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Zu Erinnerungen bei Bergson und Deleuze und deren Zirkulieren im medialen Gedächtnis von Lebensformen

" ... es ist die Welt, die uns wie ein schlechter Film vorkommt."

Gilles Deleuze in "Das Zeit-Bild"

Am 4. März dokumentierte der französische Autor Edouard Louis bei Instagram in einer "Story" seine Lektüre von Gilles Deleuze' "Le Bergsonisme", somit dessen Buch über das Denken von Henri Bergson. Louis hebt eine Passage hervor, die Mechanismen der Erinnerung thematisiert - oder auch, in manchen deutschen Übersetzungen, des Gedächtnisses. Erinnerungen koexistieren als Repräsentationen des Vergangenen mit der Gegenwart. Präsent, aber anders sich zeigend als akut Erlebtes. Die Sphäre, in der sie koexistieren, bezeichnet Deleuze als "Virtuelles". Wikipedia zufolge lässt sich Virtuelle begreifen als:

"Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen. Virtualität bezeichnet also eine gedachte Entität, die in ihrer Funktionalität oder Wirkung vorhanden ist." (Öffnet in neuem Fenster)

 Im konkreten Fall handelt es sich nicht um "Sachen", sondern um "Entitäten" wie: Ereignisse, Erfahrungen, Situationen inclusive all der Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen, die in diesen enstanden. Wenn ich die Erfahrung gemacht habe, auf dem Schulhof wegen "zu schwul" verprügelt zu werden, ein Beispiel, das angesichts von Louis' "Das Ende von Eddy (Öffnet in neuem Fenster)" angemessen erscheint, wirkt die Erinnerung daran auf mein aktuelles Körperempfinden ein. Triggern mich analoge Situationen, ein Haufen hämisch grinsender Jungs an einer Straßenecke, so aktualisieren sich im spontanen Erinnern die Erfahrungen von Gewalt. Um solche Erfahrungen kreist "Das Ende von Eddy". Als von seiner Umwelt zu weiblich gelesen, erfährt die Hauptfigur Prügel und Demütigung. "Im Herzen der Gewalt" (Öffnet in neuem Fenster), eines der Folgewerke, schildert, wie Louis eine Vergewaltigung überlebte. In diesen und anderen Werken beschreibt der Autor zudem das Arbeitermilieu, in dem er aufwuchs - anklagend, dass Menschen in solche Verhältnisse geworfen und dort gelassen werden. Es handelt sich um so genannte "Autofiction", eine literarische Aufarbeitung tatsächlich Erlebten. Die Auseinandersetzung mit Erinnerungen auch in philosophischer Hinsicht liegt bei solchen Schreibpraxen nahe. So zitiert Lous den folgenden Passus aus Deleuze "Bergsonisme":

"Die Dauer ist wesentlich Erinnerung, befreites Bewusstsein, Bewahrung und Anhäufung der Vergangenheit. (...) Entweder enthält die Gegenwart das ständig wachsende Bild der Vergangenheit oder sie bezeugt durch ihre ständige Qualitätsänderung die immer größere Last, die man mit sich herumträgt, wenn man älter wird."

 So übersetze ich unautorisiert die unterstrichenen Passagen im Screenshot. Die Dauer von Erinnerung und jener Gegenwart, in der sie aktualisiert wird, kann keinen Zeitpunkt definieren, nur Abschnitte, Verläufe, die oft als Geschichten mit Anfang und Ende nacherzählt werden.

 Dieser Grundgedanke der Dauer Bergsons als das, was Zeiterleben bestimmt, durch Deleuze prägt auch dessen Auseinandersetzungen mit dem Kino. Er wendet Theoreme Bergsons auf das Medium Film an.

 Die Diskussion der Interpretation durch Deleuze ermöglicht jedoch ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit Elementen in dem Schreiben von Edouard Louis. Wieso das alles mit Politiken der Lebensformen zusammenhängt, das soll im Folgenden erläutert werden.

Erinnerungen bei Henri Bergson und im "Zeit-Bild" von Gilles Deleuze

 Henri Bergson unterscheidet in "Materie und Gedächtnis" zwei Formen des Erinnerns. Zum einen das, was man heute als "Körpergedächtnis" bezeichnen würde. Bergson schreibt hier vom "Sensomotorischen". Durch körperliche Einübung, mittels Wiederholung, erlerne ich Fahrrad fahren, ein Musikinstrument spielen, mich orientieren in einer Stadt. Die Erinnerung an die Griffe auf dem Saxofon, den Weg zur Arbeit oder auch das Treten in die Pedalen verkörpert sich buchstäblich.

