It's been a long December and there's reason to believe
Maybe this year will be better than the last
Good evening, Europe!
Frohes Neues Jahr!
Ja, das kann man noch sagen; das neue Jahr hat doch eben erst begonnen. So sehr ich ja eigentlich auch die Idee der Abrechnung am Silvesterabend mag, so deutlich hat das Jahr 2020 doch gezeigt, dass sich der Weltengang im Allgemeinen eher wenig dafür interessiert, ob wir uns alle einen neuen Taschenkalender gekauft haben: Die Pandemie war an Neujahr noch da und Donald Trumps rechtsextreme Anhänger auch, was sich ja deutlich zeigte, als sie am 6. Januar das Capitol in Washington stürmten. Sofort brachen sich angesichts der verstörenden Bilder wieder die halb ironischen, halb ernst gemeinten Online-Kommentare Raum: Das Jahr 2021 sei bereits gescheitert, es ginge ja einfach alles weiter!
Behörden kennen Stichtage, Erfassungszeiträume und feuerpolizeiliche Obergrenzen, aber wer so etwas wie Emotionen hat wird, wenn man mal genau nachdenkt, kaum eine Situation benennen können, in der das Eine aufhört und das Andere beginnt: Das Schlimmste an einem Umzug ist ja meist, dass man doch noch mal in die alte Wohnung muss, um Lampen abzunehmen, Löcher zuzugipsen und zu saugen (obwohl „besenrein“ für die Übergabe reichen würde). Nach Trennungen trifft man sich noch mal zur Übergabe von Klamotten (oder lässt diese, wenn es besonders schlimm war, von Freund*innen abwickeln wie einen Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke); beim Abschied von einem geliebten Menschen ist der entscheidende Moment oft weniger dessen biologischer Tod als die Grablegung. Selbst auf dem Fußballplatz gehören die Linien zu den Räumen, die sie begrenzen.
Und so endete das Seuchenjahr 2020 dann in den Abendstunden des 20. Januars 2021: Zum einen, weil die Fußball-Bundesliga erst hier ihre Hinrunde beendete (in welcher der FC Schalke 04 in 17 Spielen weniger Punkte gesammelt hatte als Gegentore im allerersten Spiel), zum anderen aber natürlich und zuallererst, weil auf den Stufen des Capitols in Washington - dort, wo genau 14 Tage zuvor ein rechter Mob in den Sitzungssaal des Senats eingebrochen war - Joseph R. Biden, jr. als 46. Präsident der USA vereidigt wurde.
Unverhofftes zentrales Element war dabei jener Mann (Öffnet in neuem Fenster), der alle zwei Minuten ans Rednerpult trat, um es mit antiviralen Tüchern für die nächste Person zu desinfizieren. Er wirkte wie eine Allegorie der gesamten Amtseinführung, der Bildspender für die große Metapher der Biden-Präsidentschaft: Jetzt wird aufgeräumt, sauber gemacht und in Ordnung gebracht. Dabei stellten eigentlich alle Redebeiträge, von Am Klobuchar bis zur Antrittsrede des Präsidenten selbst, klar, dass es nicht nur um eine Wiederherstellung der oberflächlichen Ordnung in der Zeit vor Donald Trump geht, sondern um die Entstehung einer „more perfect union“, wie sie in der Präambel der Verfassung (Öffnet in neuem Fenster) der Vereinigten Staaten formuliert wird.
Und nichts hätte das besser ausdrücken können als die 22-jährige Dichterin Amanda Gorman, die das offizielle inaugural poem geschrieben und vorgetragen hat:
Wenn es je einen Moment in der Geschichte gegeben hat, in dem ein Gedicht den Stellenwert eines Siegs der eigenen Mannschaft bei der Fußball-WM erreichen oder gar übertreffen konnte, dann waren wir gestern dabei:
Somehow we've weathered and witnessed
a nation that isn't broken
but simply unfinished
We the successors of a country and a time
Where a skinny Black girl
descended from slaves and raised by a single mother
can dream of becoming president
only to find herself reciting for one
And yes we are far from polished
far from pristine
but that doesn't mean we are
striving to form a union that is perfect
Die maximale Verschränkung von Politik, Geschichte, Hiphop und Poesie schaffte Amanda Gorman dann, indem sie noch eine Referenz auf „Hamilton“ einbaute, unser aller Lieblings-Hiphop-Musical über amerikanische Geschichte.
