wenn ich an alte Zeiten zurückdenke, vermisse ich gar nicht unbedingt die anderen Leute (es gibt ja oft einen guten Grund, warum die nicht mehr Teil meines Lebens sind, und der hat nur sehr selten mit Zerwürfnissen und Ungeheuerlichkeiten zu tun, sondern meistens mit Weiterentwicklungen auf beiden Seiten in unterschiedliche Richtungen), sondern die damalige Version von mir (und das, obwohl ich noch nie so glücklich und in mir ruhend war wie heute, und ich manchmal noch zusammenzucke, wenn mir unvermittelt einfällt, wie unreif, unreflektiert oder einfach dumm ich in bestimmten, eigentlich gut verdrängten Situationen agiert habe). Es ist eine Art elaboriertes Selbstmitleid, wenn das (oder irgendein Gedanke aus diesem Absatz) irgendwie Sinn ergibt.

Ich war gestern zum ersten Mal seit drei Jahren wieder auf einem (indoor) Konzert und es war wahnsinnig anstrengend: Zwei Stunden Anreise, jede Menge Leute, kaum zu genießende Wiedersehensfreude, drei Stunden Stehen, drei Stunden Heimweg — ein insgesamt guter Anlass zu hinterfragen, ob ich mir das jemals wieder antun sollte.

Aber es war eben auch so viel mehr als ein Konzert; es war ein Klassentreffen, eine Trauerfeier und eine Sitzung der Emo-Selbsthilfegruppe von 2002. Pale haben ihr eines Konzert zu ihrer jetzt aber wirklich allerletzten Platte „The Night, The Dawn And What Remains“ (s.a. Newsletter No. 110 (Öffnet in neuem Fenster) und Platz 1 meiner Acts des Jahres 2022 (Öffnet in neuem Fenster)) gespielt und es war pretty intense. Ich habe ungefähr alles, was mir dazu eingefallen ist, im Blog (Öffnet in neuem Fenster) niedergeschrieben und muss mich jetzt erstmal weiter von diesem Abend und seiner emotionalen Aufgeladenheit erholen. (Das mag sich jetzt negativ anhören, aber es war wirklich schön, hat aber eben auch sehr viele Emotionen hervorgebracht, die zu sortieren und reflektieren ich mir gerne die Zeit nehme. Man muss ja auch die Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit der Welt annehmen!)

Manchmal vermisse ich es, abends (und zwar: mehrmals pro Woche) in Kneipen zu sitzen und mir anzuhören, wer gestern wieder (oder zum ersten Mal oder entgegen vorheriger Ankündigungen) mit wem nach Hause gegangen ist. Dann fehlt mir das Gefühl, mit dem Gedanken rauszugehen, dass dieser Abend derjenige sein könnte, der so ein Leben verändert. Oder spontan noch rauszugehen und am nächsten Mittag festzustellen, dass der Abend sich überraschend als einer jener entpuppt hat, die so ein Leben verändern können.

Aber ich mochte Serien wie „Dawson’s Creek“ oder „Skins“ immer mehr als solche wie „Desperate Housewives“: Im Erwachsenenalter soll doch bitte alles ein bisschen geordneter zugehen, die wirkliche Qualität von Musiker*innen zeigt sich ja meist auch erst, wenn sie nicht mehr über die Komplikationen von Liebe und Hedonismus schreiben, sondern sich anderen Themen zuwenden (müssen). (Ja, ich fand das letzte Adele-Album atemberaubend egal.)

Heißt das, dass ich nicht noch einmal nachts im Schneetreiben mitten auf einer Straße knutschen wollen würde? (Ich weiß gar nicht, ob überhaupt und, wenn ja, wie oft dieser Topos bei „Ally McBeal“ wirklich bemüht wird, aber ich gebe dieser Serie gerne die Schuld an meinem Bild von Romantik.) Doch, natürlich! Aber: been there, done that. Und manchmal sind ja doch die Dinge am Spannendsten, die man zum ersten Mal macht.

Was macht der Garten?

Wir haben die Kästen von den Pflanzen der Vorsaison befreit, die Erdbeeren beschnitten und die ersten Vorkulturen angelegt.

Was hast Du gehört?

Vieles von dem, was ich in den letzten Wochen gehört habe, findet sich in den Folgen 2 und 3 meiner kleinen Musiksendung auf Spotify wieder, die Ihr hier (Öffnet in neuem Fenster) hören könnt. Sehr empfehlen kann ich „Raven“ von Kelela (Warp Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)).

Und dann natürlich sehr viel Pale und anderen Emo aus der Zeit der Jahrtausendwende.

Was hast Du gesehen?

Gestern Nachmittag habe ich festgestellt, dass MTV wieder Musikvideos zeigt — aber offenbar eher in einem Retro-Sinne: Erst liefen aus Anlass des Geburtstags von Chris Martin eine Stunde lang Coldplay-Videos, die den (in meinen Augen) musikalischen Niedergang dieser Band eindrucksvoll dokumentierten, dann folgte ein Format namens „Guess The Year“, in dem alte und sehr alte Clips („November Rain“, „Wannabe“, „What Is Love?“) in verwaschenstem SD zur Aufführung gebracht wurden, verbunden mit der ans Publikum gerichteten Aufgabe, das Erscheinungsjahr zu raten. Ich gehe natürlich stark davon aus, dass ich alleine die Zielgruppe dieser Sendung bin, bedanke mich bei MTV für dieses Geschenk und werde versuchen, nun jeden Tag einzuschalten.

Was hast Du gelesen?

Die „Tagesschau“ hat mit der Politikwissenschaftlerin Sarah Pagung darüber gesprochen, warum sich viele Menschen in Ostdeutschland so schwer tun, die Ukraine zu unterstützen. Es hat ihrer Ansicht nach (natürlich) mit der 40-jährigen Diktatur dort zu tun, aber auch mit mangelnder Repräsentanz im wiedervereinigten Deutschland: tagesschau.de (Öffnet in neuem Fenster).

Bei „Vice“ ist ein Artikel über namhafte Musik-Acts erschienen, die sich bei Firmenfeiern und ähnlichen Veranstaltungen ein Zubrot verdienen. Nebenbei taugt der Text auch als Erklärung, wie Flo Rida für San Marino auf der ESC-Bühne gelandet ist: vice.com (Öffnet in neuem Fenster).

Und der Musikjournalist Ted Gioia hat sich in seinem Newsletter mit der Frage beschäftigt, warum die Beatles auf dem unbestreitbaren Höhepunkt ihres Schaffens so viele schlechte Kritiken bekommen haben: substack.com (Öffnet in neuem Fenster).

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Ich habe viereinhalb in einem Klassenraum voller Drittklässler*innen verbracht (Aktionstag in der Schule). Mein Respekt vor und mein gleichzeitiges Unverständnis über Lehrer*innen sind in dieser Zeit stark gewachsen.

Was hast Du gelernt?

Radieschenpflanzen wachsen irrsinnig schnell.

https://www.youtube.com/watch?v=-_cNDnKprBg (Öffnet in neuem Fenster)

Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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