 Hinzu tritt etwas, dessen Ontologie, also Seinsweise, Bergson nur schwer zu fassen bekommt und seine Ausführungen nicht ganz frei von Mystik sich lesen. Doch, was er beschreibt, wirkt im Alltag: Erinnerungen an Erlebnisse, Geschehnisse, Momente, Gefühle beim Sex oder eine Melodie. Sie verortet Bergson im "Virtuellen", das er analog zu einem gewaltigen Speicher konzipiert. In manchen Passagen wirkt das Virtuelle wie die Zeit selbst und diese wie ein Medium. Erinnerungen seien, so Bergson, nicht in Gehirnregionen fixiert, vielmehr sei das Gehirn selbst ein Bild auf dieser gigantischen Festplatte der Zeit.

 So kurios diese Dimension des Seins sich denkt, so plausibel erscheint das, was Deleuze daraus macht. Er verdeutlicht es an dem Trichter oder Kegel, der auch oben links als Kennung dieser Internetseite zu sehen ist. Die Grafik stammt aus "Materie und Gedächtnis" von Bergson, selbstverständlich einer Ausgabe aus dem frühen 19. Jahrhundert, deren Urheberrecht somit abgelaufen ist.

Die Spitze S bildet den Kontaktpunkt zur "physischen Welt", zur Aktualisierung von Erinnertem dort, wo Menschen agieren. Der Kegel stellt das Gedächtnis von frei flottierenden, diffusen Eindrücken bis hin zu sich in konkreten Erinnerungsbildern verdichtend dar. An der Kegelspitze, dort, wo der Körper in der Welt situiert ist. Subtile Empfindungen, Assoziationen, Blicke aus dem Augenwinkel, Hören von Musik und anderen Geräuschen, ein Hauch Parfum komprimieren sich zu halbwegs klaren Bildern, wenn sie als Erinnerung aktualisiert werden: "Weißt Du noch, als wir in Rom Tortellini gegessen haben in diesem netten Restaurant mit den rot-weiß karierten Tischdecken unweit des Colosseums? Die haben aber besser geschmeckt als die hier in Köln gerade." "Ja, ich habe selten in Köln gut italienisch gegessen."

 Solche Abgleiche von Erinnerungen mit der Gegenwart treiben Bergson zufolge die Erkenntnis voran. Wir generalisieren so ggf. bisherige Erfahrungen, wie in dem Beispiel ja auch erkennbar wird.

 Die Pointe: alles ist prozessual. Bergson begreift Gegenwart als Momente "von einer gewissen Dauer", wie im von Louis zitierten Passus und bereits erwähnt. Gegenwart ist kein Punkt auf einer Linie, sondern ein permanentes Werden.

 In den Ausführungen von Deleuze zum Kino bildet diese Annahme das Zentrum. Man kann Film nicht verstehen, wenn man sich die Einzelbilder ansieht. Film funktioniert über die Bewegung, die erst in einer Abfolge von vielen Einzelbildern im Verlauf von Zeit als Bewegung überhaupt erkennbar wird. Bewegung IST Zeit. Das jedoch nicht, wenn man die Punkte, die eine Bewegung im Raum vollzieht, einfach aneinanderreiht. Damit sich eine Linie bildet, muss auch der Punkt eine gewisse Ausdehnung haben, und den Bogen, den der Ball auf dem Weg ins Tor bildet, kann aus keinem einzelnen Screenshot als Bewegung begriffen werden. Raum für uns entsteht erst durch Bewegung als Zeit.

 Erinnerungsbilder koexistieren in ihrer Aktualisierung mit dem, was akut noch beim sensomotorisch eingeübten Essen von Tortellini mit Messer und Gabel ausgeführt wird. Im "Zeit-Bild" analysiert Deleuze viele Filme des Kino-Kanons, in denen er solche Erinnerungen wie auch das Einbrechen der Zeit selbst als Medium im Film rekonstruiert. Dann, wenn Flimmern oder Rauschen in cineastischen Sequenzen selbst Sujet werden, im Bild sichtbar. Auch das Wehen des Windes in Blättern am Baum, das Fließen des Wassers im Bach.

