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Endless Summer (The Euros Diaries, Part III)

Touch me, how can it be?
Believe me, the sun always shines on TV
(a-ha)

142/∞

Good evening, Europe!

Zwei Mal habe ich in diesem Jahr bei europäischen Wettbewerben auf einen Sieg der Niederlande gesetzt und zwei Mal war es eine Kamera, die mir schon frühzeitig einen Strich durch die Rechnung machte: Beim ESC, weil Joost Klein offenbar eine Kamerafrau angegriffen hat (s.a. Newsletter #138 (Öffnet in neuem Fenster)), bei der Fußball-Europameisterschaft der Männer, weil der VAR im Halbfinale einen Elfmeter für England gab, der zumindest „umstritten“ genannt wurde (Öffnet in neuem Fenster).

Überhaupt war spätestens mit Beginn der Viertelfinals der Spaß raus aus dem Turnier: Deutschland verlor vielleicht auch deshalb gegen Spanien, weil ein entscheidender Elfmeter nicht gegeben wurde, im Spiel Portugal - Frankreich hätte keine der beiden Mannschaften weiterkommen dürfen, die Engländer schlugen mit ihrem Einschlaf-Fußball irgendwie die Schweiz und die Partie Niederlande - Türkei wird vor allem deshalb in Erinnerung bleiben, weil türkische Fans im Stadion zu Dutzenden den faschistischen Wolfsgruß machten und sich türkische Fans anschließend auf Social Media beklagten, dass sich andere deshalb über das Ausscheiden der Mannschaft gefreut hätten. Den Rest des Turniers konnte man dann eigentlich komplett vergessen.

Aber sehen wir’s so: Es war eine wirklich unterhaltsame, spannende, überraschende Gruppenphase (Österreich! Georgien! Überraschenderweise sogar Deutschland!) und meinetwegen bräuchte es diese ganzen K.O.-Spiele gar nicht — gebt einfach allen angetretenen Mannschaften einen Pokal wie in der F-Jugend und dann ist gut! Dass eine Mannschaft wie England, die über drei mal 90 und zwei mal 120 Minuten nur gequirlte Grütze gespielt hatte, wegen einer guten Halbzeit und einem guten letzten Angriff im Finale stand, bildet zwar eindrucksvoll die Interpretation eines Leistungsprinzips im endkapitalistischen Zeitalter ab, aber eben auch nur genau dort

Nun mag man einwenden, dass Spanien dann doch der ideale Europameister sei: Alle sieben Spiele gewonnen, jede Menge Weltklasse-Spieler! Ja, mag sein, aber es ist Spanien, für mich das uninteressanteste Land der Welt! Ich könnte außer „Zorra“ (Öffnet in neuem Fenster) keinen spanischen ESC-Song ansingen, habe keine einzige spanische Platte im Regal, kein spanisches Buch gelesen und genau einen spanischen Film gesehen: das Original (Öffnet in neuem Fenster) zu Cameron Crowes „Vanilla Sky“. An Frankreich interessiert mich auch wenig mehr als die Tour de France, aber ich schaue nicht mal die Vuelta. Essen? Ach, egal. Sollen sie in Villariba und Villabajo doch ihre Paella-Pfannen schrubben!

Kaum ist die Bayern-Meisterschaftsserie in der Bundesliga gerissen, muss man sich Sorgen machen, dass im Weltfußball wieder eine Phase kommen könnte wie zwischen 2008 und 2012, wo Spanien mit seinem grauenhaften Ballbesitz-Fußball alles dominiert hatte — aber diesmal bei Männern und Frauen.

