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Ode an die Freude

There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in
(Leonard Cohen)

144/∞

Good evening, Europe!

Als ich am Samstagmorgen wach wurde, fühlten sich die schlimmen Meldungen mal wieder (Öffnet in neuem Fenster) noch ein bisschen schlimmer an als eh schon: Auf einem Volksfest in Solingen hatte ein Angreifer (Öffnet in neuem Fenster) drei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt.

Der Tatort liegt 35 Kilometer von meiner Haustür entfernt. Der Täter schlug während eines Auftritts von Suzan Köcher’s Suprafon (Öffnet in neuem Fenster) zu; eine Band, die ich schon in meiner kleinen Musiksendung gespielt (Öffnet in neuem Fenster) hatte und in der der Schlagzeuglehrer meines Sohnes spielt, weswegen ich im Vorfeld zumindest mal kurz überlegt hatte, mir das Konzert in Solingen anzusehen.

Es liegt nahe, den Anschlag in einer Reihe anderer, noch schwerwiegender Anschläge zu sehen: beim Konzert von Ariana Grande (Öffnet in neuem Fenster) in der Manchester Arena, beim Konzert der Eagles Of Death Metal im Pariser Batanclan (Öffnet in neuem Fenster), beim Supernova-Festival (Öffnet in neuem Fenster) in Israel am 7. Oktober. Erst vor drei Wochen wurden die drei Konzerte von Taylor Swift in Wien abgesagt (Öffnet in neuem Fenster), nachdem die Sicherheitsbehörden einen geplanten Anschlag verhindert hatten. Alle Fälle hatten einen islamistischen Hintergrund. 

Diese (geplanten) Ziele sind anders als die vom 11. September 2001: Die brutale Gewalt galt nicht mehr dem abstrakten Feindbild „Amerika“, „der Westen“, „der Kapitalismus“ oder dem Pentagon, sondern (häufig jungen) Menschen, die das Friedlichste auf der Welt taten: Livemusik hören und Spaß haben. Das ist noch mal eine ganz eigene Kategorie von Feigheit und Bösartigkeit.

Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man das Meer, einen Sonnenuntergang oder auch nur ein Eichhörnchen sehen und dann denken kann: „Und jetzt gehe ich los und bekämpfe Menschen, die sich gerade freuen!“ Welcher Gott würde Singvögel erschaffen und anschließend Menschen, aber den Menschen verbieten, den Gesang der Vögel toll zu finden — und dann noch andere Menschen brauchen, die seinen Willen durchsetzen?

Aber ich verstehe auch nicht (Öffnet in neuem Fenster), wie man mit Büchern, die Kindern und Erwachsenen so viel Freude bereiten, Milliardärin werden kann, um dann den ganzen Tag auf Twitter Kübel voller Hass über Menschen auszuschütten, die eh schon gesellschaftlich benachteiligt werden. (Wobei ich eh nicht verstehe, wie man heutzutage überhaupt noch auf Twitter sein kann.) 

Donald Trump, den man noch nie genuine Freude zeigen oder auch nur lachen gesehen hat, kritisiert Kamala Harris’ „crazy laughter“ (eine lesenswerte philosophische Einlassung dazu hier (Öffnet in neuem Fenster)). Die „New York Times“ veröffentlichte einen Kommentar zur guten Laune beim Parteitag der Demokraten unter der Überschrift „Joy is not a strategy“ (Öffnet in neuem Fenster), die sofort zu einer Art Mem in den Sozialen Medien wurde. (Einer der cleversten Erwiderungen (Öffnet in neuem Fenster) dazu: Die einzige Regel der berühmten Aufräum-Expertin Marie Kondō lautet: „Does it spark joy?“ Also kann die An- bzw. Abwesenheit von Freude durchaus eine Strategie - oder zumindest ein Teil davon - sein.)

Vor ziemlich genau einem halben Jahr hatte ich in meinem Newsletter No. 133 (Öffnet in neuem Fenster) über ein Interview mit Julia Roberts geschrieben, in dem sich die Schauspielerin verwundert bis entsetzt zeigte über das Verhalten von Online-Kommentator*innen, die meinten, überall ungefragt ihre Meinung abgeben zu müssen, aber nicht in der Lage waren, „absolute strahlende Freude“ zu erkennen.

