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Previously on "Lost"

These are the days of miracle and wonder
This is the long distance call
(Paul Simon)

143/∞

Good evening, Europe!

Bitte entschuldigt, dass der letzte Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) schon wieder so lange her ist, aber die letzten Wochen waren ein ziemliches Jahrhundert!

Kurz nachdem Donald Trump auf einer Wahlkampfveranstaltung von einer Gewehrkugel gestreift worden war (gebt’s zu: Ihr hattet es auch schon wieder vergessen!), hatte ein Kollege das Foto (Öffnet in neuem Fenster), auf dem der bekannte Reality-TV-Star, erfolglose Geschäftsmann und menschenverachtende Populist mit blutbespritztem Gesicht seine Faust in die Luft reckte, bei Instagram gepostet und geschrieben, dieses Foto werde Trump wohl die Wahl gewinnen.

Das ist erstens etwas, was meinem journalistischen Selbstverständnis und Anspruch an andere zutiefst zuwiderläuft: so zu tun, als sei etwas, das buchstäblich noch Millionen von Menschen beeinflussen können, unausweichlich. Wir sind hier, um die Gegenwart zu beschreiben und die Vergangenheit zu sortieren. Wenn Du jemandem erzählen willst, wie Deiner Meinung nach die Zukunft aussehen wird, kauf Dir bitte ein Zelt und stell Dich damit auf den örtlichen Jahrmarkt, Rüdiger!

Zweitens erschien mir dieses Postulat angesichts der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen (oder generell unserer Gegenwart) gewagt. „In diesem Wahlkampf irgendeine Vorhersage zu machen, die auch nur die nächsten 24 Stunden, geschweige denn drei Monate, abdeckt, halte ich für sportlich bis unseriös“, kommentierte ich also munter und wollte es dabei belassen.

Nun. Es liegt mir fern, mich selbst zu loben, aber dieses Mischungsverhältnis von fröhlicher Unbedarftheit und zufällig präziser Voraussicht hatte ich in meinem öffentlichen Leben bisher eigentlich nur ein einziges Mal erreicht: als ich Stefan Niggemeier in der U-Bahn-Haltestelle Osloer Straße heiter erklärt hatte (Öffnet in neuem Fenster), Lena Meyer-Landrut werde den Eurovision Song Contest 2010 gewinnen.

Wir standen gerade am U-Bahnhof Walther-Schreiber-Platz und warteten auf den 181er Richtung Britz, als ich auf Instagram sah, dass Joe Biden vier Minuten zuvor erklärt hatte, entgegen aller bisherigen Beharrungen doch nicht für die Wiederwahl als US-Präsident zu kandidieren.

Was seitdem in den USA und in meiner, sich fröhlich stets neu selbst kuratierenden bubble auf Threads (Öffnet in neuem Fenster) passiert, ist allenfalls mit der Euphorie im Jahr 2008 zu vergleichen, als Barack Obama Präsidentschaftskandidat der Demokraten und schließlich auch US-Präsident wurde. Nur, dass Social Media damals gesamtgesellschaftlich noch eine ziemliche Nische einnahm und von den dort versammelten Nutzer*innen als irgendwie positiv betrachtet wurde.

Meine Timeline, deren Zusammenstellung sich - wie gesagt - brutal an dem orientiert, was ich bisher mit „Like“ versehen und weiterverbreitet hatte, ist voller Optimismus, Energie und Tatendrang. Der Begriff hope scrolling machte plötzlich die Runde. Kamala Harris (bitte lernt die richtige Aussprache: /ˈkɑːmələ/, mit Betonung auf dem ersten, langen A) und Tim Walz wurden gleich von mehreren Generationen als Wunscheltern adoptiert und es ging plötzlich wieder um Inhalte, aber auch um Spaß. 

