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We All Go Back To Where We Belong

Und nicht eher schlafen bevor wir hier
Heute Nacht das Meer sehen
Spüren wie kalt es wirklich ist
Benzin und Kartoffelchips
(kettcar)

117/∞

Goedeavond!

Mein Name ist offenbar Lukas Heinser und ich versuche gerade herauszufinden, was ich hier tue.

Ich war die letzten zwei Wochen unterwegs: Erst acht Tage Domburg (mein Großvater sprach immer von „acht Tagen“ Urlaub, wenn er und meine Omi von z.B. von Samstag bis Samstag weg waren; wir waren aber wirklich acht Tage im Urlaub, nämlich von Montag bis zum Dienstag der darauffolgenden Woche, was damit der längste Urlaub meines erwachsenen Lebens war), dann noch einige Tage mit dem Kind bei meinen Eltern in Dinslaken.

Das war alles sehr schön, aber jetzt muss ich mich erstmal wieder im Alltag zurechtfinden. Ich stand heute z.B. mehrere Minuten ratlos vor der Mikrowelle, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob ich die Hafermilch sonst 50 Sekunden oder 1:20 Minuten erhitzt habe, bevor ich sie aufgeschäumt und in meinen Kaffee geschüttet habe. (1:20 Minuten scheint okay zu sein.)

Domburg, dieses kleine Dorf auf Walcheren an der niederländischen Nordseeküste, war, wie bereits mehrfach (Öffnet in neuem Fenster) erwähnt (Öffnet in neuem Fenster), der Ort, an dem ich die meisten Urlaube meiner Kindheit verbracht habe. Diese Urlaube müssen in mir eine tiefe Verbundenheit und ein tiefes Vertrauen erzeugt haben, denn wenn ich heute - zwanzig, dreißig Jahre später - mit dem Auto nach Domburg einfahre (wer jemals von Oostkapelle kommend die Ooststraat entlanggefahren ist und dabei die Straßencafés voller Menschen aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland passiert hat, weiß, dass das ein erhabenes Gefühl ist, das Goethes Ankunft an der Piazza del Popolo in wenig nachsteht), überkommt mich ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens, das ich in Dinslaken noch nie verspürt habe (in Bochum, San Francisco oder Hamburg schon).

Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Alltag dort immer weit weg war: keine Schule, keine arbeitenden Eltern, kein Telefon — nur ein Fernseher und die Dinslakener Lokalausgabe der „NRZ“, die mit einem Tag Verspätung auch hierhin zugestellt wurde, damit meine Eltern … ja, was eigentlich? … wussten, was sie nicht verpassen?

Das Dorf jedenfalls zeigt, wie es funktionieren könnte, wenn die Dinge sich permanent verändern, aber im Kern gleich bleiben: ganze Straßenblocks sind in den letzten Jahrzehnten abgerissen und neu bebaut worden, ohne dass sich das Stadtbild dadurch merklich verändert hätte. 

Die Menschen, die wirklich im Ort absteigen, sind in einer feierlichen „Jetzt ist auch egal“-Stimmung, das daytime drinking hat sich aus dem Lockdown in die Gegenwart gerettet, die Pizza Margherita kostet 12 Euro, der BMW bleibt heute mal auf dem Hotelparkplatz; man trägt diese Oliver-Glasner-Jacken (Öffnet in neuem Fenster), die immer ein bisschen aussehen wie für den Transport verpackte Heizkörper, weil es im Schatten und auf dem Deich schon noch ziemlich frisch ist, aber man kann sie ja aufmachen, wenn die Sonne rauskommt und man die Sonnenbrille aus den entspannt zerzausten Haaren zieht, um sie sich wieder auf die Nase zu setzen. Es ist ein bisschen, als käme man in einem Roman von Christian Kracht an: schon ein bisschen posh, aber wenigstens nicht Sylt.

Domburg, vom Hoge Hill aus gesehen

Ich betreibe keine erfolgreiche Kölner Fernsehproduktionsfirma, deswegen wohnen wir etwas außerhalb, im Ferienpark, was aber auch Sinn ergibt, denn wir haben Kinder dabei und was sollten die mit alkoholischen Trendgetränken? Die haben dafür Spielplätze draußen und drinnen, Trampoline, Pommes und Koos Konijn (Öffnet in neuem Fenster), den Schutzheiligen der Eltern jener Kinder, die sich auch schon mal alleine beschäftigen können. Kurzum: Es ist ein Traum! Bekloppte Jacken anziehen können wir auch noch, wenn die Kleinen aus dem Haus sind.

