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Als wir noch gut waren

Nobody tells you when you're young
That time is not a straight track
It's a forest with no map you're walking with no shoes
(Andrew McMahon In The Wilderness)

116/∞

Good evening, Europe!

Sprechstundenhilfen und Steuerfachangestellte wissen: Q1 ist zu Ende, wir sind mittendrin im Jahr 2023. Aber was war eigentlich in den letzten drei Monaten los?

Ich kann zumindest über die letzten zwei Wochen sprechen, denn da war ich böse erkältet und habe in diesem Zustand eine Musiksendung (Öffnet in neuem Fenster) aufgezeichnet (allerdings auch vorher, als ich noch normal klang: eine spezielle Tribute-Folge (Öffnet in neuem Fenster) zum ersten Todestag von Taylor Hawkins).

Seit einigen Jahren (womöglich mehr als zehn) passiert es hin und wieder, dass ich mir mit befreundeten Journalist*innen Texte hin und her schicke, die eine*r von uns Jahre zuvor geschrieben hat. Und oft lautet die Antwort des Autors bzw. der Autorin: „Ach, da war ich noch gut!“

Das hat wenig mit Eitelkeit zu tun und viel mit dem Verdrängen und Vergessen alter Arbeiten, daraus resultierender ehrlicher Überraschung und Selbstzweifeln an der aktuellen Form.

Ich habe zum Beispiel kürzlich zufällig meinen Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) von vor einem Jahr gelesen, wo es um den Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ging. „Gar nicht mal so schlecht“, dachte ich und war einigermaßen beruhigt, weil ich sowas sonst eher über sehr viel ältere (Öffnet in neuem Fenster) Texte denke und dann glaube, meine besten Zeiten lägen bereits weit hinter mir.

Vor zwei Wochen habe ich in meinem Blog-Archiv nach Michael Wendler gesucht, einem ehemaligen Schlagersänger und heutigen Verschwörungserzähler, Prepper-Zubehör-Verkäufer und Langzeitarbeitslosen. Anlass war die kurzzeitige Ankündigung (Öffnet in neuem Fenster) des Rumpelsenders RTLzwei (für den ich, als er noch RTL2 hieß, auch mal bei zwei sehr erfolglosen Produktionen gearbeitet habe), Wendler und seine schwangere Ehefrau in einer neuen Dokusoap begleiten zu wollen.

Der Sender hätte auch ankündigen können, zur Primetime live Katzenbabies bei lebendigem Leibe häuten zu wollen — die öffentliche Kritik hätte kaum größer ausfallen können. Nachdem die Stimme der Vernunft einen eher ungewöhnlichen Weg gewählt und aus dem Körper von Carmen Geiss gesprochen (Öffnet in neuem Fenster) hatte, die unverhohlen damit drohte, die Zusammenarbeit mit RTLzwei einzustellen, wenn die Sendereihe mit Wendler und Gattin wie geplant zur Ausstrahlung käme, versuchte man in Unterföhring (wie wir Medienjournalist*innen schreiben, wenn wir schon zweimal den Sendernamen geschrieben haben und ein Synonym brauchen; vgl. „der Leimener“) die braune Schuhcreme zurück in die Tube zu quetschen und zog die Ankündigung nach nicht einmal 24 Stunden zurück (Öffnet in neuem Fenster).

Jedenfalls fand ich meinem Archiv einen ziemlich genau zehn Jahre alten Text (Öffnet in neuem Fenster) über Dinslaken, die gemeinsame frühere Heimatstadt von Wendler und mir. Der damalige Entertainer kommt nur als (Spoiler Alert!) Schlusspointe vor, im Wesentlichen rechne ich (wieder (Öffnet in neuem Fenster) einmal (Öffnet in neuem Fenster)) mit der Provinzialität und Spießigkeit Dinslakens ab (damaliger Vorwand: die Schließung einer Gaststätte, deren Zielgruppe unter 40 war, wegen nachbarschaftlicher Beschwerden).

Mit zehn Jahren Abstand (eine, wie ich finde, ganz gute Größenordnung, wie lange man Texte liegen lassen sollte, bevor man sie noch einmal überarbeitet und veröffentlicht) würde ich einiges ändern bzw. weglassen, aber im Großen und Ganzen bin ich mit dem Text und seiner Kernaussage immer noch zufrieden.

In den zehn Jahren hat sich natürlich auch in Dinslaken einiges getan: Die Stadt war zwischendurch mal nicht für Trabrennbahn, Wendler oder Kilians berühmt, sondern für ihre Salafisten-Szene; inzwischen gibt es auch in Dinslaken einen H&M (und noch weniger Gaststätten); ich bin nur noch ganz selten in der Stadt, aber letztes Jahr, nach meinem Klassentreffen (Öffnet in neuem Fenster), an einem schönen Sommerabend, ging ich durch die Altstadt und dachte: „Also hier, in diesem Areal, wo fünf jahrhundertealte Häuser stehen und jede Menge Gebäude der 1980er Jahre, die wegen ihrer Backsteinfassaden ‚historisierend‘ zu nennen jetzt auch übertrieben wäre, ist es eigentlich ganz nett. Also: besser als in der Altstadt von Köln. Was aber auch daran liegen kann, dass es hier keine Kölner*innen gibt.“

Stefan Niggemeier hat letzte Woche Dienstag nach Jahren mal wieder etwas in sein Blog geschrieben. Es war ein Text (Öffnet in neuem Fenster) über seinen Hund Bambam, der zu diesem Zeitpunkt schon sehr alt und schwach war. Ich glaube, selbst wenn man Bambam nicht kennt (ich habe mal versucht, mit ihm in der Kölner Innenstadt ein Stück Grün zu finden, auf das er hätte pinkeln können — eine Unternehmung, die mein Bild von Köln fast genauso stark geprägt hat wie die Existenz des einzigen Grundes, in die Stadt zu fahren: des Doms), bekommt man einen sehr guten Eindruck von seinem Charakter (und by proxy auch von Stefans).

