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Wenn die Worte fehlen

Puh.

Seit fast drei Wochen, seit das Ausmaß der Anschläge der Hamas in Israel deutlich wurde, überlege ich, was ich schreiben soll. Was wohl die richtigen Worte wären. Und ob Worte überhaupt irgendeinen Beitrag zu irgendetwas Positivem leisten können.

Dann ist mir wieder eingefallen, dass ich kein Politiker oder Diplomat bin und ganz sicher kein Nahost-Experte und dass dieser Newsletter vor allem von mir handelt. Also mache ich jetzt das einzige, was ich wirklich kann, und schreibe - notdürftig sortiert - meine Gedanken auf.

Schlimme Nachrichten wirken anders, wenn man einen persönlichen Bezug zu den betroffenen Personen und Orten hat. Das kann man auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene problematisch finden, aber auf einer individuellen Ebene ist es nicht nur verständlich, sondern wahrscheinlich auch notwendig, um vor lauter Empathie nicht zu verglühen. Ganz platt gesagt: Wenn Dir jede Todesanzeige in der Zeitung genauso nahe ginge wie der Tod Deiner geliebten Großmutter, würdest Du sehr schnell komplett wahnsinnig.

Durch meinen Job beim Eurovision Song Contest bin ich in den letzten dreizehneinhalb Jahren ganz ordentlich rumgekommen — und deswegen fühlten sich die Nachrichten über die Terroranschläge in Oslo (Öffnet in neuem Fenster), Kopenhagen (Öffnet in neuem Fenster), Stockholm (Öffnet in neuem Fenster) und Wien (Öffnet in neuem Fenster) anders, ja: näher an als andere. Deswegen tat die Nachricht vom Angriff Russlands auf die Ukraine noch mehr weh (Öffnet in neuem Fenster), als sie es sowieso schon getan hätte. Und deshalb schmerzen die schrecklichen Meldungen und Bilder (von denen ich zum Glück nur sehr, sehr wenige gesehen habe) aus Israel noch ein bisschen mehr.

Die Straßen in Tel Aviv, auf denen die Menschen jetzt für die Freilassung der Geiseln demonstrieren (Öffnet in neuem Fenster), sind die Straßen, auf denen wir im Mai 2019 fröhlich unterwegs waren. Das Hotel, in dem wir damals untergebracht waren, ist immer wieder auf den Fernsehbildern zu sehen. Das ganze Land Israel ist halb so groß wie die Niederlande, da ist jeder Ort näher an dem Messegelände, auf dem der ESC stattfand, als Berlin an Bochum. Ich war in Israel, um an einem friedlichen Musikfestival teilzunehmen, und nun sind unter den vielen Toten rund 300 Menschen, die dort genau dasselbe (Öffnet in neuem Fenster) machen wollten.

Dazu kommt: Ich bin mit einem deutschen Pass geboren worden — und damit mit einer sehr besonderen Geschichte. Und das meine ich nicht nur abstrakt: Meine Großmütter haben mir erzählt, wie ihre jüdischen Mitschülerinnen plötzlich „verschwunden“ sind. Mein Großvater hat berichtet, wie er am Morgen des 10. November 1938 auf der Straße vor einem geplünderten jüdischen Geschäft ein einzelnes verpacktes Stück Seife gefunden und mit nach Hause genommen hat und dafür von seiner Mutter eine Ohrfeige bekam — pädagogisch sicherlich falsch, moralisch stabil. Meine andere Urgroßmutter bekam eine Vorladung zum NSDAP-Ortsgruppenleiter, weil sie einer jüdischen Nachbarin Gemüse aus dem eigenen Garten im Vorbeigehen vor die Wohnungstür gestellt hatte. Meine Omi hat erzählt, dass sie sich als Zwölfjährige im Sportunterricht mit Mitschülerinnen geprügelt hat, weil diese sich über die Novemberpogrome gefreut hätten. Die Stadt Dinslaken, wo ich aufgewachsen bin, hat eine Städtepartnerschaft mit Arad (Öffnet in neuem Fenster), jedes Jahr waren bei uns am Gymnasium Austauschschüler*innen aus Israel.

Ich glaube ganz fest, dass man gleichzeitig Mitgefühl mit den Menschen in Israel und den Zivilist*innen im Gaza-Streifen haben kann.

Ich bin überzeugt, dass es keinen Kontext gibt, in dem auf den Satzanfang „Der Massenmord an Zivilist*innen, darunter Babies, Kinder und Alte, ist schlimm“ ein „aber“ folgen sollte.

Ich glaube, dass Menschen, die den Angriff der Hamas auf Israel zum Anlass nehmen, sich mit Palästina zu solidarisieren - und das, ohne Mitgefühl für die Opfer in Israel zu zeigen -, eine irritierende Unwucht in ihrem Mitgefühl offenbaren.

