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Wo ich bin, ist Gegenwart

Im Blick zurück entstehen die Dinge
Im Blick nach vorn entsteht das Glück
(Tocotronic)

110/∞

Gute Besserung!

Ich denke, das ist dieser Tage ein allgemeingültiger Gruß bzw. Wunsch, denn diejenigen unter Euch, die gerade nicht selbst von einer Atemwegserkrankung in die nächste stolpern, gehen vermutlich auf dem Zahnfleisch, weil die eigenen Kinder von einer Atemwegserkrankung in die nächste stolpern, während das deutsche Gesundheitssystem da ist, wo wir es die letzten drei Jahre auf keinen Fall haben wollten, weswegen wir das öffentliche Leben zwischenzeitlich mal komplett heruntergefahren hatten: am Anschlag.

Ich wäre jedenfalls bereit für einen neuen Lockdown — und das völlig unabhängig von der Lage in Krankenhäusern und Arztpraxen. Die „Rückkehr zur Normalität“, die 2022 darstellen sollte, hat mir gereicht: Anfang März war ich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder in einer Kneipe und hab mich prompt mit Covid angesteckt. Zwei Wochen später war ich zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren wieder im Stadion und das Spiel wurde abgebrochen, weil irgendein Pimmelkopf sein Bier auf den Linienrichter geworfen hatte. Da dämmerte mir: Vielleicht einfach besser auf der Couch oder im eigenen Garten bleiben, vielleicht keine Termine machen, vielleicht gerne alles, aber bitte nicht mehr das, was andere Menschen unter „Normalität“ verstehen! Wenn die letzten drei Jahre Ausnahmezustand war, weil wir uns was aus dem Tierreich geholt haben, könnten wir jetzt zur Abwechslung vielleicht mal das Konzept „Winterschlaf“ übernehmen statt ein Fledermausvirus?

Immerhin ist das Schul- und Arbeitsjahr auf den letzten Metern. Klar: Weihnachten bringt für viele noch mal eine ganz eigene Welle von Erwartungsdruck, Stress, Erinnerungen (unschönen oder welche an schöne Zeiten, die nicht mehr sind) und/oder Einsamkeit, aber „Noch fünf Tage! Noch fünf Tage, dann werden die beschissenen Tage endlich wieder länger! Ich hab so Bock!“ ruft Thees Uhlmann auf seinem neuen Livealbum, bevor er mit seiner Band den Song „Zugvögel“ anstimmt. Und morgen ist es noch einer weniger!

Ihr merkt: Ich bin schon voll im Jahresrückblicksmodus. Das kommt naturgemäß jeden Dezember, dieses Jahr aber besonders. Ich mag es ja, in einer Summe von Ereignissen nach Mustern, Konzepten und Überschriften Ausschau zu halten und diesmal drängt sich ein Motto auf, das ich auf das Jahr schreiben kann, nachdem ich es ordentlich in eine Kiste gestopft und in die hinterste Ecke meines Kellers gestellt habe: „Wo gestern und morgen sich treffen.“

Das könnte auch das Motto eines Evangelischen Kirchentags sein (ich hab grad gegoogelt und bin enttäuscht), aber ich hab auch meinen Zivildienst bei der Evangelischen Kirchengemeinde Dinslaken-Bruch abgeleistet (Öffnet in neuem Fenster) und mit dem Gedanken gespielt, Theologie zu studieren, also: bitte!

Zum ersten Mal kam mir der Gedanke in den Osterferien, als ich mit meiner kleinen Familie in Domburg war, also genau dort, wo ich mit meinen Eltern und Geschwistern so viele Sommerurlaube verbracht hatte. Ich ging abends allein durch die leeren Straßen der kleinen Stadt und dachte: „Hier war ich schon so oft: Zu jeder Ecke fällt mir eine Geschichte ein — mehr als zu meiner eigenen Wohnung oder meinem Elternhaus. Und jetzt bin ich mit meinem Sohn hier und wir können die Ecken nehmen, weiße Farbe drüber pinseln und neue Geschichten schreiben! Und wie großartig ist das bitte?! Wir. Können. Immer. Wieder. Neue. Geschichten. Schreiben.“

(Evangelischer Kirchentag. Ich hatte Euch gewarnt!)