Auch sonst gab es in den ersten 19 Tagen des Januars eigentlich keine Anhaltspunkte dafür, dass ein neues Jahr begonnen haben könnte: Ich fürchte mich ja normalerweise seit meiner Kindheit vor dem letzten Ferientag, an dem die feierliche Atmosphäre von Weihnachten und Silvestern endet und nach dem die Schule bzw. der Alltag wieder losgehen. Nun: Unser Tannenbaum steht noch, weil die Sternsinger noch nicht hier waren (ich aber wohl bei ihnen (Öffnet in neuem Fenster)) und die Schule hat auch noch nicht begonnen, weil wir - wie Millionen andere Familien - natürlich mitten im „Homeschooling“ stecken. (Das Wort „Distanzunterricht“ liefert sich im Moment mit dem Begriff „Solo-Sex" ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen um die Auszeichnung als mein persönliches Oxymoron des Jahrhunderts; einen spannenden Debattenbeitrag zum „Homeschooling“ bzw. der ganzen Sinnlosigkeit dahinter habe ich im Blog „Der Kompass“ (Öffnet in neuem Fenster) gelesen.) Mit Alltag im engeren Sinne rechne ich nicht vor April/Mai.
Dieser Limbus fühlt sich aber eigentlich ganz schön an (klar: weil wir das Privileg haben, diesen permanenten Ausnahmezustand in unsere Leben integrieren zu können). Das Kind und ich haben uns im Instrumentenbau versucht (Öffnet in neuem Fenster), wir haben den ersten Schneetag seit zwei Jahren genossen (Öffnet in neuem Fenster) und sehr viel Fußball geguckt (Mainz - Bochum, Gladbach - Bayern, Kiel - Bayern — die drei großartigsten Fußballspiele meines Lebens habe ich jetzt innerhalb von drei Wochen gesehen und der VfL war für zwei Tage Tabellenführer!). Das Kind vermisst natürlich trotzdem seine Freund*innen und sogar mir ist irgendwann aufgefallen, dass ich mit ein paar Sozialkontakten vielleicht besser dran wäre. Ansonsten haben die letzten Wochen und Monate einmal mehr bestätigt, dass ich mich im einstweiligen Ruhestand total wohl fühlen würde — vorher sollte ich nur vielleicht noch einen Bestseller schreiben oder im Lotto gewinnen.
Was hast Du gehört? „Honeymoon Phase“ von OSKA (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Der Song „Distant Universe“ war mir im vergangenen Jahr vom Spotify-Algorithmus vorgestellt worden (und wird sich auf meiner Jahresbestenliste, wenn sie denn erst mal fertig ist, ziemlich weit oben befinden), jetzt ist gerade eine EP mit vier weiteren Songs erschienen. Musikalisch und inhaltlich bewegt sich OSKA zwischen den Frühwerken von Emmy The Great und Madeline Juno: melancholischer Pop, dessen Texte über Liebe und Beziehungen für Menschen über 30 manchmal etwas rührend naiv wirken — aber OSKA ist auch erst 24 Jahre alt. Eigentlich heißt sie Maria Burger und stammt aus dem Burgenland. Dass mich das überrascht hat, nervt mich schon wieder selbst, denn warum soll eine junge Österreicherin nicht klingen wie jemand aus England, Skandinavien oder den USA?
Als einer der letzten Männer der Bundesrepublik hat ein Kollege von mir jetzt auch mit seinem eigenen Podcast angefangen. Weil er Peter Urban heißt und in „Urban Pop“ (so viel Wortwitz muss sein! — ARD Audiothek (Öffnet in neuem Fenster), Apple Podcasts (Öffnet in neuem Fenster)) sein ganzes musikjournalistisches Wissen, das er sich in mehr als 50 Jahren und einer Doktorarbeit über Rock-and-Roll-Texte angeeignet hat, in die Waagschale wirft, ist es ein sehr lehrreicher, unterhaltsamer Podcast, der zwischenzeitlich zu Recht die Apple-Podcast-Charts in der Kategorie „Musik“ angeführt hat.
Was hast Du gesehen? „ (Öffnet in neuem Fenster)Soul“ (Öffnet in neuem Fenster) ist der neueste Animationsfilm von Pixar, der - wollen wir es gemeinsam sagen? - wegen Corona nicht im Kino veröffentlich wurde, sondern bei Disney+. Es geht darin um die Begeisterung für Musik, um das Leben und den Tod und um das, was einen antreibt. Das ist jetzt etwas schwach beschrieben, aber wenn Ihr „Alles steht Kopf“ oder „Wall-E“ lieber mochtet als „Die Unglaublichen“ oder „Toy Story“, dann ist „Soul“ Euer Film!