Donald Trump, dessen gesamte Wahlkampftaktik (for a lack of a better word) offenbar darauf beruht hatte, den drei Jahre älteren Joe Biden als „zu alt“ zu brandmarken, ist seitdem vor allem auf seinem Golfplatz aktiv und redet im Fernsehen oder im Gespräch mit seinem fellow fascist Elon Musk noch wirreres und zusammenhangloseres Zeug als sowieso schon. Wenigstens hat er (Stand Jetzt, wir wissen ja: 24 Stunden) einen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, der es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hat, jede (Öffnet in neuem Fenster) Unterkategorie (Öffnet in neuem Fenster) der bei Wahlen nicht ganz unbedeutenden Bevölkerungsgruppe „Frauen“ einzeln gegen sich aufzubringen.

Die meisten Medien berichten immer noch, als sei es ein ganz normaler Wahlkampf, aber es scheint, als sei die Lethargie der Menschen, die sich schon fast damit abgefunden hatten, ab dem 20. Januar in einer faschistoiden Dystopie von Evangelikalen und Tech-Milliardären leben zu müssen, einem Gefühl gewichen, dass man sonst als Single in den Zwanzigern kennt, wenn man Freitagabends frischgeduscht das Haus verlässt: „Da könnte was gehen“. Immerhin tragen auch im Wahlkampf viele Menschen Chucks (Öffnet in neuem Fenster).

Im Sommer waren wir (wie oben mit dem 181er angedeutet) wieder in Berlin, aber diesmal gleich für zwei Wochen. Das entzerrte den sonst dicht gedrängten Terminplan doch merklich, weil pro Tag maximal eine Verabredung mit Freund*innen auf dem Programm stand, von denen eben doch erstaunlich viele in der Stadt leben.

Es waren viele schöne Gespräche jener Sorte, die man eigentlich nur führen kann, wenn man sich nur einmal im Jahr für ein paar Stunden auf einem Kinderspielplatz trifft: irgendwo weitermachen, wo man (teilweise vor der Pandemie) aufgehört hatte; der Job, die Kinder, die eigenen Eltern; das, was man macht, um Geld zu verdienen, und das, was man eigentlich gerne machen würde, wenn es denn möglich wäre, damit trotzdem eine Familie zu ernähren.

[Du bist zufällig sehr, sehr reich und wolltest immer schon Herausgeber*in eines hochwertigen, nur bedingt profitablen Magazins für und über das Ruhrgebiet sein? Kultur, Gesellschaft, Gastro? Schreib mir jetzt (Öffnet in neuem Fenster)!]

Viele meiner Freund*innen arbeiten ebenfalls in den Medien oder in der Unterhaltung und ein wiederkehrendes Thema unserer Gespräche war: Wie findet man heute noch Aufmerksamkeit für die eigenen Projekte, ohne die meiste Zeit mit komplizierten Social-Media-Strategien zu verbringen,  die sich irgendwelche unseriösen „Berater“-Clowns ausgedacht haben und die man selbst für maximal fragwürdig und nur bedingt erfolgversprechend hält?

Ich habe dabei festgestellt, dass viele meiner Freund*innen diesen Newsletter lesen und gut finden, was mich erstens freut und zweitens jetzt auf dünnes Eis zwingt, aber ich versuch’s einfach mal: Wenn Ihr etwas gut findet, dann sagt das doch! Der Person oder den Personen, die dahinter stehen (unabhängig davon, ob ich das jetzt bin oder jemand ganz anderes), aber vor allem anderen Menschen, von denen Ihr glaubt, dass es Ihnen gefallen könnte! 

Geisteskrank viele dieser komplizierten Social-Media-Strategien von irgendwelchen unseriösen „Berater“-Clowns basieren auf dem bekloppten Konzept der „Micro-Influencer“, das wir Eduard-Zimmermann-Ultras noch als „Schneeballprinzip“ (und „Gala“-Leser*innen als „Carsten Maschmeyer“) kennen: Wenn jede*r von Euch diesen Newsletter fünf Leuten empfiehlt, und die den jeweils auch fünf weiteren Leuten empfehlen, bin ich Ende des Jahres reich! 

Glaubt Ihr nicht? Ich auch nicht, aber von dem (im Kapitalismus leider nicht völlig zu vernachlässigenden) finanziellen Aspekt mal ab finde ich es vor allem schön, wenn die Menschen von Inhalten erreicht werden, die ihnen Freude bereiten. Deswegen schicken meine besten Freund*innen und ich uns so viele Memes, YouTube-Videos, Reels, Podcasts und Artikel; so wie meine Oma immer Artikel aus der „Funk Uhr“ ausgerissen, mit Namen beschriftet und an ihre Familienmitglieder verteilt hat: It’s our love language.