Es gibt ja nicht wenige Menschen, die sich für die spanische, englische, französische oder italienische Liga interessieren; die sagen, der beste Fußball werde in der Champions League gespielt — mir ist das alles total egal. Ich möchte sehen, wie Bayern möglichst oft verliert und Bochum möglichst oft gewinnt. Ich möchte in der ersten Runde des DFB-Pokals irgendwelche Regionalliga-Stadien sehen und höherklassige Mannschaften scheitern. Ich habe keinerlei Bezug zu irgendwelchen Mannschaften in irgendwelchen anderen Ländern (klar: Liverpool unter Jürgen Klopp; im Zweifelsfall immer Juventus Turin; Hauptsache, Real Madrid verliert) und mich interessiert nicht, wer besonders aufregenden Fußball spielt (Spanien oder Real Madrid ja schon mal nicht), sondern, was das den Fans bedeutet. 

Ich möchte nicht wie Mario Basler klingen, aber irgendwie macht es mich schon traurig, dass so viele Jungs beim Fußballtraining mit Trikots von so Geld-umwälz-Maschinen wie Barça, Real oder PSG rumlaufen, die alles verkörpern, was mich am modernen Fußball stört. Natürlich: Jemand wie Kylian Mbappé, der es aus der banlieue an die Weltspitze schafft, kann für kleine people of color eine enorme Identifikationsfigur sein. Aber Cristiano Ronaldo mit seinem peinlichen Alpha-Jubel? Wir wollten wenigstens Jürgen Kohler oder Uwe Bein sein.

Am Ende geht es aber gar nicht so sehr um die Spiele selbst. Natürlich wissen wir noch, dass Italien 2006 Weltmeister wurde, aber auch nur, weil die Italiener Deutschland im Halbfinale rausgeworfen hatten und wir uns ewig an den Namen Marco Materazzi erinnern werden, an dessen Brustkorb die Karriere von Zinédine Zidane endete. 

Was von dieser Europameisterschaft bleiben wird, sind die holländischen Fans in den deutschen Innenstädten, die Schotten und Witze über Gelsenkirchen. Georgien gehört jetzt zu Europa (Öffnet in neuem Fenster).

Während das Turnier lief, gab es im Vereinigten Königreich einen historischen Links-Ruck und die französische Nazi-Trulla war beleidigt (Öffnet in neuem Fenster), dass Kylian Mbappé vor ihrer Partei gewarnt hatte. Parallel dazu lief in den USA die Copa América vor halbvollen (Öffnet in neuem Fenster) Stadien und mit völligem (Öffnet in neuem Fenster)Chaos (Öffnet in neuem Fenster) in den Arenen. Über den Wahlkampf möchte ich gar nicht sprechen.

Seit Peter Scholl-Latour am Abend des 12. September 2001 im Ersten Deutschen Fernsehen etwas verfrüht das „Ende der Spaßgesellschaft“ ausgerufen hatte, überlasse ich Prognosen alten Männern in Talkshow-Dekos, aber vielleicht, vielleicht wird man eines Tages über den Sommer 2024 sagen, dass sich dort der Schwerpunkt in der freiheitlichen Welt von den USA Richtung Europa verschoben hat.

Überhaupt: Sommer. Der österreichische Entertainer Michi Buchinger, den ich manchmal im Übermut als den „Freund und Kollegen Michi Buchinger“ bezeichne, hat in seinem Podcast (Öffnet in neuem Fenster) das Konzept der summer personality für sich erklärt — also, dass man zu Beginn eines Sommers für sich beschließt, inwieweit und in welche Richtung man während dieser Jahreszeit von seiner sonstigen Persönlichkeit abweichen möchte. Letztes Jahr hat er den „dummen Sommer“ gelebt, 2022 den „slutty summer“, und dieses Jahr probiert er den „sorglosen Sommer“. Dafür möchte er den Teil seines Gehirns deaktivieren, der sich immer über alle möglichen Eventualitäten Sorgen macht, und einfach im Moment leben. Das könnte man als Eskapismus geißeln, macht aber - gerade angesichts der aktuellen Nachrichtenlage - meines Erachtens durchaus Sinn.

