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Thanksgiving

Reruns all become our history
(Goo Goo Dolls)

109/∞

Good evening, Europe!

Heute ist der Tag, an dem der amerikanische Teil meiner Familie Thanksgiving begeht, und es gehört für mich zu den großen Rätseln der Menschheit, warum Halloween, American Football und Junggesell*innenabschiede via Popkultur Einzug in den bundesrepublikanischen Alltag gefunden haben, aber dieses famose Fest nicht. Selbst der Black Friday, also die traditionelle Eröffnung des Weihnachtsgeschäfts mit absurden Rabatten, die jedes Jahr am Tag nach Thanksgiving stattfindet, hat es in verschiedensten Ausprägungen nach Deutschland geschafft (keine Kapitalismuskritik an dieser Stelle — für viele Menschen ist gerade die Zeit, halbwegs preiswert an Dinge und vor allem Geschenke zu kommen, die sich sonst nicht leisten könnten), aber halt ohne den Feiertag davor.

Wie beinahe alles in der US-amerikanischen Geschichte ist auch Thanksgiving natürlich nicht ganz unproblematisch (Öffnet in neuem Fenster) und wie jede Tradition birgt es das Risiko, zu einem stressigen, mit Erwartungen überfrachteten Ritual zu gerinnen, aber wenn man es richtig begeht (also: so wie meine Familie), ist es ein Quell wahrer Freude: Stellt Euch vor, man würde ein großes Fest im Kreise seiner Liebsten (actual results may vary) feiern, an dem es den ganzen Tag nur Essen gibt und bei dem der Teil, der die Vorweihnachtszeit so ermüdend macht - die Planung und der Erwerb von vielen, vielen Geschenken -, komplett fehlt!

Soll man Thanksgiving also in Deutschland einführen? Ich plädiere herzhaft für Auf keinen Fall! Kalendarisch verordnete Gefühlsausbrüche gehen - Stichwort Karneval - selten gut und im späten November gibt es - Stichwort Karneval - sowieso schon überdurchschnittlich viele Geburtstage, die begangen werden wollen. Es ist ja auch schön, wenn es in Zeiten der Globalisierung noch Dinge gibt, die für ein bestimmtes Land stehen, und alle, die heute (oder am Wochenende) in Deutschland einen Truthahn in den Ofen schieben wollen, können auch das gerne tun.

Aber zu Thanksgiving gehört auch, kurz in sich zu gehen, zu überlegen und auszusprechen, wofür man (in diesem Jahr oder generell) dankbar ist — was man natürlich jederzeit tun könnte, aber man könnte auch jederzeit die Wohnung putzen oder die Steuererklärung machen, also!

Ich bin zum Beispiel dankbar

  • für meine kleine Familie und dafür, dass es den Menschen, die mir wichtig sind, im Großen und Ganzen gut geht.

  • dass wir in einem Land leben, das nicht von einem seiner Nachbarländer besetzt und überfallen wurde; in dem nicht regelmäßig Raketen einschlagen oder Amokläufe stattfinden; in dem Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer und in dem man lieben darf, wen man will. (Und natürlich gibt es immer noch wahnsinnig viel an diesem Land, seiner Gesellschaft und Politik zu kritisieren - gerade, was die letzten Punkte angeht -, aber auch das können wir tun, ohne Angst haben zu müssen, dafür verfolgt, ins Gefängnis gesteckt oder getötet zu werden.)

  • dass ich noch so viel Zeit mit meiner Omi verbringen konnte und dass Ihr mir so viele nette E-Mails und Nachrichten zu meinem letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) geschickt habt, in dem ich über ihren Tod geschrieben hatte. Das bedeutet mir sehr viel!

  • dass ich mir absolut sicher bin, genug Menschen in meinem Umfeld zu haben, die mich beiseite nehmen und wohlwollend auf mich einreden würden, wenn ich Gefahr liefe, die völlig falschen Dinge zu tun — ein Glück, das Menschen wie Elon Musk oder Gianni Infantino offenbar nicht haben.

  • dass ich in meinem Leben nur auf zwei Junggesellenabschieden war und aller Voraussicht nach nie als Trauzeuge eingezogen werde.

  • dass es Redaktionen gibt, die mich fast eine ganze Zeitungsseite vollschreiben lassen über den englischsprachigen Podcast eines in Deutschland eher unbekannten TV-Moderators über Trauer und Tod (FAZ.net (Öffnet in neuem Fenster), kostenpflichtig).

  • dass ich meine kleine Podcast-Reihe „Woher kennen wir uns?“ (Öffnet in neuem Fenster) starten konnte, die mir wirklich immer noch sehr viel Spaß macht und in deren aktueller Folge die Malerin Katia Kelm zu Gast ist.

  • dass es so viel großartige Kunst und vor allem Musik gibt und jede Woche noch mehr dazukommt — zum Beispiel dieser (Öffnet in neuem Fenster) phantastische Song, für den die Band Titus Andronicus Billy Joels „Piano Man“ einen neuen, weihnachtlichen Text verpasst hat. We’re all in the mood for a rum pum pum pum!