Der Gedanke, dass man irgendwie offensiver kommunizieren sollte, was einem an anderen Menschen und ihrem Schaffen liegt, bekam eine Woche später noch einmal eine ganz andere Bedeutungsschwere, als ich auf der Trauerfeier meines Freundes und Kollegen Jürgen Wiemers saß.

Jürgen war der Redaktionsleiter von „Tagesschaum“ gewesen. Er hatte die Redaktion, die einer Gruppe leider nur (Öffnet in neuem Fenster) endlicher Affen an Schreibmaschinen glich, mit ruhiger, aber bestimmter Hand irgendwie im Gleise gehalten und es gibt wenige Menschen, von denen ich so viel gelernt habe.

Es war einer meiner ersten Jobs beim Fernsehen gewesen, weswegen ich in der Folge einfach annahm, dass alle Menschen in wichtigen Positionen so wären wie Jürgen: inhaltlich in jedem Thema drin, sprachlich versiert und präzise, mit jedem nötigen (und vielerlei unnötigen) Wissen ausgestattet, um im Zweifelsfalle jeden Beitrag binnen Minuten selbst zu drehen, zu schneiden, mit passender Musik zu unterlegen und in irgendeinem absurden Format, das exakt von einer einzigen ARD-Anstalt verwendet wurde, auszuspielen. Elf Jahre später bin ich gleichermaßen gerührt von meiner grotesken Fehleinschätzung wie enttäuscht von der Realität: Die meisten Menschen in TV-Redaktionen haben nicht den Hauch einer Ahnung, wie die Inhalte technisch auf den Bildschirm gelangen; erschütternd viele haben nicht mal besonders viel Ahnung von den Inhalten selbst. Niemand ist wie Jürgen.

Weil wir beide in Bochum wohnten und die Produktionstage sich trotz Hochsommers oft bis nach Sonnenuntergang zogen, hatte Jürgen mich vom ersten Tag an abends nach Hause gebracht und diese Rückfahrten von Köln waren eigentlich das Schönste am ganzen Projekt gewesen: Natürlich ging es auch um Ideen für die nächsten Sendungen, aber meistens ging es eigentlich um alles und nichts gleichzeitig; Jürgen konnte Geschichten aus den letzten 30 Jahren Fernsehgeschichte, aber auch aus seinem sonstigen Leben erzählen und er hatte die Gabe, auch Anekdoten, die keine Pointe im engeren Sinne enthielten, so zu erzählen, dass ich mehr als einmal große Sorge hatte, mich am Ende vor lauter Lachen auf seinem Beifahrersitz einzunässen. Mit ihm war sogar die Frage, ob wir rechtzeitig eine Tankstelle finden würden, bevor sein Tank leer wäre, - eine Frage, die ihn mutmaßlich deutlich mehr beunruhigt hat, als er sich anmerken ließ - ein einziger großer „Indiana Jones“-Spaß.

Vor etwas weniger als einem Jahr hatten wir zuletzt telefoniert: Eine Stunde lang hatten wir uns beömmelt über die kleinen und großen Absurditäten des Lebens; in jeder Geschichte, die ich erzählte, hatte er eine Story gesehen und gewusst, wie und wo sie wirklich zu erzählen wäre; wir hatten beim Gedanken-Ping-Pong neue Projektideen im Dutzend entwickelt und, weil Jürgen weise war und diese Weisheit gelegentlich auch abfärbte, die meisten davon sofort wieder verworfen, weil er trotz der kindlichen Freude nie besoffen von eigenen Ideen wurde und wusste, was gut war — und vor allem, was nicht. Wir waren mit dem klassischen Gruß der Vielbeschäftigten auseinandergegangen, uns unbedingt demnächst aber wirklich mal wieder sehen zu müssen. Und jetzt war Jürgen mit 63 gestorben und ich saß in seinem Lieblingsrestaurant, aß eins seiner Lieblingsessen und fragte mich, ob ich ihm, wenn schon nicht gesagt, dann doch wenigstens ausreichend gezeigt hatte, wie viel er mir bedeutet hatte.