Und das war im April. Im Juni wurde meine Omi schwächer und wir dachten jeden Tag, es würde ihr letzter werden. Das Leben stand plötzlich auf Pause und wir haben die Zeit mit ihr und den anderen Familienmitgliedern noch mal intensiv genossen. YOLO. Ende August konnten wir ihren Geburtstag noch einmal zusammen feiern: der letzte Song im Bademantel nach der Ehrenrunde nach der Nachspielzeit nach der Verlängerung. Die Vergangenheit hatte eh schon immer in meinem Großelternhaus gestanden, quite literally in Form von Möbeln und Gegenständen aus einem erfüllten Leben und den Generationen davor. Aber die Zukunft war genauso immer da gewesen und über besagte Möbel geklettert: Seit 1970, seit meine Großeltern in das Haus gezogen waren, war immer mindestens ein Familienmitglied jünger als zwölf Jahre alt gewesen; im Moment sind es zwölf.

Ab diesem Jahr wird Weihnachten in unserer Familie anders sein, aber erstens ist Weihnachten ja immer anders (Öffnet in neuem Fenster) und zweitens ist es bei aller Liebe, Trauer und Nostalgie ja auch toll, mal einen Anlass zu haben, um Traditionen auf den sogenannten Prüfstand zu stellen, über den Haufen zu werfen und neue zu erfinden (wobei uns sicherlich zugute kommt, dass im Ruhrgebiet alles, was zum 3. Mal stattfindet, als Tradition gilt).

Und dann beginnt nur wenige Tage nach Weihnachten ein neues Jahr: ein großes weißes Blatt Papier, ein Tag voller Möglichkeiten. (Öffnet in neuem Fenster) Natürlich enden nicht alle Probleme und Sorgen (Öffnet in neuem Fenster) mit einem Kalenderjahr, aber wenn das Finanzamt am 1. Januar bei null anfangen kann, kann der Mensch das auch!

„Wo gestern und morgen sich treffen“ könnte auch der Titel des neuen, finalen Albums von Pale sein, aber zum Glück singen die auf Englisch. (Ich krieg langsam etwas Angst, dass das wirklich noch ein Kirchentags-Motto wird und Mark Forster dann das gleichnamige Mottolied singt. Ich will da nichts mit zu tun haben!)

JEDENFALLS: Pale hatten sich 2009 eigentlich aufgelöst, 2019 wurde dann bei ihrem ehemaligen Gitarristen Christian ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger Stephan hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben.

Aus diesen Sessions und Erfahrungen ist aber trotzdem ein Album entstanden, das am 25. November erschienen ist, „The Night, The Dawn And What Remains“ heißt (Oxford-Comma-Fans gucken hier kurz enttäuscht auf das einsame Leerzeichen zwischen „Dawn“ und „And“) und absolut phantastisch ist (Grand Hotel van Cleef; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)).

Ich weiß nicht, ob man das Album auch so groß finden kann, wenn man nicht um die Hintergründe weiß, aber ich weiß ja davon und Ihr spätestens jetzt auch und von daher könnt auch Ihr darin jetzt gar nicht anderes mehr hören als eine einzige Feier des Lebens, der Freundschaft und der Musik. Wie ein Bengalo auf einer Beerdigung (Öffnet in neuem Fenster). Als hätten Jimmy Eat World, Japandroids und die E Street Band eine Jam-Session abgehalten, bei der dann plötzlich Simon den Hartog in der Tür stand.

Äh, ja, doch, echt: Der ehemalige Sänger der Kilians hat zwar fast eine ganze Dekade nicht gesungen, aber auf „Still You Feel“ kuschelt sich seine altbekannte, jung gebliebene Reibeisenstimme plötzlich an die von Pale-Sänger Holger Kochs und gemeinsam singen sie über große Gefühle, große Liebe und Heimatstädte. Ich wusste selbst nicht, wie dringend ich genau das gebraucht hatte, aber: Junge, war ich glücklich, als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe!

This is how it feels when nothing can ever make you stop / This is how it feels when nothing’s wrong.

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Nur noch wenige Tage bis Weihnachten und noch nicht alle Geschenke beisammen?