Überhaupt hat dieser Urlaub mal wieder gezeigt, wie schön eine Welt sein könnte, in der man Familien mit Kindern wenigstens als zahlende Kund*innen wahrnehmen würde: Jede Menge Indoor-Spielplätze und andere Freizeitangebote — und das in einem so kleinen und dicht besiedelten Land, in dem - und hier wird es wirklich aberwitzig - auch noch genug Platz für bessere und sicherere Autobahnen ist! Die vollkommene Unterdurchschnittlichkeit Deutschlands sieht man eben wirklich am Besten, wenn man mal eben kurz über die Grenze hüpft. (Oder, natürlich, wenn man Olaf Scholz reden hört, aber dann doch wirklich lieber Urlaub machen!)

Es war jedenfalls sehr schön, ich habe mein Handy ausschließlich für Fotos und Sudoku-Spiele hervorgeholt — und ein bisschen, um am Strand Musik zu hören. Und plötzlich hatte ich eine Idee, warum ich eigentlich beides, bewegtes Wasser und Popsongs, so gerne mag: Beide waren für mich schon als Kind oder Jugendlicher der Hinweis darauf, dass es da draußen, außerhalb der eigenen Blickweite, eine Welt gibt, die größer, bunter und besser ist als das Leben als Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Dinslaken. 

Viel mehr brauchte und brauche ich gar nicht unbedingt: Ich hab’s von Dinslaken bis Bochum geschafft und bin nicht ausgewandert wie mein Onkel, aber dieses Wissen um die Welt da draußen, das beruhigt mich ungemein. Wenn ich wollte, könnte ich weg. Das war ja auch das Schöne in den ersten Jahren des Internets: zu sehen, dass man nicht der einzige Nerd ist, der eine bestimmte Band mag; zu wissen, dass es mehr gibt als Reihenhaus, Vater-Mutter-Kind und Goldene Hochzeit (nichts gegen diesen Lebensentwurf, aber schön, wenn es nicht der einzige ist, der zur Auswahl steht); eine Webcam zu haben, über die man sehen kann, wie gerade das Wetter am anderen Ende der Welt ist. So gesehen sind Facebook-Kommentatoren vermutlich das, was Formatradio für Musik und eine Ölpest fürs Meer sind.

Die Nordsee im Nebel.

Und jetzt war ich wieder am Meer und hörte Songs, die ich dort vor 22 Jahren gehört hatte und die inzwischen eine ganz andere Bedeutung bekommen hatten, und andere Songs, die seit Jahren eine Bedeutung hatten, aber noch keinen Bezug zum Meer, und wieder andere, die ich erst seit kurzem kenne, aber die dringend auch irgendwie in diesen Kontext einsortiert werden sollten. Und ich wusste: das Meer und die Musik existieren, komme, was wolle; alles ist möglich.

Das war der spirit, den ich für die Tage nach dem Urlaub brauchte, denn da war ich in Dinslaken, um noch mal durch mein Großelternhaus zu gehen. Nach Omis Tod (Öffnet in neuem Fenster) im Oktober hatten mein Vater und seine Geschwister die meisten Einrichtungsgegenstände untereinander aufgeteilt oder sonstwie weggeschafft, alle Räume klangen plötzlich ganz hallig, weil sie fast leer standen. Die Küche, früher das Zentrum des Lebens, stand da wie eine Theaterkulisse: graue Fronten, dahinter Leere, alle Postkarten, Fotos, Geschirrtücher und damit jede Farbe verschwunden. Ich weiß, dass alle Menschen mit Trauer und Verlust anders umgehen, aber mir hilft es wahnsinnig zu sehen, wie dieser Ort buchstäblich verblasst. Denn das Entscheidende waren ja eben nicht die Möbel, sondern die Menschen, die sich zwischen ihnen bewegt haben. Allen voran Omi.

Ich arbeitete mich durch die Zimmer, fand hier eine Kiste mit Fotos, dort ein Souvenir, das meine Großeltern von irgendeiner Reise mitgebracht hatten. In jedem Raum entstanden kleine Stapel mit Dingen und wenn ich kurz in den Keller ging, um ein Werkzeug zur weiteren Demontage zu holen, fand ich auf dem Weg dorthin und zurück so viele andere Sachen, die ebenfalls auf einem kleinen Stapel landeten, dass ich irgendwann dachte: „So ähnlich fühlt sich womöglich ADHS an!“

Einmal beobachtete ich mich dabei, wie ich, die Kellertreppe hochkommend, eine groteske Kurve durch die Küche lief. Ich hielt kurz inne, um die Situation zu verstehen, dann wurde mir klar: Ich war genau den gleichen Weg gelaufen wie seit ca. 37 Jahren, nur der Teewagen, dem ich sonst auf dieser Route elegant ausgewichen wäre, der war schon weg.