Zeit wird auch sichtbar, wenn räumliche Zusammenhänge durch die Montage aufgelöst werden, somit erst die im Schnitt generierten Zeitfolgen das erzeugen, was man nacheinander sieht als Kontinuum. Das erkennt man, denkt man an "Cocktail für eine Leiche" von Hitchcock, das weitestgehend in einer Einstellung ohne Schnitt gedreht wurde. Die Raumordnung in manchen Passagen anderer Werke setzt sich erst im Film, gerade dann, wenn viel und schnell geschnitten wird,  zusammen. Am Anfang von "We need to talk about Kevin" mit Tilda Swanton und Ezra Miller wird exzessiv mit Zeit- und Ortswechseln gespielt. So offenbart sich, dass filmische Ordnung wie auch die der Musik eine der Zeit ist. Oft wird darum auch auf Musik geschnitten. "Kino ist Musik fürs Auge", schreibt dazu Martin Seel in "Die Künste des Kinos".

  Wenn, wie im berühmten "Fahrraddiebe" von Vittorio de Sica, ein Beispiel von Deleuze, die gehetzte Handlung auf einmal durch Regen unterbrochen wird, die Protagonisten sich eine Pause gönnen, während sie sich unterstellen, bricht ebenso die Zeit als Unterbrechung der Handlung in den Film ein. Als durchgängig inszenierter Gegenstand regiert Zeit die gesamte Filmdauer von "Citizen Kane", ein Orson Welles-Film. Erinnerungen der Protagonisten erscheinen im Hintergrund einer Einstellung, verstärkt noch durch die "Tiefenschärfe". Eine Bildgestaltungstechnik, die, anders als heute in Zeiten der Unschärfe hinter dem Fokussierten üblich, den Hintergrund eines Bildes ebenso scharf stellt wie den Vordergrund. In diesem geschehen dann Ereignisse aus der Vergangenheit.

 Der ganze Plot des Films besteht aus Rückblenden, die sich aus den Erinnerungen von Menschen ergeben, die von einem Reporter zu "Citizen Kane" befragt werden. Die Suche nach "Rosebud" treibt den Film an. Der sterbende Citizen Kane, ein Medienmogul, spricht im Sterben beim Blick auf eine Schneien suggerierende Glaskugel dieses, zu deutsch "Rosenknopse", als sein letztes Wort. Statt Schnaps. Es tragen ihn auch keine Englein fort. Es stellt sich heraus, dass "Rosebud" der Name eines Schlittens ist, mit dem Kane als Heranwachsender im Winter Spaß hatte. Eine Kindheitserinnerung, koexistent zum Prozess des Sterbens.

 Wenn das oben erwähnte Tortellini-Essen zu einer Szene wie der berühmten in Harry und Sally (Öffnet in neuem Fenster) überleitet, dann teilen viele Menschen die Erinnerung an diesen Film. Mediale Erzeugnisse produzieren eine Art kollektives Gedächtnis. Der Karl May-Film-Fetisch, der sich derzeit bei offensiv aggressiv Agitierenden herausgebildet hat, jenen, die sich einbilden, es würde nun verboten, "Winnetou" noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu zeigen, kann als Beispiel dienen.

Docutimelines

 Solche kollektiven Erinnerungen lagern in Archiven. In meiner Dissertation "Docutimelines (Öffnet in neuem Fenster)" habe ich solche Zusammenhänge intensiver ausgeführt. "Docutimelines" folgt dabei der einer Doppelbedeutung von "Timelines". Es meint zum einen die Timelines in digitalen Schnittsystemen: eine oder mehrere Bildspuren, darunter eine oder viele Tonspuren, darüber solche für Effekte und Grafiken. Das Prinzip taucht mittlerweile auf jedem iPhone in "iMovie" auf.  Die ausgewählten Abschnitte von Ausgangsmaterialien werden hier linear angeordnet dargestellt. In und auf diesen arrangieren Menschen ihre Filme und generieren so innerfilmische Zeit als z.B. eine Abfolge von Rohmaterial- und Archiv-Samples im Falle gerade von TV-Dokumentationen.