Es ist ein wunderschöner, lustiger, trauriger und in jeder Zeile lebendiger (nicht im Sinne von „hyperaktiv“, sondern von „am Leben seiend“) Text. Er wirkte bereits ein Stück weit wie ein Nachruf, aber auch wie ein Festhalten an den letzten Tagen und Atemzügen des Tieres, ein trotziges „Not dead yet“. Zwei Tage später ist Bambam gestorben.

Ich bin mir sicher, wenn ich Stefan den Text in zehn Jahren zuschicke, wird er sich immer noch sehr genau daran erinnern können, und er wird antworten: „Ach, da war ich noch gut!“

https://www.stefan-niggemeier.de/blog/22601/bambam/ (Öffnet in neuem Fenster)

Was macht der Garten?

Wenn man seine Vorkulturen sehr früh im Jahr anlegt, hat das den Vorteil, dass es sehr früh in den Anzucht-Töpfen sprießt. Der Nachteil: Das Wetter ist noch nicht so, dass man sie schon unbesorgt nach draußen setzen könnte. Und schon hat man einen kleinen Pflanzen-Limbus auf der Fensterbank stehen.

Was hast Du gehört?

Eigentlich soll dieser Newsletter ja ein Quell der Positivität sein. Und Verrisse sind eh was für arrogante junge oder zynische alte Musikjournalisten. Aber ich habe letzte Woche in „Songs Of Surrender“ reingehört, das „neue“ Album von U2, auf dem sie 40 ihrer alten Songs in neuen Versionen eingespielt haben. Ich habe vier geschafft. Nennen wir es also einfach Service-Journalismus, wenn ich Euch an dieser Stelle zurufe: Spart Euch die Zeit!

Heute sind außerdem die neuen Alben von The Hold Steady und Andrew McMahon In The Wilderness rausgekommen, aber zu denen kann ich Euch frühestens am Montag was sagen, nachdem ich sie das ganze Wochenende abwechselnd gehört habe.

Was hast Du gesehen?

Spät wie immer habe ich endlich mal mit „The Bear“ (Disney+ (Öffnet in neuem Fenster)) angefangen. In der Serie geht es um einen jungen Koch, der, obwohl eigentlich völlig überqualifiziert, nach dem Suizid seines Bruders dessen Sandwich-Laden übernimmt — mit allen Konsequenzen, die so ein Setup nur haben kann. Ich habe erst drei Folgen gesehen, aber in denen umschifft die Serie kunstvoll die erwartbaren Klischees und bleibt auch stimmungsmäßig angenehm zwischen den Stühlen. Der Look ist phantastisch und der Soundtrack auch. Außerdem habe ich mir vom Küchenpersonal schon abgeguckt, jedes Mal „Corner!“ zu rufen, wenn ich um eine Ecke gehe. Das ist schon mehr Einfluss, als die meisten anderen Serien je auf mein Leben hatten.

Was hast Du gelesen?

Vielleicht habt Ihr schon mal vom Thema „Künstliche Intelligenz“ gehört. Ich finde ja schon natürliche Intelligenz schwierig genug, aber zum Glück gibt es ja Menschen wie Noam Chomsky, die Texte schreiben können, die bei Jorge Luis Borges anfangen und über Sherlock Holmes und Isaac Newton bei Karl Popper landen. Über „Künstliche Intelligenz“: nytimes.com (Öffnet in neuem Fenster)

Außerdem hat ein mir bisher unbekannter Mann namens Alex Murrell einen Text darüber geschrieben, warum heutzutage alle Cafés, Wohnungen, Büros, apartment buildings, Produkte, Autos und Menschen gleich aussehen: alexmurrell.co.uk (Öffnet in neuem Fenster)

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Einen Erstliga-Sieg des VfL Bochum 1848 live im Stadion gesehen.

Was hast Du gelernt?

Bobbi Ercoline, die Frau vom berühmtesten Foto des berühmtesten Musikfestivals aller Zeiten (das Bild zeigt sie und ihren späteren Ehemann Nick, in eine Bettdecke gehüllt stehend, 1969 im Schlamm des Woodstock-Festivals), ist vor zwei Wochen im Alter von 73 Jahren gestorben (Öffnet in neuem Fenster).

https://www.youtube.com/watch?v=9bBBaFVh67w (Öffnet in neuem Fenster)

Bisher einer der Favoriten auf den Titel „Song des Jahres 2023“: Two Blinks, I Love You - Carnegie Hall

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei jenen Menschen zu bedanken, die meinen kleinen Newsletter finanziell unterstützen!

Es ist ja - gerade in Zeiten wie diesen - alles andere als selbstverständlich, für etwas Geld zu bezahlen, was man auch kostenlos haben kann. Ich freue mich über jede Unterstützung, auch wenn Ihr den Newsletter „nur“ an Menschen weiterleitet, von denen Ihr glaubt, dass er ihnen gefallen könnte.

Und wenn Ihr darüber hinaus noch „Unterstützer*in“, „Fan“ oder „Executive Producer“ werden wollt, könnt Ihr das hier tun:

Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende und eine schöne Osterzeit!

Friede sei mit Euch, Lukas

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