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➜ eine Sache nur #5 | Genauigkeit

Es war experimentell in den vergangenen zwei Wochen. Jetzt wird es kontra-intuitiv. Falls ihr euch nach all dem Gerede auf zwei ruhige Wochen eingestellt habt: Pech gehabt.

Ziemlich genau in der Mitte. Foto: Paul Jonas

Dieser Newsletter ist Teil einer Serie über die Entwicklung von Kreativität. Du kannst zwar jederzeit einsteigen – aber ich empfehle, zuerst den Prolog zu lesen. Den Link zur Anmeldung und eine Übersicht der Übungen findest du hier (Öffnet in neuem Fenster)

eine Sache nur (Öffnet in neuem Fenster)

Wrap Up „laut Denken“

Meine Bilanz ist 10 aus 14. Ich habe es also zehnmal hinbekommen, zehn Minuten zu laut zu denken. Immerhin. Was wirklich schwer war: Einen ruhigen Platz zu finden, bei dem niemand zuhört. Und in der Öffentlichkeit komme ich mir blöd vor, wenn ich ins Handy rede. Auch, wenn diese Geräte dafür ja gebaut sind.

Und hat sich etwas geändert? Auf jeden Fall! Es gab im letzten Drittel eine zunächst unmerkliche und dann deutliche Veränderung: Meine „Rede“ wurde strukturierter und die ausgesprochenen Gedanken tiefer.

Etwa während einer Lauf-Pause, in der ich einige Gedanken loswerden wollte: Ich konnte alle zu besprechenden Punkte gut nacheinander laut denken und habe sie dabei sogar weiter entwickelt. Für ein kreatives Problem in der Vorbereitung eines Seminars habe ich sogar eine probate Lösung gefunden. Jedenfalls kam mir das so vor und ich konnte erleichtert weiterlaufen.

Und du? Da diese Übung experimentell ist, bin ich sehr gespannt auf deine Erfahrung. Schreibe mir gerne an paul@contentman.de (Öffnet in neuem Fenster).

Und jetzt: Genauigkeit

Das klingt kontra-intutitv? Wieso soll ausgerechnet Genauigkeit eine gute Übung für mehr Kreativität sein?

Inspiriert hat mich dazu die große Flut von Literatur über Kreativität. Dort ist zu lesen, dass wir kreativer werden, wenn wir achtsamer und aufmerksamer durch die Welt gehen. Und das ist wohl wahr. Nur: warum eigentlich? Und was ist eigentlich „aufmerksam“?

Die beste Erklärung dafür habe ich bei Rick Rubin gefunden. Er weist darauf hin, dass „Inspiration“ vom lateinischen „Einhauchen, Einatmen“ kommt: Bevor ein kreatives Ergebnis rausgeht, muss vorher etwas reingehen. Wir müssen also aufnehmen, bevor wir etwas geben können.

Mit Social Media, Netflix oder Podcasts nehmen wir nicht wirklich etwas auf. Wir triggern damit lediglich unseren Dopamin-Spiegel und blicken auf die digitalen Oberflächen, die uns andere bieten. Das ist nicht die Welt, das ist der Blick auf fragmentierte Spiegel einer Scheinwelt.

Auch, wenn das wie die Meinung eines altern weißen Mann klingt: Als kreativer Input zählen die digitalen Massenmedien nicht. Denn sie repräsentieren nur das, was nach massenkompatiblen Schemata – mit oder ohne KI – erstellt wurde. Das kann unterhaltsam sein und ablenken. Aber daraus werden wir keine kreativen Inspirationen schöpfen, die nicht auch ChatGPT formulieren könnte.

Wir sind Menschen. Unser einziger Vorsprung vor den KI-Modellen ist das Weltwissen darüber, wie sich die Welt anfühlt. Doch auch wir müssen hinschauen und hinfühlen um das zu erleben und zu erfühlen, und uns nicht nur immer mehr ablenken lassen.

Bevor wir kreative Ergebnisse ausatmen, müssen wir die Welt – so wie sie ist – einatmen.

Und hier kommt die Genauigkeit ins Spiel. Bevor wir über Achtsamkeit und meditative Zustände reden, ist es hilfreich, wenn wir einfach ein bisschen genauer hinschauen, was wir gerade tun. Und das müssen wir (wieder) lernen.

Denn dank Buchdruck, Fernsehen, Internet und Social Media haben wir uns eine überfordernde Informations-Fülle geschaffen. Deshalb sind Zusammenfassungen und kurze Überblicke zur Überlebensstrategie geworden. Wer hat noch Zeit, sich wirklich mit den Details zu beschäftigen? Wir nehmen, natürlich, die Abkürzung

Stimmt doch, oder? In dieser Über-Informationsgesellschaft ist „Genauigkeit“ zu einer fest angezogenen Handbremse geworden. Mit dem Pareto-Prinzip kommen wir wenigstens halbwegs noch durch den Tag.