Ich glaube, dass man die Politik von Benjamin Netanyahu und anderen israelischen Politikern kritisieren kann (und immer schon konnte), ohne - bewusst oder unbewusst - antisemitische Erzählungen (Öffnet in neuem Fenster) zu wiederholen.

Ich bin entsetzt, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst haben müssen (oder: noch mehr als eh schon), öffentlich ihre Religionszugehörigkeit zu zeigen. Und ich bin wahnsinnig wütend deswegen.

Ich bin auch entsetzt, dass in den USA ein sechsjähriger Junge mit palästinensischen Wurzeln erstochen wurde (Öffnet in neuem Fenster) und muslimische Menschen auch in Deutschland (mal wieder) angefeindet und unter Generalverdacht gestellt werden.

Ich verachte alle Antisemiten und unterscheide nicht zwischen „importiertem“ Antisemitismus und hausgemachtem. Man könnte im Gegenteil mit einem Hauch Sarkasmus behaupten, zugewanderte Antisemiten hätten sich diesbezüglich gut in Deutschland integriert (Öffnet in neuem Fenster)

Ich finde, dass wir als Mehrheitsgesellschaft möglichst immer unsere Unterstützung für Menschen zeigen sollten, die angefeindet, ausgegrenzt oder angegriffen werden. Auf der Straße, in der Kneipe, im Stadion, vor allem aber in unserem direkten Umfeld im Alltag und in den sogenannten Sozialen Medien. Ganz grundsätzlich, aber gerade jetzt.

Ich war beeindruckt von Joe Bidens Besuch in Israel und von seinem in aller Freundschaft vorgebrachten Ratschlag (Öffnet in neuem Fenster) an die israelische Regierung, die Fehler, die die USA nach dem Trauma des 11. September 2001 begangen haben, nicht zu wiederholen.

Ich finde es wichtig, zwischen den Einwohner*innen eines Landes und der Regierung zu unterscheiden. Ganz besonders, wenn man selbst permanent im Internet betont, wie unzufrieden man mit der eigenen Bundesregierung ist.

Ich persönlich glaube nicht, dass man sich als Privatperson, Musiker*in, Sportler*in oder sonstige prominente Person öffentlich zu den Anschlägen und der aktuellen Situation äußern muss. Nennt mich naiv, aber ich würde erstmal bei jedem Menschen solange davon ausgehen, dass er über einen organisierten Massenmord an Zivilist*innen genauso entsetzt ist wie wir alle, bis er eine gegenteilige Position einnimmt. Und wenn ich das Gefühl habe, dass eine bestimmte Person irritierend still ist, dann möchte ich selbständig zu dieser Erkenntnis gelangt sein und brauche dafür keine Instagram-Posts Dritter oder - schlimmer noch - die „Welt am Sonntag“ (Öffnet in neuem Fenster). Aber ich weiß auch, dass es unseren jüdischen Freund*innen, Kolleg*innen und Mitbürger*innen sehr viel bedeutet, wenn sie Zeichen des Mitgefühls und der Unterstützung bekommen.

Ich glaube, dass es gerade wichtiger ist, zuzuhören und sich fortzubilden, als meinungsfreudig das wiederzugeben, was man so an Informationskrümeln zufällig irgendwo aufgelesen hat.

Ich glaube aber auch, dass es total okay ist, sich jetzt eine längere Auszeit von den Nachrichten zu nehmen und alle Push-Nachrichten zu deaktivieren — immer in dem Bewusstsein, dass es gerade Millionen Menschen gibt, die den Horror nicht beiseite schieben können. Vielleicht ist es wichtiger, in seinem direkten Umfeld Gutes zu tun, als eine Textkenntnisklausur über den Nahostkonflikt bestehen zu können (außer man möchte sich dringend dazu äußern, dann gilt wieder der Punkt davor).

Ich glaube, dass ich in meiner Eigenschaft als Deutscher - ganz besonders mit vier deutschen Großeltern, die alle einen „Ariernachweis“ (Öffnet in neuem Fenster) hatten - eine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden habe; unabhängig davon, dass ich erst 1983 geboren wurde. Dafür ist die Geschichte des Landes, in das ich zufällig hineingeboren wurde und dessen Privilegien ich genieße, zu finster und einzigartig. (Und sie endet ja nicht 1945: Man darf auch nicht vergessen, dass „wir“ bei der nächsten Gelegenheit, „uns“ der Welt zu präsentieren und die Hand in Freundschaft auszustrecken, den Olympischen Sommerspielen 1972 in München, wieder eklatant dabei versagt haben (Öffnet in neuem Fenster), jüdisches Leben zu schützen.)

Ich bin überzeugt, dass es keinen Kontext gibt, in dem auf den Satzanfang „Der Massenmord an Zivilist*innen, darunter Babies, Kinder und Alte, ist schlimm“ ein „aber“ folgen sollte.