 Es gibt verschiedene Arten von Gründen, warum nun gerade dieses und kein anderes Material bei Minute 17 in einen Film geschnitten wird. Solche Gründe am Leitfaden von Wahrheitskriterien oder auch normativen wie ästhetischen diskutieren im Schnitt Editor*innen mit Regisseur*innen und überlegen dabei, ob das im Sinne der zahlenden Kunden sein könne - Erinnerungen an dessen Briefings aktualisieren sich im Dialog. Diese kommunikativen Prozesse all derer, die an einem solchen Produkt mitarbeiten, bilden den Pool für gute oder schlechtere Begründungen für den Materialeinsatz. Schlechte Gründe können z.B. solche sein, die besagen, dass das konservative WDR-Publikum Hella von Sinnen zu schrill fände in einer Story, in der sie jedoch inhaltlich eine durchaus relevante Rolle spielt. Zum Beispiel bei einer Doku zu "Shows im frühen Privatfernsehen der späten 80er Jahre". Gute Gründe können solche sein, die anführen, dass Fehlfarbens "Monarchie und Alltag" zu wichtig und einflussreich war, um es in einem Film über die "Neue Deutsche Welle" nicht einzubauen.

 Diese Auswahlkriterien konstituieren gedachte Linien in historische Zeit, Kausalitätsketten, die Abfolgen in Filmen bestimmen. Dieses ist die zweite Bedeutung von "Timelines". "Keine Atempause, Geschichte wird gemacht" von Fehlfarben ging in der historischen Zeit Nenas "Nur geträumt" voraus, hat dessen Erfolg durch Vorarbeit mit ermöglicht.

Hineingeschnitten wird jedoch nicht die historische Zeit selbst, sondern deren mediale Vermittlung. So immer wieder der berühmte Auftritt Nenas im "Musikladen" mit dem roten Minirock den Weg in solche Dokus finden. Weil sich da so viele dran erinnern.

 Auch das eine These von Deleuze: im Virtuellen der Erinnerung und somit der Zeit bilden sich Regionen, Zonen, Schichten, Überlagerungen, auf die im jeweils Aktuellen Bezug genommen wird. In den historischen Bildern wird nicht die die Geschichte selbst sichtbar, sondern soziale Konstellationen, die dafür sorgten, dass Nena aufgetreten ist und nicht etwa Mythen in Tüten (diese Band gab es wirklich). Das würde ich ergänzen. Die in Archiven aufzufindenden Schichten und Regionen des kollektiven Gedächtnisses sind bereits Effekte von Macht- und Selektionskriterien wie auch guter Gründe in der Vergangenheit. Sie gehen indirekt ein in aktualisierende Produktionen.

 In all den Retro-Formaten, die permanent flimmern (und an denen ich oft mitarbeite), stecken sie drin. In ihnen ist die Zeit selbst auch als Materialqualität sichtbar. Für "Pop 2000 - 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland" haben wir mehr als 1 Jahre Recherche in ARD-Archiven verbracht. Viele der Videobänder aus den 80ern zerfielen da bereits. Der Look ist anders als der noch gut aussehende Film aus den 70er Jahren. Ich besuchte noch Carmen Knoebel, die einst den Ratinger Hof in Düsseldorf betrieben hat, um mir VHS von Auftritten der "Panzerknacker" zu leihen: materiale Erinnerung, auf Magnetband gespeichert, die im Falle von Zeitzeugen-Interviews und auch bei Zuschauer*innen individuelle Erinnerungen auslösen können. Wie sie den "Rockpalast" von Ideal als Teenie im Fernsehen sahen oder "Du sollst immer artig sein" von Feeling B. auf einer illegal kopierten Cassette zu Hause im Plattenbau hörten, als sie vom FDJ-Treffen genervt nach Hause kamen.

 Mit solchen material-medialen Aktualisierungen von Erinnerungen arbeiten viele TV-Formate. Im schlimmsten Fall füttern sie Retropien an. Zudem auch nur die Erinnerungen bestimmter Personengruppen sich in Archiven finden. Soziale Hierarchien und Blickregime bilden sich ab in dem, was als an "gesellschaftlicher Mitte" orientiert medial gespeichert wird. Es gibt wenig Berichte zur schwulen Subkultur der 70er Jahre im WDR-Archiv, ein wenig schon - wobei der Sender immerhin von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" koproduziert hat. Bei der ersten Schwulendemo in Münster 1972 drehte er nicht. Es gibt bis in die 80er hinein noch Berichte über "Kumpels" in den Schächten. In Ex-DDR-Archiven lagern parallel auch solche über Brigaden. Solche Sujets verschwinden allmählich in den 90ern. Klar, auch, weil es nach dem Zechensterben keine "Kumpels" mehr gab. Doch auch Historien zur Arbeiterschaft sind seltener aufzufinden als die über die "Dynastien" von Großindustriellen.