Und doch: Es lohnt sich, die Fähigkeit zu trainieren, gelegentlich wieder genau hinzuschauen. Einige Details mehr zu sehen, einige Dinge wieder besser zu verstehen.

Das werden wir in den nächsten zwei Wochen üben. Zur Abwechslung habe ich dafür auf dem Contentman keinen Artikel geschrieben. Dafür war keine Zeit. Also habt ihr hier im Newsletter gänzlich exklusiven Content. ;-)

Nämlich diese sechs Übungen, die du in den nächsten sieben Tagen erledigen solltest; ein Cheatday gönne ich dir. Tue dir einen Gefallen und mache diese Übungen wirklich. Denn in der nächsten Woche wird es Anschlussübungen geben.

Die Reihenfolge ist übrigens egal. Aber ein Tipp: Beginne nicht mit dem Cheatday.

  1. Notiere dir an einem Morgen, was du in der ersten Stunde getan hast. Wann bist du aufgestanden? Welche Gedanken hast du? Was erledigst du im Bad? Woraus besteht dein Frühstück? Wann liest du die ersten E-Mails oder die ersten Social Media Postings? Schreib auf, was du in der ersten Stunde eines Tages tatsächlich tust. Möglichst genau.

  2. Gehe an einen Ort, an dem du ein Kunstwerk sehen kannst. Das kann auch Street-Art, also ein gesprühtes Bild auf einer Hauswand sein. Oder vielleicht hast du Lust, in ein Museum zu gehen? Setze dich vor das Bild und schaue es mindestens 20 Minuten lang an. Nur anschauen, nichts notieren. Einfach anschauen. Wenn es dir gelingt, schaue es dir länger an. Eine Stunde, zwei Stunden? Aber 20 Minuten mindestens.

  3. Schreib in dein Notizbuch eine Begebenheit aus deiner Jugend auf. Etwas aus der Zeit, in der du zwischen zehn und 25 Jahren alt warst. Vielleicht ein Erlebnis, das dir wichtig war; oder eines, an das du dich gut erinnerst. Sei auch hier möglichst genau. Denke an alle Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken) und auch an die Temperatur, deine Gefühle und wer was gesagt hat. Es geht nicht darum, viel „Story“ aufzuschreiben, sondern möglichst genau zu notieren. Also lieber eine kurze Szene als eine lange Geschichte. Schreibe das als fortlaufenden Text und nicht als Aufzählung.

  4. Zeichne deinen Schreibtisch. Falls du kein Talent zum Zeichnen hast: Es geht nicht um Schönheit, sondern um Genauigkeit. Also stelle dir vor, du schaust von oben auf deinen Schreibtisch und male dann zumindest die Umrisse aller Objekte, die darauf liegen.

  5. Lies einen Text sehr genau. Ich hänge unten vier Texte von sehr unterschiedlichen Philosophen an, von denen du einen bitte sehr aufmerksam liest. Du musst ihn nicht auswendig lernen. Doch es ist wichtig, dass du ihn sehr genau liest. Immer wieder und vielleicht auch unter verschiedenen Aspekten (Inhalt, Satzbau, Wortwahl, Aussage).

  6. Zähle einen Tag lang, wann genau du etwas isst und wann du etwas trinkst. Es geht nicht darum, was du isst oder trinkst, sondern nur, wann genau. Notiere die Uhrzeiten und male dir eine Skala, auf der du diese Uhrzeiten einträgst.

Falls du Fragen oder Bemerkungen dazu hast, schreibe mir an paul@contentman.de (Öffnet in neuem Fenster). Und falls du dir bei diesen Übungen blöd vorkommst, ignoriere das einfach. Es war noch niemals „normal“ ein kreativer Kopf zu sein ;-)

Und vergiss nicht: Mache diese Übungen wirklich! Sei bitte möglichst genau dabei.

