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Welt ging verloren
Christ ist geboren

Good evening, Europe!

Es war der 21. Dezember um 16.03 Uhr, als die Wohnungstür ins Schloss fiel und Lukas Heinser seine nachtblaue Winterjacke, die bei Außentemperaturen von neun Grad viel zu warm gewesen war, an den zweiten Kleiderhaken von links hängte. Alle Weihnachtsbesorgungen waren erledigt, so früh wie noch nie.

Und damit herzlich Willkommen beim „Spiegel“!

Scherz! Aber so früh wie in diesem Jahr hatte ich den Krempel tatsächlich noch nie beisammen: Das letzte Geschenk war vergangenen Freitag geliefert worden und jetzt hatte ich sogar schon alle Lebensmittel eingekauft — und das nicht nur für drei Tage, sondern mindestens drei Wochen!

Es gab Jahre, da habe ich am kurz vor Weihnachten noch Konzerte (Öffnet in neuem Fenster) gespielt oder Live-Podcasts (Öffnet in neuem Fenster) produziert — aber warum sollte ich im Jahr 2020 jetzt noch die Wohnung verlassen?!

Vor uns liegt ein Weihnachtsfest, das so anders ist, als wir es gewohnt sind — so zumindest der Tenor in Medien, Politiker*innen-Statements und persönlichen Gesprächen. Dabei ist „anders sein“ bei aller Tradition etwas, was Weihnachten ebenso ausmacht wie unverheiratete Großonkel. Klar: Alle glücklichen Weihnachtsfeste gleichen einander, aber wie viel Prozent Übereinstimmung braucht es analog zur DNA-Analyse in der Forensik, damit es ein Weihnachten „wie immer“ ist?

Da war das Jahr, wo ich mich an Heiligmorgen erbrach, nicht mit in die Kirche konnte und Familienessen und Bescherung auf der Couch verbrachte; das letzte Weihnachten in der alten Wohnung und das erste im neuen Haus. Das Jahr, in dem mein Großvater erklärte, dass es ihm zu anstrengend geworden sei, der Verteilung und Entpackung der Geschenke Dritter beiwohnen zu müssen, weswegen es ab da nur noch sorgsam beschriftete Kuverts mit Geldscheinen gab. Oder das letzte „richtige“ Weihnachten, so wie wir es gewohnt waren: drei Kinder, Mama und Papa und die drei Großeltern. Das war im Jahr 2011 und meinem Tagebuch entnehme ich, dass es schon damals „nicht mehr dasselbe“ war, weil der Gemeindepfarrer, der uns alle getauft und konfirmiert hatte, zwischenzeitlich in den Ruhestand gegangen war. Als mein Großvater im Jahr 2017 bei seiner alljährlichen Weihnachtsansprache auf die sonst übliche Schlussformel „... und hoffen wir, dass der Liebe Gott uns nächstes Jahr noch einmal an dieser Stelle hier zusammenführt“ verzichtete, wussten wir alle, dass es das letzte Weihnachtsfest mit ihm sein würde. Was niemand ahnen konnte (außer er selbst, womöglich): 96 Stunden später war er tot.

Für mich ist erst Weihnachten, wenn ich am Nachmittag des Heiligen Abends „Patience“ (Öffnet in neuem Fenster) von Take That gehört habe — ein Song, der nun wirklich unter keinen Umständen ein Weihnachtslied ist. Der Grund dafür ist gleichermaßen banal wie magisch (also wie das Leben selbst): Ende 2006 lief die große Comeback-Single der einstigen Boyband im Radio rauf und runter — so auch auf der Rückfahrt vom Weihnachtsgottesdienst zu unserem Elternhaus im Radio. Ein Jahr später saßen wir Kinder gemeinsam in Mamas altem Ford Fiesta, fuhren wieder von der Kirche zu den Eltern und im Radio lief wieder dieser Song, was - angesichts einer fünfminütigen Autofahrt und einer selbst bei WDR 2 mehr als einstelligen Zahl von Liedern in den Rotationslisten - dann doch mindestens ein erstaunlicher Zufall war. In den Folgejahren ging ich auf Nummer Sicher, brachte den Song auf meinem iPhone mit nach Dinslaken und spielte ihn auf dem Weg von der Innenstadt nach Eppinghoven ab. Das ist vielleicht drei, vier Mal passiert und ich war über 20, als es begann, aber es ist mehr Weihnachtstradition als der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, von dem ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Minute gesehen habe.

Was ich meine ist: Weihnachten ist immer anders und im Grunde genommen dann auch immer ähnlich, weswegen Komödien über Familienweihnachten auch so gut funktionieren: Weil sie die freiwilligen und unfreiwilligen Rituale; die Freude und das Elend; die Wiederholungen, die alle so lange mit den Augen rollen lassen, bis sie nicht mehr stattfinden und die Augen fürderhin nicht mehr gerollt, sondern feucht werden; und den Versuch, Weihnachten „wie immer“ begehen zu wollen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbrechen und in der tragischen Pointe gipfeln, dass Weihnachten eben leider genauso wird wie immer.