Eben solche Sujets, das versunkene Wissen der Lebensformen von Arbeiter*innen, bilden die Themen in den von Edouard Louis verfassten Romanen - wie er selbst inmitten derer im Norden Frankreichs brutal gemobbt wurde. Wie sein Arbeitervater verstarb. Wie er selbst dem Proletariat entronnen ist. In dem von seltsamer Selbstverurteilung geprägten Buch "Anleitung, ein Anderer zu werden" schildert er den sozialen Aufstieg inmitten von Wissensaneignung und Bildungsprozessen, Zahn-OPs und Prostitution.

Wessen Erinnerungen gelten als relevant, und wie formen sie sich?

 Seltsame ist, dass mediale und popkulturelle Referenzen in letzterem Werk fehlen. Analog auch in Garth Greenwells "Wer zu Dir gehört", ein Roman über das Begehren eines us-amerikanischen Lehrers an einer Schule in Sofia, gerichtet auf einen Sexarbeiter, tauchen kurz gewalthaltige Filme. Er selbst, der Lehrer und Literat, guckt sie nicht, sondern der deklassierte Stricher, dessen Körper allmählich verfällt

 Das Irritierende daran ist, dass auch queere, medial gespeicherte Erinnerungen, für unsere Geschichte so zentral, in den Romanen einfach verschwinden. Es sind immerhin zwei der bekanntesten schwulen Romane.

Viele der geteilten queeren Erinnerungen bildeten sich historisch als Umcodierungen heteronormativ strukturierter Stoffe: es wurde etwas als queer gelesen, was oft gar nicht so gemeint war. Sei es "Die Outsider" von Francis Ford Coppola, Puccini-Opern und alles von der Callas, der Streisand und zuvor Zarah Leander.

  Diese Praxen nannte José Esteban Muñoz "Desidentifkation". Man identifiziert sich mit Diven, um so aufgeprägten Männlichkeitsbildern zu entrinnen. Barbra Streisand brachte in "Yentl" mit Songs und Texten wie " Where is it written what it is I'm meant to be" einen ganzen solchen Soundtrack auf die Kinoleinwand. Mit erst dem "New Queer Cinema" der späten 80er und frühen 90er, dann auch Mainstream-Filmen wie "Philadelphia" und Serien wie "Queer as Folk" wanderten auch mehr audiovisuelle Produktionen mit explizit queeren Themen in die Archive. Analog die rekonstruierbaren Timelines in der Musik, von Silvester und Devine über Bronski Beat und Marc Almond bis hin zu heute Olly Alexander, Sam Smith, RuPaul und Jüngeren, die ich gar nicht mehr kenne.

Vielleicht haben diese Referenzen heute auch nicht mehr dieselbe Gültigkeit wie in meiner eigenen Biographie, in der House Clubs und die Suche nach Umzucodierendem zentral war, auch, um überhaupt Erinnerungen außerhalb heteronormativer Systeme entwickeln und speichern zu können. Bei Beckham erinnere ich mich nicht nur daran, was für coole Freistöße er trat, sondern auch, dass er wenig Problem damit hatte, als "Gay Icon" auch von der "Attitude" sich fotografieren zu lassen. Erinnerungen beschweren ja nicht nur als Last, es gibt auch schöne.

 Es kann einen engen Zusammenhang zwischen dem, was durch Archivsamples getriggert wird, geben, und dem, was als "Lebensform" begriffen wird. So im Falle versunkener Rituale wie dem gemeinsam, im Konventionellen am liebsten als Familienevent inszeniert, vor dem Fernseher sitzenden Ansehen von Shows wie "Am laufenden Band" oder "Wetten Daß?!" am Samstagsabend. Bei den Älteren, klar. Sie tauchen dann auf in den Timelines von Rückblicken auf die 70er und 80er Jahre.

  Kontroversen entflammen im Falle von "Pipi Langstrumpf" oder "Jim Knopf", da auch die Verfilmungen und die Augsburger Puppenkiste sie als Teil des je eigenen Aufwachsens in bestimmten Lebensformen konserviert haben. Sozialisation ist immer auch das Einprägen von Erinnerungen an Audiovisuelles, das dieses Werden kontaminierte.

Hier können Erinnerungskonkurrenzen sich herausbilden zwischen manchen schwarzen Kids, die genervt waren, ständig mit der in rassistischen Stereotypen gezeichneten Figur "Jim Knopf" identifiziert zu werden und jenen, die lernten, dass man das mit Schwarzen halt so macht. Und dass ihnen niemand diese für das Einüben eigener Lebensformen konstitutive und so schöne Erinnerung rauben solle.