Deswegen gehe ich den Sommer 2024 auch proaktiv an: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Sommer-Playlist (Öffnet in neuem Fenster) bei Spotify angelegt und habe den Plan, die dortige Musik als Soundtrack für meinen Sommer zu nutzen — so wie früher die Mixtapes, die ich in den Familienurlaub nach Holland mitgenommen und dort auf Radtouren und am Strand auf meinem Walkman gehört habe. Man kann so einen Sommer nicht erzwingen, weder als Wetter noch als Konzept, aber zumindest letzteres kann man ja mal versuchen. Und meine Erfahrung zeigt, dass ich mit Musik besonders gut Erinnerungen sammeln kann, von denen ich dann (hoffentlich) im Winter zehren kann wie Frederick im Kinderbuch (Öffnet in neuem Fenster) von Leo Lionni Sonnenstrahlen, Farben und Wörter.

In Bochum jedenfalls ist offiziell Sommer: Zum dritten Mal stehen in der Innenstadt Fieberglas-Dinosaurier (Öffnet in neuem Fenster) in Originalgröße, was mit dem „ältesten jemals in Deutschland gefundenen Fußabdruck eines Wirbeltieres“ begründet (Öffnet in neuem Fenster) wird, aber den Kindern ist es egal; sie freuen sich über die Dinos, die Innenstadt ist auch an Sonntagen bevölkert und Karl Lauterbach und die Krankenkassen sind froh, dass die Leute mal zu Fuß gehen.

Vorher war noch Bochum Total, eines der letzten verbliebenen großen „Umsonst & Draußen“-Festivals des Landes. Hier sieht man Menschen, die sich Festivals sonst schlicht nicht leisten könnten, und Acts, von denen man noch hören wird. Dazu: Teenager-Mädchen, die noch ein bisschen Übung beim Nachahmen von Beauty-Tutorials brauchen. Gleichaltrige Teenager-Jungen, die sich nach dem Konsum von Energy-Drinks für ein paar Sekunden wie die Könige der Welt fühlen. Ältere Paare in Funktionskleidung.

Vor den Bühnen: Nicht ganz optimal gemischter Live-Sound, der eine Spur zu laut ist, um von Ohrenärzt*innen noch goutiert zu werden, der Geruch von Bier und Gras und dann fällt einem die Abendsonne genau im richtigen Winkel direkt ins Gesicht. Was gibt es besseres? (Danach im eigenen Bett zu schlafen!)

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum man solche Live-Veranstaltungen parallel zu den großen Männer-Fußball-Turnieren im Sommer legt (und dann teilweise wieder absagen muss, weil der Vorverkauf so schleppend läuft), aber andererseits wird die WM 2026 fünfeinhalb Wochen (Öffnet in neuem Fenster) gehen und wenn man da versucht, den Rest des Sommerprogramms drumherum zu legen, wird auch dort alles sehr eng werden.

Wir haben für den Instagram-Kanal von Coffee And TV jedenfalls mal sowas Ähnliches wie eine kleine Live-Berichterstattung (Öffnet in neuem Fenster) vom Total versucht und auch in der aktuellen Ausgabe unserer kleinen Musiksendung (Öffnet in neuem Fenster), die leider erstmal die letzte ihrer Art ist (Spotify, verbrecherische Tech-Konzerne, Kapitalismus — man kennt das), blicke ich noch einmal auf das Festival zurück.

Den Abschied nach anderthalb Jahren „Radio“-Comeback wollte ich ohne größeres Pathos begehen, was mir - Sie kennen mich, Herr …! - nur bedingt gelungen ist:

https://www.instagram.com/reel/C9UVoUEsZG-/?igsh=dmd5b2ExdGsxM3Vx (Öffnet in neuem Fenster)

Es ist Euch vielleicht schon aufgefallen: Wir versuchen gerade, Coffee And TV (Öffnet in neuem Fenster) zu einem etwas größeren Online-Magazin für Popkultur, Fußball und Ruhrgebiet aufzublasen, was im Jahr 2024 ein bisschen irre ist, weil man dafür ganz viel content „liefern“ soll - noch dazu auf Social Media - und man natürlich „erstmal“ nichts damit verdient. 