Douglas Adams hatte in den 1980er Jahren die Idee (Öffnet in neuem Fenster), ein Computerprogramm zu entwickeln, das die stets deckungsgleichen Aussagen des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan von alleine reproduziert, mit dem Fernziel, irgendwann sämtliche wichtigen Politiker*innen durch Künstliche Intelligenzen zu ersetzen, die sich dann miteinander unterhalten. Adams konnte Donald Trump nicht vorhersehen, aber er hat im Grunde genommen Facebook und Twitter vorweggenommen, wo sich jede Menge Bots und einzelne verwirrte, einsame Seelen in einem fortwährenden Nicht-Dialog befinden. Aber wenn die Menschheit ausstürbe (ein Gedanke, der, bei Licht besehen, selten so naheliegend war wie im Jahr 2020), könnten Spotify-Playlisten, Streamingdienste und die zentralen Logistik-Programme der Backwaren-Industrie jährlich ein Weihnachtsfest emulieren. Roboter an verwaisten Produktionsstraßen würden sich mit Tassen voller Glühwein, auf denen „Weihnachtsmarkt Münster 1993“ steht und deren Henkel schon etwas beschädigt sind, zuprosten und sich - wo technisch möglich - gegenseitig unangemessen berühren, während Smart-Home-Geräte die Wohnungen in allen Farben des Regenbogens blinken lassen.

Und irgendwo würde eine Kaffeemaschine beseelt denken: „Alles wie immer!“

Früher sind Tom Thelen und ich ins Kino gegangen oder in die Kneipe — manchmal beides an einem Abend und manchmal haben wir unsere Gespräche über das gerade Gesehene mit dem iPhone aufgenommen und als Podcast veröffentlicht.

2020 war ich kein einziges Mal im Kino. Aber weil wir schon auf den ESC, den Sommerurlaub und Weihnachten mit der Großfamilie verzichten müssen; weil wir seit 2012 in jedem Kalenderjahr noch wenigstens eine Folge veröffentlicht haben; weil wir dachten, Ihr habt in den nächsten Tagen vielleicht viel Zeit und könnt noch ein paar Empfehlungen für die großen und kleinen Serien gebrauchen, haben wir uns vor unsere Computer gehockt und die längste bisher dagewesene Folge (Öffnet in neuem Fenster) von „Cinema And Beer“ aufgenommen: „Zwei weiße Dudes reden über Serien — Das Musical“! (Apple Podcasts (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)).

Was hast Du gehört? Nachdem sie im Juli mit „folklore“ sehr spontan ein sehr gutes Folk-Album mit vielen Gaststars veröffentlich hatte, hat Taylor Swift vor zwei Wochen mit „evermore“ (Spotify, Apple Music) spontan ein sehr gutes Folk-Album mit vielen Gaststars veröffentlicht. Vielleicht macht sie das, um uns, die wir schon froh waren, wenn wir in diesem Jahr eine Wand gestrichen haben, zu beschämen; vielleicht, damit Menschen, die sich nicht für Fußball oder das Wetter interessieren, in diesen Zeiten auch noch ein normales Gesprächsthema haben. Diesmal ist der Überraschungseffekt vielleicht nicht ganz so groß und „folklore“ hatte mehr Zeit, um seine ganze Grandiosität zu entfalten, aber es sind einfach wieder sehr schöne Songs (u.a. mit HAIM und The National, wie man das halt so macht) dabei — und ich habe natürlich auch die Sekundärliteratur natürlich schon (Öffnet in neuem Fenster) wieder (Öffnet in neuem Fenster) durchgearbeitet. Außerdem toll: Bei „Switched On Pop“ haben sie gemeinsam mit Chilly Gonzales „Last Christmas“ (Öffnet in neuem Fenster) auseinandergenommen, ein Song, der so viel besser ist als sein Ruf.

Ich mag das Radio-Genre „Prominente bringen ihre Lieblingssongs mit und erzählen aus ihrem Leben“ wahnsinnig gerne. Bei Radioeins ist das die Sendung „Hörbar Rust“ und in der aktuellen Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) hat Bettina Rust die Schriftsteller Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre zu Gast, die gerade einen gemeinsamen Gesprächsband herausgegeben haben, wie vermutlich jeder Mensch weiß, der schon mal das Wort „Instagram“ gehört hat.