Dein Paul

Hier die Texte für die Übung

Epiktet (Handbüchlein der Moral, https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019103-3.pdf (Öffnet in neuem Fenster))

„Wenn du moralische Fortschritte machen willst, gib Erwägungen wie die folgenden auf: »Wenn ich mich nicht um meine Geschäfte kümmere, werde ich nichts zu essen haben.« Oder: »Wenn ich meinen Sklaven nicht züchtige, wird er ein Nichtsnutz.« Denn es ist besser, frei von Kummer und Angst Hungers zu sterben, als ständig innerlich aufgewühlt zu leben. Es ist besser, dass dein Sklave ein Taugenichts ist, als dass du selbst unglücklich bist. Fang also mit den unscheinbaren Dingen an: Wird dir ein bisschen Öl verschüttet, ein bisschen Wein gestohlen, so sage dir: „Das ist der Preis für Gleichmut, das der Preis für innere Ruhe.“ Umsonst bekommt man nichts. Wenn du deinen Sklaven rufst, bedenke, dass er dich vielleicht nicht hören kann, und wenn er dich gehört hat, dass er vielleicht gar nicht in der Lage ist, das zu tun, was du von ihm verlangst. Aber sein Einfluss ist nicht so groß, dass deine innere Ruhe von ihm abhängt.“

Ludwig Wittgenstein (Tractatus Logico-Philosophicus, https://www.gutenberg.org/files/5740/5740-pdf.pdf (Öffnet in neuem Fenster)

In einer Urne seien gleichviel weiße und schwarze Kugeln (und keine anderen). Ich ziehe eine Kugel nach der anderen und lege sie wieder in die Urne zurück. Dann kann ich durch den Versuch feststellen, dass sich die Zahlen der gezogenen schwarzen und weißen Kugeln bei fortgesetztem Ziehen einander nähern. Das ist also kein mathematisches Faktum. Wenn ich nun sage: Es ist gleich wahrscheinlich, dass ich eine weiße Kugel wie eine schwarze ziehen werde, so heißt das: Alle mir bekannten Umstände (die hypothetisch angenommenen Naturgesetze inbegriffen) geben dem Eintreten des einen Ereignisses nicht mehr Wahrscheinlichkeit als dem Eintreten des anderen. Das heißt, sie gebe (nwie aus den obigen Erklärungen leicht zu entnehmen ist) jedem die Wahrscheinlichkeit 1 2 . Was ich durch den Versuch bestätige ist, dass das Eintreten der beiden Ereignisse von den Umständen, die ich nicht näher kenne, unabhängig ist.

Michel de Montaigne (Die Essays, https://onemorelibrary.com/index.php/de/?option=com_djclassifieds&format=raw&view=download&task=download&fid=16668 (Öffnet in neuem Fenster))

Die Menschen (sagt eine alte griechische Sentenz) werden von den Meinungen gequält, die sie von den Dingen hegen, und nicht von den Dingen selbst. Man hätte schon einen großen Schritt zur Erleichterung des menschlichen Elendes gewonnen, wenn man diesem wahren Gedanken durchgängig und allenthalben Eingang verschaffen könnte. Denn wenn das Übel keinen anderen Eingang bei uns findet als durch unser Urteil, so scheint es in unsrer Macht zu stehen, es zu verachten oder zum besten zu kehren. Wenn die Sachen sich nach unserm Gutachten fügen, warum lenken und beherrschen wir sie nicht zu unserm Vorteile? Wenn das, was wir Übel und Pein nennen, an sich selbst weder Pein noch Übel ist, sondern nur insofern ihm unsre Fantasie diese Eigenschaft gibt, so steht es bei uns, es zu verwandeln? Und da wir die Wahl haben und da nichts uns zwingt, so sind wir ganz sonderbare Toren, uns steif und fest auf der Seite zu halten, die uns den meisten Verdruss macht, und den Krankheiten, der Armut und der Verachtung einen so bitteren, widrigen Geschmack zu geben, wenn wir solch einen guten geben können? Und wenn das Glück nichts weiter hergibt als die Materie, so ist es unsre Sache, ihr die Form zu geben.

Byung-Chul Han (Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit)

Die Untätigkeit bildet das Humanem. Der Anteil der Untätigkeit am Tun macht dieses geniun menschlich. Ohne Moment des Zögerns oder es Innehaltens sinkt das Handeln zur blinden Aktion und Reaktion herab. Ohne Ruhe entsteht eine neue Barbarei. Schweigen vertieft das Sprechen. Ohne Stille gibt es keine Musik, sondern nur Lärm und Geräusch. Spiel ist die Essenz der Schönheit. Wo allein das Schema von Reiz und Reaktion, von Bedürfnis und Befriedigung, von Problem und Lösung, von Ziel und Handlung herrscht, verkümmert das Leben zum Überleben, zum nackten animalischen Leben. Das Leben erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit. Kommt uns die Untätigkeit als Vermögen abhanden, gleichen wir einer Maschine, die nur zu funktionieren hat. Das wahre Leben beginnt in dem Moment, in dem die Sorge um das Überleben, die Not des schieren Lebens aufhört. Der letzte Zweck menschlicher Anstrengungen ist die Untätigkeit.

Kategorie eine Sache nur – Mails