Ich glaube ganz fest, dass man gleichzeitig Mitgefühl mit den Menschen in Israel und den Zivilist*innen im Gaza-Streifen haben kann.

In diese, für mich ohnehin schon sehr an den Herbst 2001 gemahnende, Stimmung kamen dann die nächsten breaking news: In Brüssel (übrigens auch eine Stadt, in der ich selbst schon gewesen war, s.o.) waren zwei schwedische Fußballfans erschossen worden (Öffnet in neuem Fenster), ein dritter wurde schwer verletzt. 

Ich habe in meiner Sammlung von Fußball-Trikots genau ein (nachgemachtes) Nationalmannschafts-Trikot: das von Schweden. 

Es fühlte sich in all dem Elend noch mal ein ganzes Stück closer to home an.

Ich hatte in den letzten Wochen also oft genug das Bedürfnis, entweder zu heulen oder sehr laut Musik zu hören, um mich abzulenken. Also hab ich gedacht, das kann man doch gut kombinieren, und meine peer group auf Instagram befragt, welche Songs sie so zum Weinen bringen. Das Ergebnis ist die neueste Ausgabe meiner kleinen Musiksendung Coffee And TV, die Ihr jetzt hören könnt: spotify.com (Öffnet in neuem Fenster).

Auf die Idee zu diesem Special bin ich ehrlich gesagt gekommen, weil sie bei „All Songs Considered“ - also jener Internet-Musiksendung, die sowieso die Vorlage für meine ist - kurz zuvor die Folge „Songs That Make You Cry“ wiederholt (Öffnet in neuem Fenster) hatten. Anlass zu einer ganzen Reihe von Wiederholungen ist der Umstand, dass Bob Boilen, der Erfinder und langjährige Moderator von „All Songs Considered“, gerade in den Ruhestand gegangen ist. 

Es gibt vermutlich keinen Menschen, der meinen Musikgeschmack so sehr geprägt und meinen musikalischen Horizont derart erweitert hat wie Bob Boilen. Die Sendung (Öffnet in neuem Fenster), die ihm seine Kollegen zum Abschied bereitet haben, war noch einmal eine Parade der wichtigsten Musiker*innen, schönsten Abschiedsliedern und der besten running gags dieses wunderschönen Formats und ich habe mich beim Hören wieder gefühlt, als würde ich Menschen, die mir sehr nahe stehen, in der Kneipe beim fröhlichen Rumnerden zuhören. Und sowas ist ja gerade extrem hilfreich.

Was macht der Garten?

Wir ernten Ende Oktober noch frische Erdbeeren. Ist das normal?

Was hast Du gehört?

Blink-182 haben ihr erstes Album in der Originalbesetzung seit zwölf Jahren veröffentlicht: „One More Time“ (Columbia Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) kombiniert den hymnischen Sound ihres selbstbetitelten Albums (vgl. das 2003-Special (Öffnet in neuem Fenster) bei Coffee And TV) mit den schnellen Punksongs ihres Frühwerks und ist insofern ein gelungenes Comeback.

Gregory Alan Isakov ist in Südafrika geboren und mit sieben Jahren in die USA gekommen. Ich bin erst jetzt auf ihn gestoßen, mit seinem achten Album „Appaloosa Bones“ (Dualtone Music; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Es ist an der Grenze von Folk und Country (also: Musik, die ich besonders im Herbst gerne höre) und erinnert mich an die weite, amerikanische Landschaft, selbst wenn ich es beim Spaziergang im Weitmarer Holz in Bochum höre.

Ich glaube, ich habe in meinem Leben zwei oder drei Alben der Rolling Stones je ein- oder zweimal ganz gehört. Bei der klassischen Frage „Beatles oder Stones?“ habe ich mich immer schon für die Beatles entschieden (oder, wenn ich besonders clever erscheinen wollte, „Kinks“ geantwortet), aber die Rezensionen zum neuen, mutmaßlich letzten Album „Hackney Diamonds“ (Polydor; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) waren so gut, dass ich es mal versuchen musste. Und, was soll ich sagen? Es klingt so, wie man sich die Rolling Stones vorstellt, aber sehr lebendig und abwechslungsreich. Dass die Bandmitglieder ungefähr doppelt so alt sind wie ich, der Produzent des Albums, Andrew Watt, aber gerade 33 geworden ist, beeindruckt mich beides sehr.

Was hast Du gelernt?

Enjoy every sandwich. Keine ganz neue Erkenntnis, aber man sollte es sich regelmäßig vor Augen halten.

https://www.youtube.com/watch?v=YkgkThdzX-8 (Öffnet in neuem Fenster)

سلام  שָׁלוֹם Мир

Euer Lukas

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