Wenn Ihr mein Buch über den Eurovision Song Contest (Öffnet in neuem Fenster) mit Widmung verschenken wollt, schickt mir schnell eine E-Mail (Öffnet in neuem Fenster) und wir kriegen das hin!

Was hast Du gehört?

Ich liebe das Grand Hotel van Cleef, seit dort vor 20 Jahren die erste kettcar erschien. Ich habe dort über die Jahre nicht nur großartige Musik, sondern auch echte Freundschaften gefunden. Aber einen solchen Lauf hatte auch mein erklärtes Lieblingslabel noch nie: An vier aufeinanderfolgenden Freitagen hat das GHvC (wie wir Indie-Hoschis sagen) vier sehr gute bis sensationelle Alben veröffentlicht!

Erst „nichts“ von FJØRT, ein dröhnendes, wachrüttelndes und reinigendes Brett (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster); s.a. letzter Newsletter (Öffnet in neuem Fenster)); dann besagtes Pale-Album (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)); dann „100.000 Songs — Live in Hamburg“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)), das Livealbum von Thees Uhlmann und Band, bei dem man zum Preis eines normalen Albums eine zweistündige Greatest-Hits-Compilation, ein Stand-Up-Comedy-Special und mehr Spielfreude bekommt, als feuerpolizeilich legal auf eine Bühne passen dürften (und das einzige Tour-Poster der Musikgeschichte, auf dem Dinslaken und Bochum drauf stehen); und dann kam letzte Woche noch „This Is Pop“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)), das zweite Album von Shitney Beers. Das ist dann auch endlich mal Musik von einer Frau und noch dazu welche, die klingt wie Courtney Barnett, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus! Kurzum: Käme Maxi Haug, die Frau hinter dem halb-witzigen Künstlernamen, aus Kanada oder den USA, wäre ihr Album längst bei allen wichtigen Musikmedien gefeiert worden. In Deutschland wird’s schon schwierig, wichtige Musikmedien zu finden.

Was hast Du gesehen?

Noch keinen einzigen Weihnachtsfilm, weswegen ich langsam etwas nervös werde (talking about Traditionen und sich nicht stressen lassen und so), aber Klassiker wie „Die drei Tage des Condor“ (sehr gut) und „The French Connection“ (nicht verstanden), wo immerhin zwischen Verschwörung und organisiertem Verbrechen auch mal Weihnachtsmänner auftauchen.

Außerdem habe ich, als ich vor und zwischen Nachtschichten nicht gescheit schlafen konnte, in der ARD-Mediathek die Reihe „Traumhäuser“ (Öffnet in neuem Fenster) entdeckt, in der - offensichtlich schon seit über zehn Jahren - Menschen beim Bau ihrer Eigenheime begleitet werden. Da ich Fernsehen, das mich nicht fordert, liebe und fast Architektur studiert hätte, ist das natürlich ein phantastisches Programm für mich: eine Mischung aus „Einmal im Leben“, den „Fussbroichs“ und „Selling Sunset“.

Viele, wirklich sehr viele, der Häuser entstehen in jenem an Bauhaus-Traditionen angelehnten Stil, der einzeln durchaus ansprechend ist, in Masse (und, machen wir uns nichts vor: wenn es nicht schnell ein Moratorium gibt, wird ganz Deutschland in ein paar Jahren so aussehen!) aber absolut deprimierend, und den jemand auf Twitter deshalb zu Recht und mit beeindruckender Präzision „Neue deutsche Trostlosigkeit“ (Öffnet in neuem Fenster) genannt hat. Es gibt aber auch Holzhäuser, Renovierungen und vor allem jede Menge Bauherr*innen, die mir durch den Bildschirm mitteilen: Schon gut, dass Du nicht Architektur studiert hast!

Was hast Du gelernt?

Die deutsche Stimme von Darth Vader ist Heinz Petruo (Öffnet in neuem Fenster), Großvater von Vany von den No Angels.

https://www.youtube.com/watch?v=feipzHyEXgw (Öffnet in neuem Fenster)

Noch mehr tolle Weihnachtssongs gibt's auf meiner Spotify-Playlist (Öffnet in neuem Fenster), die regelmäßig aktualisiert wird.

Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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