Hütet Euch vor den Iden des März!
The past is told by those who win
What matters is what hasn't been
(Jimmy Eat World)
115/∞
Good evening, Europe!
Ohne größere mediale Begleitumstände jährt sich heute jener 13. März zum dritten Mal, in dessen Verlauf das öffentliche Leben in Deutschland quasi komplett abgeschaltet wurde: Mittags hatten die Erzieherinnen im Kindergarten noch gesagt „Wir sagen mal ‚Bis nächste Woche‘, aber wir wissen auch noch nichts“, dann wurden in immer apokalyptischer anmutenden Push-Nachrichten der News-Apps Schulen und Kindergärten „für fünf Wochen“ geschlossen und die Bundesliga abgesagt. Corona.
Es fühlte sich an wie im Film, aber ich habe das Gefühl, die Meisten von uns haben das Meiste aus dieser Zeit schon wieder vergessen oder verdrängt: Die leeren Einkaufsstraßen; die Warteschlangen auf Abstand vor den Drogerien, weil nur eine bestimmte Anzahl Personen hineindurfte; die mit Flatterband abgesperrten Spielplätze. Wir sind ja dann doch im Großen und Ganzen ganz gut durch die Pandemie gekommen.
Wenn man unter „wir“ versteht:
Familien, die das große Glück und Privileg hatten, die Kinderbetreuung irgendwie organisiert zu bekommen.
Selbständige Künstler*innen, die zumindest in den ersten beiden Jahren ein Stück weit von staatlichen Programmen und öffentlichen Förderungen aufgefangen wurden. (Von der ersten Welle der „Soforthilfen“ haben viele Solo-Selbständige hingegen im Nachhinein wenig oder gar nichts mehr gehabt — hier (Öffnet in neuem Fenster) könnt Ihr eine Petition unterschreiben, die diese Ungerechtigkeit reparieren soll.)
Menschen, die gesund waren und nicht zu Risikogruppen gehörten. (Wobei auch das keine Garantie war.)
Haushalte, die vorher ein bisschen was beiseite gelegt hatten.
Familien mit eigenem Garten (denn, s.o., die Spielplätze!)
Personen mit genug digitaler Infrastruktur, um mit Familie und Freund*innen in Kontakt zu bleiben.
Kinder, deren Schulen und Lehrer*innen umsichtig, einfühlsam und auch mit ein bisschen technischem Sachverstand auf all die Herausforderungen reagiert haben und sowohl im sozialen Gefüge als auch im sogenannten „Stoff“ all das auffangen konnten, was so ein „Distanzunterricht“ gar nicht leisten konnte.
Menschen, die keine ihnen nahestehenden Personen verloren haben — weder an die Krankheit selbst, noch an die Verschwörungsgläubigen, Wissenschaftsgegner und sonstigen Idioten, die sich im Zuge der Pandemie radikalisiert haben.
Die Pandemie und die Maßnahmen schlichen sich so langsam aus, selbst die vorsichtigsten Anhänger von Christian Drosten (oder die, die es sich gesundheitlich leisten konnten) wurden irgendwann müde, dann überfiel Wladimir Putin die Ukraine, die Spritpreise stiegen, es gab neue staatliche Maßnahmen und neue Wege, um sich zu radikalisieren.
Den Brit*innen sagt man die „stiff upper lip“ nach, das „Keep calm and carry on“: sich nie etwas anmerken lassen, einfach weitermachen wie bisher — bis dann irgendwann der Sohn des Königs ein Buch schreibt und alle durchdrehen.
Es scheint mir zumindest keine exklusiv britische Eigenart zu sein, denn auch in Deutschland ist Aufbereitung eher etwas, was man allenfalls mit Atommüll macht: Die Zeit des Nationalsozialismus war fast 25 Jahre vorbei, als die nächste Generation lautstark nachfragte, wie die Väter denn so ihre Jugend verbracht hätten; die Auseinandersetzung mit dieser Auseinandersetzung brauchte dann auch wieder ihre Zeit; das mit der DDR läuft so mittel und die rassistischen Ausbrüche der frühen 1990er Jahre wurden gefühlt gerade, zum 30. Jahrestag (Öffnet in neuem Fenster), zum ersten Mal tiefergehend behandelt.
Die NSU-Mordserie, der Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum (Öffnet in neuem Fenster), der am Breitscheidplatz (Öffnet in neuem Fenster) — die müssen noch ein bisschen warten. Beim rassistischen Anschlag von Hanau (Öffnet in neuem Fenster) haben es die Hinterbliebenen und deren Unterstützer*innen immerhin geschafft, dass bisher jährlich relativ breit in den Sozialen Medien erinnert und gedacht wird. Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen kommt nur langsam voran.