Wie oft ich es schon erlebt habe, dass ich neutral bis begeistert von irgendetwas erzählt habe und die erste Reaktion meines Gegenübers lautete: „Und dann haben die Leute kommentiert: …“ Stets folgte eine Mauerschau dessen, was irgendwelche übellaunigen Menschen (oder Bots) irgendwo im im Internet geschrieben hatten. Nicht, dass sich mein Gegenüber diese Kommentare zu eigen gemacht hätte; es hat nur eine Meta-Ebene der Negativität eingezogen. (Mir ist die Ironie bewusst, dass ich gerade im Prinzip noch mal das Gleiche tue.)

Was hören Kinder denn von frühester Kindheit an? Erwachsene, die sich beschweren: über andere Verkehrsteilnehmer*innen, über Menschen an der Supermarktkasse (einkaufende und dort arbeitende), über vermeintlich unfähige Kolleg*innen, Vorgesetzte und Politiker*innen, über eigene Verwandte, Lehrer*innen, jedwede Form von Technik, die nicht richtig funktioniert, über Fußballer, Trainer und Schiedsrichter — und natürlich über Kinder, die sich nicht „richtig benehmen“, die „stören“ oder „trödeln“. Sich aufzuregen und zu beschweren ist etwas, was Kinder erleben, bevor sie richtig laufen oder sprechen können. Dass es manche Dinge gibt, die man hinnehmen muss, und andere, die man verändern kann, lernen sie meistens erst später, wenn überhaupt.

An jeder Supermarktkasse schreien einen von bunten Druckerzeugnissen, die „Zeitschriften“ zu nennen nun wirklich übertrieben wäre, überspitzte, irreführende oder direkt gelogene Schlagzeilen über Ehebruch, Krankheiten und Drogenprobleme an, so dass jedes gutgläubige Ömmacken denken muss, das Leben von Prominenten wäre auch immer nur furchtbar. Und wem das noch zu lebensbejahend und positiv erscheint, für den gibt es ja immer noch „Bild“ (Öffnet in neuem Fenster).

Unsere Arbeit beim BILDblog war buchstäblich darauf aus, schlechten Journalismus hervorzuheben. Und so wichtig diese Aufgabe immer noch ist: Man muss schon sehr aufpassen, dass man nicht vergisst, dass es in der Welt noch andere Sachen gibt, die schön sind und Freude machen — weswegen ich beim BILDblog ja auch irgendwann ausgestiegen bin, um mich anderen Themen (Öffnet in neuem Fenster) zu widmen.

Als ich meine journalistische Laufbahn begonnen habe, habe ich Dutzende Verrisse über irgendwelche Alben geschrieben, die mir nicht gefielen oder nicht gefallen sollten. Ich habe viel Energie darein gelegt, möglichst gemein zu formulieren, und das ist mir heute sehr unangenehm. Wenn die Musik von Mark Forster, Johannes Oerding oder - da muss ich jetzt doch einmal kurz durchatmen - Max Prosa Leuten so viel bedeutet wie mir die von Ben Folds, R.E.M. oder Jimmy Eat World: Schön für alle Beteiligten! Ich rede inzwischen lieber über das, was ich liebe, und schweige (Öffnet in neuem Fenster) über den Rest. (Das heißt nicht, dass ich über soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Sexismus und ähnliche Scheiße schweigen werde, liebe Facebook-Boomer. Wenn Ihr den Unterschied zwischen einem egalen Popsong und gesellschaftlichen Missständen nicht versteht, seid Ihr Teil des Problems!)

Als ich in Therapie war, hat mich meine Therapeutin beauftragt, jeden Tag in meinem Tagebuch zu notieren, was mir Freude bereitet hatte — eine Strategie, die ich eigentlich schon kannte, weil ich meinen Sohn jeden Abend beim Ins-Bett-Bringen frage, was am betreffenden Tag gut gewesen war (und was nicht so gut). Es gibt Tage, da muss ich lange überlegen, was ich hinschreibe, aber bisher habe ich immer irgendwas gefunden: abseitige Linguistik-Trivia, die ich irgendwo gelesen hatte; eine Ruhrpott-Omi, die in der Straßenbahn etwas Zauberhaftes gesagt hatte; wenn der Song, den ich auf dem Heimweg angemacht hatte, genau an meiner Haustür endete.