In dieser Stimmung fuhr ich dorthin, wo ich mit Gedanken über Leben und Tod am besten aufgehoben bin: ans Meer. Noch eine Woche verbrachte ich mit meiner kleinen Familie auf unserem Campingplatz in Noord-Holland und saß die meiste Zeit eigentlich nur in der Sonne. Häufig hatte ich Kopfhörer auf und hörte, was mir gerade in den Sinn kam, zwischendurch las ich in Büchern und Zeitschriften und verfolgte auf Threads die neuesten, alle Vorhersagen sprengenden, Entwicklungen im amerikanischen Wahlkampf. Abends guckten wir auf unseren Smartphones mehrere Olympia-Livestreams gleichzeitig und spielten „UNO Flip“. Und dann war ich nach über 20 Jahren zum ersten Mal wieder Wellenreiten.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Was macht der Garten?

Unsere Nachbarinnen haben sich ganz hervorragend um unsere Pflanzen gekümmert, als wir im Urlaub waren. Möchte jemand Tomaten?

Was hast Du gesehen?

Olympische Spiele. Von der beeindruckenden, aber sehr französischen Eröffnungsfeier, über viele, viele Stunden voller Wettkämpfe bis hin zur Abschlussfeier. 

Und gerade, als ich dachte: „Frankreich macht das alles wirklich sehr toll, aber an London 2012 mit seiner überbordenden popkulturellen Bedeutung für mich persönlich kommt das dann alles doch nicht dran“, erklangen die ersten Töne von „Lisztomania“ (Öffnet in neuem Fenster) von Phoenix und ich war vollends hin und weg.

Ich hätte so Bock auf Olympische Spiele in Deutschland im Jahr 2040 — und auf einen Job im creative team!

Was hast Du gelesen?

Bei „Spiegel Online“ (Öffnet in neuem Fenster) haben sie den Diplomaten Wolfgang Ischinger, ehemaliger Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, interviewt. Es geht in dem Gespräch um seinen Schüleraustausch in die USA im Jahr 1963, als zum vorletzten Mal auf einen Präsidenten geschossen wurde, und seine späteren Erfahrungen in den Vereinigten Staaten. Ich habe das Interview gelesen, als eine Wahl von Donald Trump noch relativ wahrscheinlich schien (s.o.), und es erinnerte mich an vieles, was ich an den USA mag oder zumindest schätze.

Ganz andere Geschichte: Die „Washington Post“ (Öffnet in neuem Fenster) erzählt von einem Straßenkehrer aus London, der gerne mal wieder in Urlaub fahren wollte. Anwohner*innen sammelten Geld für ihn, das er aufgrund von Anti-Korruptions-Bestimmungen aber nicht annehmen durfte. Doch dann kam die PR-Abteilung eines Reiseveranstalters auf eine geniale Idee. Es ist eine herzerwärmende Geschichte, die den Glauben an das Gute in der Menschheit verstärkt.

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Giraffen auf Augenhöhe begegnet (im Berliner Tierpark). Ich hatte nie ein besonderes Verhältnis zu Giraffen, aber das hat mich sehr beeindruckt und gerührt und seitdem bin ich großer Fan.

Was hast Du gelernt?

In Deutschland kommen alle Friseur*innen gemeinsam auf eine Million Kundenkontakte täglich.

https://www.youtube.com/watch?v=xl_skC-dpKk (Öffnet in neuem Fenster)

Ich texte mein gesamtes Umfeld seit Wochen zu, dass sie unbedingt diesen Song hören müssen — aber ich hab ja wohl auch recht!

Wenn Dir dieser Newsletter gefällt, empfiehl ihn gerne weiter (Schneeballprinzip, s.o.) — und wenn er Dir so gut gefällt, dass Du dafür sogar zahlen möchtest („The New Yorker“ im Ruhrgebiet, s.o.), dann freue ich mich darüber sehr:

Habt eine schöne Restwoche!

Always love, Lukas

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