Nun ist eine Pandemie natürlich etwas anderes als ein Massenmord (zumindest, solange die Labortheorie nicht bestätigt ist) oder eine Diktatur, aber der grundsätzliche Impuls, nachdem etwas Schlimmes passiert ist, sollte doch immer sein, wenigstens dafür zu sorgen, dass es so nicht noch mal passieren kann.
Deswegen hätte ich mir eine gründliche Untersuchung der Abläufe in der Pandemie gewünscht — nicht, um irgendwelche vermeintlich Schuldigen zu finden (am Anfang wusste halt niemand, was los ist, da sind auch gesperrte Kinderspielplätze erklärlich), sondern um dafür zu sorgen, dass es beim nächsten Mal besser läuft.
Die Bereitschaft erscheint mir gering: Die nächsten Krisen sind schon lange da und die FDP hatte eine Frau (Öffnet in neuem Fenster), die als Schulministerin während der Pandemie jedwedes Verständnis für Wissenschaft, Empathie und Kommunikation (mithin drei Dinge, die zu erlernen man Kinder morgens um 6 aus dem Bett schmeißt und zur Schule schickt) hatte vermissen lassen, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen auf Listenplatz 2 gestellt. (Die Partei konnte ihr Ergebnis mehr als halbieren.)
Aber man kennt das ja auch, wenn man auf der Arbeit etwas anspricht, was jetzt vielleicht nicht ganz so gut gelaufen war; von Menschen, die drei-, viermal verheiratet waren, oder jenen, die sich jahrzehntelang über ihre Eltern aufregen, um dann wie ihre Eltern zu werden: Wer im Wald nur oft genug gleich falsch abgebogen ist, läuft irgendwann auf gut ausgetretenen Pfaden. (Hier könnte ich jetzt auch noch was zu Jürgen von der Lippe, Harald Schmidt oder Dieter Nuhr schreiben, aber - bestes Zitat (Öffnet in neuem Fenster) der ganzen Pandemie! - ich habe Besseres zu tun.)
Auf ihrem phantastischen Album „Folklore“, das sie in den ersten Monaten der Pandemie aufgenommen hat, singt Taylor Swift einen Song namens „Epiphany“.
https://www.youtube.com/watch?v=DUnDkI7l9LQ (Öffnet in neuem Fenster)In der ersten Strophe erzählt Swift die Geschichte ihres Großvaters, der im 2. Weltkrieg gekämpft und nie über seine Erlebnisse dort gesprochen hatte (scheint eine universellere Sache zu sein), in der zweiten die des medizinischen Personals während der ersten, brutalen Welle der Pandemie. Die Zeilen „Someone's daughter, someone's mother / Holds your hand through plastic now“ treiben mir immer noch bei jedem Hören die Tränen in die Augen, weil sie das Grauen ganz prosaisch herunterbrechen: das Natürlichste, was wir als Mensch kennen, der körperliche Kontakt, ist nur noch durch so etwas Unnatürliches wie eine Plastikfolie möglich.
Und auch da betrachte ich es wieder als unglaubliches Privileg, dass meine Omi diese Zeit nicht nur ohne Infektion überstanden hat, sondern auch so lange so fit war, dass wir sie wieder in den Arm nehmen und ihre Hand halten konnten, und dass Ihre Trauerfeier nicht via Zoom stattfinden musste, sondern St. Johannes in Eppinghoven so voll war wie vermutlich 20 Jahre davor nicht und in Zukunft nie wieder.
Ich habe es schon oft gesagt und geschrieben, dass ich mir angesichts der inzwischen zurückgekehrten Normalität so einen erneuten Lockdown wünschen würde, aber das ist natürlich auch ein wenig geschichtsvergessen und melodramatisch, denn es waren ja nicht nur jede Menge Tage ohne Termine mit Gesichtsmaske in der Badewanne, sondern auch sehr viel Langeweile und Sorge.
Vielleicht werde ich den 13. März im nächsten Jahr auch gar nicht mehr groß wahrnehmen.
https://www.youtube.com/watch?v=Y12_YMs9kCQ (Öffnet in neuem Fenster)Die vierte Ausgabe meiner kleinen Musiksendung ist seit letzter Woche bei Spotify verfügbar (Öffnet in neuem Fenster), die fünfte kommt dann wohl diese Woche.
Habt eine schöne Rest-Woche!
Always love, Lukas
PS: Wenn Euch dieser Newsletter so gut gefällt, dass Ihr sogar dafür bezahlen wollt, könnt Ihr das hier tun:
Und wenn Ihr nicht bezahlen wollt oder könnt (was beides völlig in Ordnung ist), gefällt er Euch ja vielleicht so gut, dass Ihr ihn weiterempfehlen wollt: Hier (Öffnet in neuem Fenster) kann man sich zum Mitlesen anmelden.