Noch toller: Die Sendung „Zwischentöne“ (Öffnet in neuem Fenster) vom Deutschlandfunk, in der Christian Drosten zu Gast ist. Ich kannte den Namen und das Bild des Virologen natürlich aus den Medien, hatte aber noch nie seine Stimme gehört (wenn ich in einem Flugzeug sitze, möchte ich nicht hören, worüber die Pilot*innen reden — ich möchte, wenn's geht, lebend am Ziel ankommen und das reicht mir dann schon als Einblick in die Aviatik). Hier spricht er jetzt über Musik, die er mag, seine Arbeit und irgendwie auch über sich selbst — und das ist ein wahnsinnig beeindruckendes, fast verstörendes Dokument, weil man ja normalerweise gewohnt ist, dass in solchen Unterhaltungssendungen Menschen mit einem gewissen Sendungsbewusstsein zu Gast sind. Drosten hat aber - zumindest hier - keines, null. Ich habe noch nie in einem großen Medium einen Mann sprechen gehört, der weniger Alphamännchen war und der auch so offensichtlich keinen besonders gut funktionierenden Filter hatte, an welcher Stelle man üblicherweise nicht mehr weiterredet oder ausweicht. Ihm ist der Medienrummel um seine Person weniger suspekt als vielmehr - der Horror für Menschen in den Medien! - egal. Ein Mann, dessen Spezialgebiet zufälligerweise gerade im Brennpunkt des weltweiten Interesses steht, erzählt von seiner Arbeit und spielt Musik von Blumfeld, Van Halen und Bach und man weiß gar nicht, womit man diese rührende Unschuld vergleichen soll.

Was hast Du gesehen? Im letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) hatte ich nur über die begleitende Dokumentation zu „Das Geheimnis des Totenwaldes“ geschrieben, inzwischen habe ich auch den ARD-Mehrteiler selbst in der Mediathek (Öffnet in neuem Fenster) gesehen. Es geht, wie gesagt, um die fiktionalisierte Version der sogenannten „Göhrde-Morde“ und um das Verschwinden der Schwester des Kriminalpolizisten und Leiters des LKA Hamburg, Wolfgang Sielaff, der hier Thomas Bethge heißt und von Matthias Brandt gespielt wird. Die Schauspieler*innen sind fast durch die Bank großartig, der Look und Sound sind sehr bedrückend und insgesamt hat es mich - auch, weil ich vorher schon wusste, wie es endet, es aber dennoch zwischendurch wahnsinnig spannend wurde - ein wenig an David Finchers „Zodiac“ erinnert, was aber nur anerkennend gemeint ist.

Bei Prime Video habe ich „Rocket Man“ (Öffnet in neuem Fenster) geschaut, das Elton-John-Biopic mit Taron Egerton als Elton John und Jamie Bell als Bernie Taupin. Der Film unterscheidet sich insofern von „normalen“ Musiker-Biopics, als das Leben seines Protagonisten hier zwischendurch auch in sehr bunten, sehr durchchoreographierten Musical-Nummern erzählt wird, und hat mir sehr gut gefallen.

Bei Starzplay, einem dieser seltsamen Kanäle, die man bei Prime Video dazubuchen kann, läuft „High Fidelity“ (Öffnet in neuem Fenster), die Serie zum Film zum Buch. Anders als in der vorherigen Inkarnationen ist die Hauptfigur hier kein weißer Mann, sondern eine Schwarze Frau — ansonsten geht es immer noch um einen Plattenladen, Popkultur und Beziehungen, aber alles deutlich diverser. Because it's 2020. Die zehn halbstündigen Folgen sind von sound, look, and feel wie eine Coverversion des 2000er Films, den ich immer noch sehr mag, aber im „Fleabag“-Remix. Ich hab's sehr geliebt und überlege, meine 14-tägige, kostenlose Starzplay-Testphase über die Feiertage einfach für einen zweiten Durchlauf der gut fünf Stunden zu nutzen.

Ich muss gestehen, dass ich mir eine Netflix-„Serie“ (drei Mal 45 Minuten — was ist eigentlich mit dem klassischen Zwei-Stunden-Film passiert?!) mit Luke Mockridge jetzt eigentlich eher nicht angeschaut hätte. Aber der Regisseur Tobi Baumann hatte seinen Durchbruch mit dem BILDblog-Werbespot (Öffnet in neuem Fenster) und den Postcards (Öffnet in neuem Fenster) für den ESC in Düsseldorf und aus dieser alten Verbundenheit hab ich mir „Über Weihnachten“ also angeschaut. Der Topos ist so bekannt wie die Weihnachtsgeschichte selbst: Die Familie kommt an den Feiertagen zusammen und es gibt alte und neue Konflikte. Einen Originalitätspreis gewinnt man damit nicht zwangsläufig, aber es ist einfach eine charmante Weihnachts-Serie, in der fast all das passiert, was man in einer Komödie über Familienweihnachten sehen möchte. Und das ist in diesem Jahr fast mehr, als man erwarten und verlangen kann.

Was hast Du gelernt? Es ist überraschenderweise gar nicht so kompliziert, gebrannte Mandeln selber zu machen!

https://www.youtube.com/watch?v=IvO07TQ-4sc (Öffnet in neuem Fenster)

Ich wünsche Euch und Euren Lieben trotz allem frohe und besinnliche Weihnachten im kleinen Kreis, Gesundheit und uns allen ein besseres Jahr 2021!

Herzliche Grüße,
Euer Lukas

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