Im Idealfall würden wir trotzdem gerne irgendwann auf ein Unterstützer*innen/Abonnent*innen-Modell setzen und ich kann Euch schon mal versprechen, dass alle, die diesen Newsletter hier schon finanziell unterstützen (Vielen Dank, es bedeutet mir sehr viel!), auch Zugriff auf mögliche Bezahl-Inhalte im Blog haben werden. (Und natürlich ist es auch immer sehr wertvoll, wenn Ihr meine/unsere Inhalte teilt!)

Bis ich davon leben kann, freue ich mich aber auch weiter über Aufträge als Journalist, Autor, Kolumnist, Rechercheur, Moderator oder Drehbuchautor — und möchte mich gerne auch als Creative Director, Berater und Regisseur für Musikvideos, Theaterstücke und Spielfilme ausprobieren.

Was macht der Garten?

Wir haben die leckersten Erdbeeren der Welt geerntet, wir werden sehr viele Tomaten haben und vielleicht sogar einen Brokkoli.

Was hast Du veröffentlicht?

Es ist mir sehr unangenehm, aber ich musste im Blog einen kleinen, empörten Fensterrentner-Text (Öffnet in neuem Fenster) absetzen, weil ich mich so sehr über das geärgert habe, was deutsche Firmen („Firmen“, haha, gemeint sind: Deutsche Bahn und Deutsche Post) in der Kommunikation mit ihren Kund*innen als „Digitalisierung“ verstehen.

Meine ganz persönliche Digitalisierung sieht „Texten statt Anrufen“ vor — und darüber habe ich für die „taz“ einen Text (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben 

Was hast Du gehört?

Travis, eine Band, die mir früher (Öffnet in neuem Fenster) mal sehr viel bedeutet hat, die letzten ca. 15 Jahre aber nicht mehr viel, haben ein neues Album veröffentlicht: „L.A. Times“ (BMG; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)) hat nicht nur den gleichen Cover-Fotografen wie ihre legendären Alben „The Man Who“, „The Invisible Band“ und „The Boy With No Name“, es kann auch - nach den ersten Hör-Durchgängen - in Sachen poppiger Melancholie (oder melancholischem Pop, da bin ich mir noch nicht so sicher) zumindest stellenweise mit ihnen mithalten. Im closer fängt Fran Healy plötzlich sogar an zu Rappen und das sollte man sich zumindest mal angehört haben.

Was hast Du gesehen?

Fußball-EM der Männer, Tour de France der Männer, Testspiele der 1. Männer-Mannschaft des VfL Bochum — es ist Sommer, da guck ich halt Sport!

Was hast Du gelesen?

Micky Beisenherz hat sich in seiner „Stern“-Kolumne (Öffnet in neuem Fenster) dem Thema gewidmet, wie man als linke oder liberale Person damit umgeht, dass es natürlich auch Straftäter mit Migrationsgeschichte gibt, und wie man seine eigene öffentliche Position dazu ins Verhältnis setzt zu der berechtigten und notwendigen Empörung über auch vermeintlich kleinere Anzeichen eines Rechtsrucks. Es ist ein Text, der mehr Fragen aufwirft als Antworten anzubieten, und das finde ich schon immer sehr spannend.

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Einen Newsletter komplett auf dem iPad geschrieben. Ich hoffe, euer sieht nicht komisch aus!

Was hast Du gelernt?

„Mr. Brightside“ von The Killers ist jetzt (Öffnet in neuem Fenster) der Song, der in Summe am längsten in den britischen Single-Charts verbracht hat: 416 Wochen (and counting).

https://youtu.be/fO9SYW9r4kw (Öffnet in neuem Fenster)

Habt eine schöne Woche!

Always love, Lukas

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