An dem Tag, als meine Omi starb, ein Tag, von dem ich über Jahre angenommen hatte, dass es der schlimmste meines Lebens werden würde (der schlimmste meines bisherigen Lebens (Öffnet in neuem Fenster)), fand ich abends einiges für meine „Freude“-Kategorie: meine engste und erweiterte Familie, mit der ich die Trauer und die Liebe teilen konnte; den Himmel beim Nachmittagsspaziergang; den Indian Summer am 25. Oktober; die Band Metal-Band Kreator, die ich bei meinem Spaziergang zum ersten Mal bewusst gehört hatte; meine Orthopädin, bei der ich am Morgen gewesen war; Bastelarbeiten, die ich für den Adventsbasar in der Schule hatte erledigen müssen, und: „Wir hatten unsere Omi. 96 Jahre und zwei Monate.“ In Großbuchstaben.

Letzte Woche war ich mit einer guten Freundin unterwegs. Es war eh schon ein wunderbarer Morgen mit Sonnenschein und guten Gesprächen, da kam uns ein Opi entgegen, der mit so kleinen Hanteln in der Hand Walken gegangen war. „Ich wünsche Euch einen wunderschönen Tag!“, rief er uns unvermittelt zu, als er auf unserer Höhe war, und wir hatten beide das Gefühle, das unsere Brustkörbe explodieren müssten vor lauter Rührung. 

Ich hätte auf die Frage, ob ich irgendwelche Vorbilder habe, immer erstmal überlegen müssen (womöglich inkl. Umleitung durch das „Werk und Autor trennen“-Minenfeld), aber seitdem habe ich eine Antwort im Stehsatz: Dieser Mann über 70, der sich fit hält und gute Laune verteilt, als hätte er eine tragbare Seifenblasen-Maschine dabei!

(Ich weiß, dass es in anderen Teilen der Bundesrepublik als irritierend wahrgenommen wird, wenn man wildfremde Menschen anspricht, egal zu welchem Zweck. Deswegen lebe ich aber auch seit 41 Jahren im Ruhrgebiet.)

Das, worauf ich mit meinen bisher auch schon wieder fast neuntausend Zeichen hinauswill, ist keine toxic positivity (Öffnet in neuem Fenster), diese „Good vibes only“-Lebenseinstellung, die manche Leute auf ihren Dating-App-Profilen zur Schau stellen, indem sie alle negativen Emotionen unterdrücken wollen.

Es gibt absolut nichts, was ich den Angehörigen der Opfer von Solingen gerade als Trost anbieten könnte. Es gibt Dinge, die sind einfach nur furchtbar. Man braucht keine schwere Krankheit, um daran „zu wachsen“, man braucht keine „dornigen Chancen“. Das Wort und vor allem der Ort „Kinderhospiz“ existieren. Doch auch dort wird gelacht.

Charlie Chaplin soll ja angeblich mal gesagt haben, dass ein Tag ohne Lachen ein verlorener Tag sei, und Max Goldt hat einen weitgehend großartigen Text (Öffnet in neuem Fenster) darüber verfasst, warum das so Quatsch ist, aber ich finde, man sollte doch wenigstens einmal am Tag vor Verzückung „Hach!“ ausgerufen haben. Aber vielleicht gibt es wirklich zahlreiche Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nichts wahrnehmen, was sie „Hach!“ sagen ließe.

Ich bin nicht ausreichend informiert über Psychologie und Soziologie, aber es ist sicher alles andere als ein origineller Gedanke, dass Freude und Trauer (und diverse andere Emotionen) zusammengehören wie - jetzt aber mal wirklich Achtung! - Ying und Yang. Es steckt viel Wahrheit in dem, was Jason Lee in „Vanilla Sky“ zu Tom Cruise sagt (Öffnet in neuem Fenster): „Without the bitter, baby, the sweet ain’t as sweet!“ 

Aber viele Menschen scheinen auch nicht in der Lage, Trauer zu empfinden bzw. auszudrücken. Und etliche Social-Media-Reaktionen auf den Anschlag von Solingen zeigen das. Aber die sollte man ja nicht noch weiter verstärken.