Sun In An Empty Room (after Edward Hopper).

Als es dann genug Stapel in genug Räumen waren (die genaue Anzahl der Zimmer meines Großelternhauses kennt nur der Makler, der es gerade verkaufen soll) und das Kind sich zielsicher eine hölzerne Dose, die in Omis Vokabular „Tinnef“ geheißen hätte, und eine Urkunde mit Unterschriften aller Mitarbeiter zu Opis 50. Geburtstag im November 1977 als Erinnerungsstücke ausgesucht hatte, haben wir alles zusammen- und rausgetragen. Es hängt ein bisschen von den potentiellen Käufer*innen ab, ob wir noch einmal in das Haus zurückkehren werden, aber es wäre auch okay, wenn es das jetzt gewesen wäre.

Apropos Vergangenheit und Ruhrgebiet: Für „Übermedien“ habe ich mir den Fernsehfilm „Smog“ von den Wolfgangs Menge (Buch) und Petersen (Regie) 50 Jahre nach seiner Erstausstrahlung angeschaut und war bei etlichen Szenen überrascht, wie sie heute wirken. uebermedien.de (Öffnet in neuem Fenster)

Was macht der Garten?

Nachdem unsere Nachbarin unsere Sämlinge erfolgreich über unsere Ferien gerettet hatte, haben wir die kleinen Racker in die großen Pflanztöpfe gesetzt und hoffen jetzt, dass die Tomaten, Zucchini, Chilis, Kohlrabis und anderen Pflanzen auch vernünftig gedeihen.

Was hast Du gehört?

Gar nicht mal so viel. 

Im sehr charmanten Podcast „People I (Mostly) Admire“ (Öffnet in neuem Fenster) war der großartige Rick Rubin zu Gast, legendärer Produzent legendärer Alben. Ihm zuzuhören ist wie immer eine Freude.

Was hast Du gesehen?

Das Kind guckt gerade die großartige Zeichentrickserie „Phineas & Ferb“ auf Disney+ (Öffnet in neuem Fenster), die ich noch nicht kannte, weil ich 2007 wahlweise zu alt oder zu jung für Zeichentrickserien war. Es geht um zwei Brüder im Grundschulalter, die irgendwelche Maschinen bauen; ein Schnabeltier, das eigentlich ein Geheimagent ist; einen Bösewicht mit dem phantastischen Namen Dr. Heinz Doofenshmirtz und nebenbei noch um ganz viel anderen Nerdkram und es ist wirklich, wirklich toll und sensationell lustig.

Was hast Du gelesen?

Okay: Ratgeber-Literatur interessiert mich nicht so richtig. Das Buch „Fühlen lernen“ (Öffnet in neuem Fenster) von Dr. Carlotta Welding habe ich trotzdem mit einigem Interesse gelesen, weil sich die Autorin dem Thema „Emotionen“ als studierte Linguistin aus einer überraschenden Ecke nähert: Ihr geht es zunächst einmal darum, dass Menschen überhaupt das richtige Vokabular haben, um über ihre Gefühle sprechen zu können. Und da wird es (zumindest für mich) schnell richtig spannend, denn wenn ich überlegen sollte, ob ich mich „lebensfroh“, „lebenslustig“, „frohlockend“, „erfreut“, „freudig“, „froh“, „fröhlich“ oder doch eher „gut gelaunt“ fühle, wäre ich erstmal ein paar Stunden beschäftigt. Mein Tipp: Erstmal dieses Buch lesen und den eigenen Wortschatz trainieren, dann in Therapie gehen. So spart man sich ein paar Sitzungen, in denen man dann stattdessen über zweit- und drittrangige Kindheitserlebnisse mit Trauma-Potential sprechen kann. Das Buch ist fast nebenbei ein Plädoyer für Differenzierung (und stellenweise ein Thesaurus) und das ist natürlich in Zeiten wie diesen besonders wertvoll.

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Weil meine Großeltern einen Pool im Keller hatten, bin ich außerhalb des Schulsports in Dinslaken nie irgendwoanders Schwimmen gewesen. Jetzt ist der Pool leer und das Kind und ich waren mit meinem Vater im neu (im Sinne von: 2011) eröffneten Hallenfreibad der Stadt. Das hat mit „DINamare“ zwar einen Namen, der sowohl der Witzelsucht (Öffnet in neuem Fenster) von Schwimmbadbetreibern als auch dem berühmten Dinslakener Humor (Öffnet in neuem Fenster) Rechnung trägt, aber ansonsten ist es dort sehr schön!

https://www.youtube.com/watch?v=kpwd1YLgDaM (Öffnet in neuem Fenster)

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Habt eine schöne Rest-Woche!

Always love, Lukas

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