Ah-ah-ah-ah-ah
Ooh-ooh-ooh-ooh-ooh
Ah-ah-ah-ah-ah
Ooh-ooh-ooh-ooh-ooh
(Michael Jackson)
Good evening, Europe!
Ich habe in den neunzehneinhalb Jahren seit meiner bestandenen Abiturprüfung nicht einmal gedacht, dass ich gerne noch einmal zur Schule gehen würde (geträumt habe ich von einem solchen erneuten Schulbesuch, wiewohl, häufiger), aber heute, ja heute würde ich gerne noch einmal auf dem Schulhof stehen und mit der peer group über das Wochenende sprechen. Und ich bin mir sicher: Ich bin nicht die einzige Person mit dieser absurden Anwandlung.
Der Grund für diesen kollektiven Rücksturz ist dieser Unfall mit der Zeitmaschine am Wochenende: Am Freitag taten ABBA etwas, was sie zu meinen Lebzeiten noch nie getan hatten, und veröffentlichten ein neues Album (es klingt, wie ein ABBA-Album klingen sollte, und bietet Phonetiker*innen reichlich Anschauungsmaterial für Arbeiten über Akzente, die mit zunehmendem Alter stärker werden), am Samstag lief im ZDF eine aktuelle Live-Ausgabe von „Wetten, dasss..?“ mit Thomas Gottschalk.
Ich hatte noch das Kind ins Bett gebracht und kam erst auf die Couch (die heimische, nicht die in den Nürnberger Messehalle), als gerade Benny und Björn von ABBA zu Gottschalk stießen. Und sofort stellten sich zwei widersprüchliche Gefühle zur exakt gleichen Zeit ein: „Es ist genau so, wie es sein soll“ und „Das ist alles völlig falsch“. Vermutlich ist es so, wenn man beim Abitreffen mit seinem ehemaligen, anderweitig verheirateten Oberstufenschwarm knutscht.
Die Talk-Situationen waren grauenvoll: Gottschalk freute sich offenkundig, richtige Prominente neben sich sitzen zu haben, aber es hätte ihm gereicht, wenn sie ihm einfach die Aufwartung gemacht hätten — Fragen stellen war jetzt wirklich nicht sein Ziel gewesen. Die Wetten waren absurd und unendlich langatmig: Irgendwann stellte ich fest, dass ich jetzt mit Millionen anderer Menschen seit über zehn Minuten einem Mann dabei zusah, wie er Dartpfeile auf eine Leinwand warf, auf die zuvor und auch danach eine Weltkarte projiziert wurde, auf dass er bestimmte, im Moment des Wurfs freilich nicht zu sehende Länder treffe. (Er verlor die Wette knapp, weil er statt Frankreich Deutschland traf, wurde aber mit großem Abstand Wettkönig.) Und dann dämmerte mir: Es ist alles exakt wie immer.
Als dann gestern Morgen die Quoten veröffentlicht wurden, ist mir fast meine Mainzelmännchen-Tasse runtergefallen: Der Marktanteil betrug 45,7 Prozent, bei den 14- bis 49-Jährigen (realistischer hier: den 30- bis 49-Jährigen) gar 50,2. 13,8 Millionen Menschen hatten im Schnitt das ZDF eingeschaltet; verrechnet mit den Leuten, die es nur geguckt haben, um auf Twitter darüber zu lästern, bleiben immerhin noch 13,8 Millionen. Da muss man sich gar nicht groß in der TV-Branche auskennen, um zu wissen: Das sind sehr hohe Zahlen. Ich hatte direkt so einen merkwürdigen Live-TV-Stolz, obwohl ich mit der Sendung ja überhaupt nichts zu tun gehabt hatte. Hauptsache, das lineare Fernsehen hat noch mal so richtig einen Pflock in die Erde geschlagen! In 20 Jahren werden wir uns alle erinnern können, wie wir am Samstagabend diese eine „Wetten, dass..?“-Ausgabe geschaut und mit unserer peer group hin und her getextet haben, während sich voraussichtlich niemand mehr an die Netflix-Hits des Jahres 2021 erinnern können wird.
Und nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Das sagt alles noch nichts über Qualität oder Relevanz aus, aber über ein Bedürfnis nach Gemeinschaftserlebnis und Stabilität. Es ist ja auch mal spannend, in einer Zeit, in der jeder einzelne Sachverhalt nicht nur von der „Bild“-Redaktion, sondern auch von vielen, vielen Zivilist*innen zu einem maximal schwarz-weißen „Wir vs. Ihr“ hochstilisiert wird, Widersprüche auszuhalten: Ja, es war furchtbar und toll!