But now for something completely different: Ein Programmhinweis in eigener Sache!

Am 7. September findet in der Postkutsche in Bochum eine 90er/2000er-Party statt und ich werde nach elf Jahren erstmals wieder im öffentlichen Raum hinter einem DJ-Pult stehen und die größten Hits unserer Jugend und Uni-Zeit spielen. Let me entertain you!

Was macht der Garten?

Könnt Ihr Tomaten gebrauchen?

Was hast Du gehört?

Seit ein paar Wochen bin ich dazu übergegangen, zuhause tagsüber wieder das Radio laufen zu lassen (bzw. eine Radio-App auf unserem IPTV-Receiver), und zwar BBC Radio 6 Music (Öffnet in neuem Fenster). Dort läuft entweder Musik oder es gibt Interview mit Musiker*innen — und es ist absolut phantastisch! Ich kann Euch sagen: Drum ‘n’ Bass ist sowas von zurück! Manche Songs laufen mehrfach am Tag, aber das ist in einem reinen Musikprogramm etwas völlig anderes als im Formatprogramm: Man entwickelt dadurch schnell neue Lieblingssongs, die man bei einmaligem Hören in der „Für Dich“-Playlist bei Spotify sonst leicht überhört hätte.

„You Get What You Give“ von New Radicals ist ein Song, der mein Leben in ein „Davor“ und „Danach“ teilt (Öffnet in neuem Fenster). Zum ersten Mal seit meiner eher kindlichen Die-Prinzen-Phase war ich Fan einer Band — die sich wenige Wochen, nachdem ich ihr Album gekauft hatte, auflöste. Ihr Sänger Gregg Alexander hat seitdem zahlreiche Hits für andere Acts geschrieben (die ich, inkl. Demos, alle auf meiner Festplatte habe), aber die Band tauchte erst zur Amtseinführung von Joe Biden ganz überraschend wieder in der Öffentlichkeit auf (vgl. Newsletter No. 185 (Öffnet in neuem Fenster)). 

Jetzt gibt es zum ersten Mal seit 25 Jahren neue Songs — wobei „neu“ dabei ein bisschen umgedeutet werden muss, denn es handelt sich um die eigenen New-Radicals-Versionen von „Murder On The Dancefloor“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster); bekannt geworden durch Sophie Ellis-Bextor) und „Lost Stars“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster); aus dem Film „Begin Again“). Gregg Alexander hat in einem offenen Brief (Öffnet in neuem Fenster) an Kamala Harris’ Ehemann Doug Emhoff, der offenbar ein ebenso großer Fan der Band ist wie ich, erklärt, dass es sich nicht um ein „Comeback“ handle, sondern um einen Versuch, die Demokraten im Wahlkampf zu unterstützen. Das verleiht diesen vielleicht etwas obskuren Songs eine Aura von gesellschaftlicher Bedeutung und Hoffnung und macht mich noch glücklicher, sie hören zu dürfen. Ich habe sogar zum ersten Mal seit neun Jahren einen Song im iTunes Store gekauft!

Was hast Du gesehen?

Wir waren mit der ganzen Familie im Kino, um „Alles steht Kopf 2“ (Trailer (Öffnet in neuem Fenster)) zu sehen. Er ist ungefähr genauso bezaubernd wie der erste Teil und bietet eine gute Grundlage, um mit Kindern über Gefühle zu sprechen. (Und passt von daher ganz hervorragend zu dieser Ausgabe des Newsletters.)

https://vimeo.com/groups/804664/videos/252765355 (Öffnet in neuem Fenster)

Geteilte Freude ist doppelte Freude — also teilt diesen Newsletter doch mit einer Person, der er gefallen könnte! 

Und wenn Ihr mich beim Schreiben des Newsletters unterstützen wollt, könnt Ihr das hier machen:

Habt eine schöne Restwoche!

Always love, Lukas

PS: Jetzt hab ich Euch immer noch nicht (Öffnet in neuem Fenster) erzählt, wie ich im Urlaub Wellenreiten war, aber das holen wir dann beim nächsten Mal nach!

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