  • dass ich dieses Jahr ein Buch (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlichen durfte und dass das tatsächlich Menschen gekauft haben — sogar mehr, als ich persönlich kenne.

  • dass Ihr diesen Newsletter (mutmaßlich) bis hierhin gelesen habt, obwohl ich schon wieder fast bei fünftausend Zeichen angekommen bin.

Was hast Du gehört?

Vor fünf Wochen haben zwei der ganz großen Queens of Pop an einem Tag ihre neuen Alben veröffentlicht: Taylor Swift „Midnights“ (Republic Records/Universal; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) und Carly Rae Jepsen „The Loneliest Time“ (School Boy/Interscope; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Es sind, so viel werde ich sagen, beides nicht unbedingt die besten Alben der jeweiligen Künstlerinnen, aber es sind grundsolide Pop-Alben mit einigen großartigen Songs. Besser gefällt mir allerdings „Palomino“ (Columbia Record/Sony; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)), das neue Album von First Aid Kit.

Eine völlig andere Baustelle ist „nichts“, das neue Album von FJØRT (Grand Hotel van Cleef; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Menschen, die nicht so mit Musikgenres vertraut sind und nicht ganz so genau hinhören, würden es an manchen Stellen vielleicht sogar mit Baustellenlärm vergleichen, dabei ist es „Post-Hardcore“ oder, wie ich es nenne: reine Energie. Ich habe das Album zum ersten Mal morgens im Fitnessstudio gehört, als gerade die Sonne übertrieben dramatisch aufging, und ich würde sagen, dass war eine ganz angemessene Atmosphäre.

Was hast Du gesehen?

„Wetten, dass..?“ Ich habe gerade noch mal nachgeschaut, was ich letztes Jahr über das „einmalige Revival“ geschrieben (Öffnet in neuem Fenster) hatte, und alles davon gilt eigentlich erneut. Thomas Gottschalk allerdings fiel mir in diesem Jahr noch negativer auf — und das gar nicht in erster Linie, weil er in jedem Satz erklärte, dass er ja „von gestern“ sei; sich immer wieder überrascht zeigte, dass junge Menschen, die heutzutage Erfolg haben, auch talentiert sein können, und er auch sonst unangenehm onkelig, also wie immer, war. Sondern, weil er so maximal unvorbereitet durch die Sendung lief, als wäre es die erste Stellprobe. Ich weiß ja so ungefähr, wie viel Arbeit in so einer Show steckt; wieviel Vorbereitung das im Vorfeld braucht; wie die Gewerke zwei Wochen vor Ort durcharbeiten, damit alles möglichst gut wird — und dann kommt da dieser Mann, der mit Abstand das meiste Geld mitnimmt, probt zwei Tage und weiß in der Liveshow nicht, wie die Wetten funktionieren. Das ist respektlos gegenüber allen anderen, die an der Show beteiligt sind, nicht zuletzt gegenüber den Kandidat*innen. (Obligatorischer Reminder: Vor elf Jahren, als Gottschalk die Moderation von „Wetten, dass..?“ zum zweiten Mal abgab, hatte das ZDF Joko und Klaas unter Vertrag (Öffnet in neuem Fenster). In Mainz entschied man sich für Markus Lanz als Gottschalk-Nachfolger und Joko und Klaas gingen zu ProSieben, wo sie seitdem zeigen, wie Unterhaltungsfernsehen im 21. Jahrhundert aussehen kann.)

Außerdem war ich mit dem Kind zum ersten Mal im Schauspielhaus Bochum, wo „Der kleine Prinz“ (Öffnet in neuem Fenster) gegeben wurde. Das Buch habe ich als Kind wirklich gehasst: ich hatte keine Ahnung, wovon es handeln sollte; es ging um Blumen, Tiere und Kalendersprüche. Ich war zu jung, um das Wort „Hippiekacke“ und Bücher von Hermann Hesse zu kennen, aber alt genug, um es richtig, richtig schlimm zu finden. Die knapp einstündige Inszenierung von Thorsten Bihegue, mit der Johanna Wieking und Jing Xiang auch in Klassenzimmern auftreten, war hingegen eine angenehme Dekonstruktion des Stoffes, abwechslungsreich und witzig erzählt und mit genug performativem Abstand zum Buch. Ob es für die Zielgruppe funktioniert? Umfragen ergaben eine gewisse Ratlosigkeit, aber die Kinder konnten ja auch nicht ahnen, dass es gar keine Handlung gibt, die sie erfassen oder nacherzählen hätten können. Mir hat’s jedenfalls gefallen!

Was hast Du gelesen?

Der Tonart-Wechsel, lange Zeit wichtiges Element großer Hits und ESC-Songs, ist vom Aussterben bedroht: tedium.co (Öffnet in neuem Fenster).

Journalist*innen werden jeden Tag mit Pressemitteilungen bombardiert. Dan Kois hat beschlossen, einen Tag lang auf jede zu antworten: slate.com (Öffnet in neuem Fenster).

Was hast Du gelernt?

Nur knapp 20% aller Tiere (Öffnet in neuem Fenster) leben an Land.

https://www.youtube.com/watch?v=SNyZgOplWlI (Öffnet in neuem Fenster)

Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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