Tatsächlich hätte es mich nicht überrascht, wenn nach dem Abspann (natürlich 32 Minuten zu spät) nicht das „Heute Journal“ gelaufen wäre, sondern erst Nationalhymne und dann Testbild. Dieses „Wetten, dass..?“-Revival war eine Art Kartoffel Pride, ein Ausflug zurück in das untergegangene Land der Bonner Republik, in der natürlich nichts besser war (wie einem Herr Gottschalk ja eindrücklich vor Augen führte), aber vieles schon aus Gründen der medialen Mangelversorgung vertrauter. Für einen Abend durften wir Millennials uns mal fühlen wie Boomer.
Sollte das ZDF also aus dem „einmaligen“ Revival jetzt ein jährliches Event machen, wie vielerorts gefordert und inzwischen vom Sender selbst angedeutet (Öffnet in neuem Fenster)? Sollen wir wirklich Jahr für Jahr feststellen, dass etwas nie so toll war, wie wir es zu erinnern glauben, und uns genervt schwören, den Quatsch aber beim nächsten Mal wirklich ausfallen zu lassen? Ich sag mal so: Wenn wir die Pandemie weiter so schlecht in den Griff bekommen, könnte sich ein jährliches „Wetten, dass..?“ in der Isolation als sinnvolle Alternative zum Familienbesuch an Weihnachten herausstellen.
Was hast Du gehört? „American Siren“ (Oh Boy Records; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)), das dritte Album von Emily Scott Robinson. Mit seinen oft reduzierten Country- und Folksongs mit klugen und gesellschaftskritischen Texten ist das nicht nur die perfekte Musik für den Herbst, sondern auch das Album, das Kacey Musgraves dieses Jahr nicht gemacht hat.
„I Don’t Live Here Anymore“ (Atlantic; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ist das fünfte Album von The War On Drugs und wie bei den beiden Alben zuvor gebe ich mir wirklich Mühe, die Band jetzt mal so gut zu finden, wie ich sie theoretisch und nach Ansicht meiner peer group finden müsste. Sagen wir so: Ich mag das alles und ich weiß, dass es mir gefallen müsste, aber am Ende denke ich immer „Hmmmm, ja.“ (Durchaus spannend ist aber die Zerlegung des sehr guten Titelsongs bei „Song Exploder“ (Öffnet in neuem Fenster).)
Was hast Du gesehen? Ich war tatsächlich das zweite Mal seit Corona im Kino und habe „The French Dispatch“ von Wes Anderson geschaut. Auch hier gilt wie für ABBA, „Wetten, dass..?“ und The War On Drugs: Man bekommt genau das, was man erwartet — hier allerdings auf höchstem Niveau. Die Idee, quasi ein Print-Magazin als Film nachzuempfinden, ist natürlich genial und wenn man sich den Film mit befreundeten Journalist*innen anschaut, wird alles noch besser.
Was hast Du gelesen? In ihrer Kolumne hat Margarete Stokowski vergangene Woche über den angeblichen Verfall der Debattenkultur geschrieben (Öffnet in neuem Fenster) und darin sind wieder so viele kluge Gedanken und Analogien, dass ich gar nichts zitieren kann oder will, sondern einfach wie so oft den ganzen Text empfehle!
Nachdem ich ja im letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) über „Eurotrash“, die Quasi-Fortsetzung von Christian Krachts „Faserland“ geschrieben hatte, habe ich mir auch „Faserland“ noch mal vorgenommen. Junge, was für ein Zeitdokument der 1990er Jahre! Es wird für Nachgeborene schlicht nicht vermittelbar sein, worum es in diesem Buch überhaupt geht und warum man das gut fand, aber es ist natürlich die maximale Manifestation dieser grauenhaften, zynischen Zeit, in der alle Werber waren oder sein wollten. Dieses Buch beweist noch mehr als „Wetten, dass..?“, was für ein Geschenk es ist, heute leben zu dürfen! (Und ich meine das nicht als Kritik am Buch, nur an der Welt.)
Und natürlich: Die Texte über „Wetten, dass..?“ von Stefan Niggemeier (Öffnet in neuem Fenster), Peer Schader (Öffnet in neuem Fenster) und Micky Beisenherz (Öffnet in neuem Fenster).
Was hast Du gelernt? Manchmal fallen auch in einem Bundesligaspiel (Öffnet in neuem Fenster) Tore wie auf dem Schulhof, wenn gerade keiner letzter Mann ist.
Habt eine schöne Woche!
Herzliche Grüße, Euer Lukas
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