Bei Netflix gibt es „Salt, Fat, Acid, Heat“ (Öffnet in neuem Fenster), die Doku-Reihe zum Kochbuch von Samin Nosrat. Das klingt erst mal etwas merkwürdig, aber in ihrem (wahnsinnig erfolgreichen) Kochbuch vertritt Samin Nosrat ja die These, dass es eigentlich nur vier wichtige Faktoren für Essen gibt: eben Salz, Fett, Säure und Hitze. In vier Episoden wird in schönen Bildern erklärt, gekocht und gegessen — und jetzt kann ich es noch weniger erwarten, endlich wieder andere Menschen zu bekochen!
Ebenfalls bei Netflix habe ich „Pretend It's A City“ (Öffnet in neuem Fenster) geschaut, eine Art Autobiographie in sieben halbstündigen Episoden, in denen die Schriftstellerin Fran Lebowitz über ihr Leben, ihre Arbeit (sie hat seit Jahrzehnten nichts mehr geschrieben) und die Stadt New York spricht — und zwar mit Martin Scorsese. Ich hatte Fran Lebowitz schemenhaft auf dem Radar, ihr Name und ihr Bild sagten mir irgendwas, aber ich hatte (me being me: natürlich) nichts von ihr gelesen. Jetzt bin ich glühender Verehrer. Es ist ein bisschen schwierig, das Format zu beschreiben, aber wenn Ihr nur ein bisschen wie ich seid, werdet Ihr danach Fran-Lebowitz-Fans sein, Euch nur noch mit Euren intellektuellen Freund*innen zum angeregten Plausch in einem Clubhaus treffen und natürlich sowieso überhaupt in New York leben wollen!
Außerdem habe ich zwischen Weihnachten und Neujahr natürlich pro Tag etwa 16 Stunden Reisedokus im Fernsehen geschaut, denn dafür ist diese Zeit schließlich erfunden worden!
Was hast Du gelesen? In unserem Book Club (da fühlt man sich doch gleich ein bisschen wie Fran Lebowitz!) haben wir „Mask Off“ von JJ Bola vorgenommen. In diesem eher essayistischen Büchlein geht es um Männlichkeit, oder, wie der Autor später selbst schreibt: „Männlichkeiten“, denn es läuft freilich darauf hinaus, sich von überlieferten Geschlechterrollen zu befreien. (Der deutsche Titel lautet etwas sinnlos „Sei kein Mann“ und die Übersetzung des Textes soll nicht viel besser sein, haben die gesagt, die es auf Deutsch gelesen haben.) In dem Buch kam wenig vor, was ich noch nicht zuvor gehört, gelesen oder selbst gedacht hätte, aber wir waren uns einig, dass es als Einstieg in das Thema für Jugendliche und die eigene Elterngeneration sehr gut geeignet sein müsste.
Wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl im November lud Rudy Giuliani, der maximal unseriöse Anwalt von Donald Trump, in Philadelphia zu einer Pressekonferenz, auf der er Beweise für einen Wahlbetrug zu Ungunsten seines Mandanten präsentieren wollte. Dieses Event fand auf dem Hof des Gartenbaubetriebs „Four Seasons Total Landscaping“ in der Nachbarschaft eines Krematoriums und eines Porno-Buchladens statt und galt vielen als perfekte Metapher für das chaotische Ende der Trump-Präsidentschaft — hatte der Ort doch mutmaßlich eigentlich das irgendwie angemessenere Four-Seasons-Hotel sein sollen. Olivia Nuzzi hat für das „New York Magazine“ (Öffnet in neuem Fenster) versucht, aufzuschreiben, wie es zu dieser Verwechslung kommen konnte:
“This is all very us,” another campaign official said. “I’m not shocked or surprised at all.” If luck is what happens when preparation meets opportunity, this was the opposite. “That’s how you get the Four Seasons fucking Total Landscaping bullshit.”
Ich möchte nicht übertreiben, aber es ist einer der besten, lustigsten, meta-eskesten Texte, die ich je gelesen habe!
Tony Mortimer von East 17 ist inzwischen auch schon 50 Jahre alt, Großvater, nicht mehr ganz so sportlich wie zu Glanzzeiten der Boyband — und seit Beginn des ersten Lockdowns begeisterter Leser, wie er dem „Guardian“ (Öffnet in neuem Fenster) erzählt hat. Es ist eine merkwürdig rührende kleine Geschichte über die Magie des Lesens und darüber, dass es nie zu spät ist, etwas Neues anzufangen.
Was hast Du gelernt? Wenn der Lieblingsverein des eigenen Kindes Tabellenführer ist, ist das noch toller, als wenn der eigene Lieblingsverein auf Platz 1 steht!
Ich wünsche Euch und Euren Lieben das beste 2021 aller Zeiten!
Herzliche Grüße,
Euer Lukas