Lebensformen

 Heute sind mediale Praxen wie Tik Tok, Youtube oder Telegram fester Bestandteil vieler Lebensformen. Die in diesen rezipierten und erinnerten Bilder können, aktualisiert, Wahrnehmung präfigurieren. Bilder von Flüchtlingstrecks gucken sich anders an, wenn man sie als Resultat der Flucht vor Leid betrachtet oder als heimliche Invasoren, die Landnahme in Europa vorbereiteten. Die so "europäische Lebensformen", wie auch immer die jeweils bestimmt werden, exzessiver Wurstkonsum, Kleinfamilie oder möglichst viel Exotismen in Kinderbüchern, bedroht sehen. Diese gefährlichen Thesen von der Landnahme kursieren vielfach im Netz. Auch die "Homo-Ehe" dient in diesen neuen Mythen nur der Etablierung eugenischer Techniken durch Leihmutterschaft, nährt so aber auch audiovisuelle Erinnerungsbilder, die Teil der von individuellen Biographieverständnissen werden können.

Auch hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen Erinnerungen und deren aufgeprägten Deutungen und Lebensformen, stellen doch viele letzterer die Kinderaufzucht in den Mittelpunkt. Wo das Abstellen vorm Fernseher für Ruhe sorgen kann.

In Lebensformen integrierte Praxen wie das Oktoberfest, beschallt von Superhits wie "Layla", somit medial durchdrungen, bilden Einübungen in den Musikkonsum, die sich von den in queeren House-Club deutlich unterscheiden  und wiederum Soundtrack der je eigenen Erinnerung werden können.

Will man, mit Daniel Loick, somit "Politik von Lebensformen"[1] (Öffnet in neuem Fenster) denken, ist es sinnvoll, sich mit solchen medialen Praxen auseinanderzusetzen.

Eben weil der Zusammenhang zwischen medialen Praxen und Rezeptionsweisen, sich verfestigenden Erinnerungsbildern und deren Deutungen überall wirkt - auch politisch. Ja, selbst die Frage, welche Lebensform als politisch relevant eingestuft wird und in welcher Hinsicht, ist Politik.

Bestimmte Formen wie die Kleinfamilie setzt der kulturelle Mainstream häufig eher voraus. Diese, wie jüngst Geoffroy de Lagasnerie, als zu kritisierenden "Familianismus" zu begreifen und somit nicht als etwas "Natürliches", sondern Politisches, kann harsche Reaktionen nach sich ziehen. Dabei unterscheidet gerade die sich ergebende Zeitordnung, je nachdem, ob sich Lebensformen um Kinderaufzucht oder auch nicht herum gruppieren, zwischen "straight time" und "queer time". Was wiederum Lebensformen generiert.

Auch deren mediale Reflexionen: Serien wie "Sense 8" oder "Tales of the City" transzendieren Lebensformen, betreiben damit aktiv auch eine Politik der Lebensformen. "Sense 8" von den Wachowski-Schwestern erfindet dazu eine neue Menschengattung, den "Homo sensorium", der sich ineinander einfühlend und geistig miteinander verbunden Cluster über die Kontinente hinweg bildet und dafür vom aggressiven "Homo sapiens" gejagt wird, dem zu viel Empathie und Solidarität unheimlich ist. "Tales of the City", die Serien-Verfilmung von Arminstead Maupins "Stadtgeschichten", zeigt Wohn- und Lebensformen zwischen Heteros und Queers in einem Haus in San Francisco, die sich als Familienbande nicht mehr begreifen lassen und doch eine neue Lebensform einüben. Heranwachsende, die so etwas schauen, haben die Chance, andere Erinnerungen anhand der Mediennutzung zu entwickeln als noch meine Generation.

Rahel Jaeggi bestimmt Lebensformen so: sie

 "umfassen Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativem Charakter, die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert sind noch institutionell verbindlich verfasst sind."[2] (Öffnet in neuem Fenster)

 Also: keine vereinzelten Praxen, sondern von vielen sozial geteilte. Sie formen Gewohnheiten und schaffen Ordnung in Kooperationen, somit Erwartungssicherheit und auch -druck. Aufgrund ihres normativen Charakters sind sie mit guten Gründen auch kritisierbar.

Sie schaffen Problemlösungen - Kinderaufzucht, Diskriminierung entrinnen im schwulen Houseclub, Entspannungsnotwendigkeit nach harter Arbeit - und können einen moralischen Kern wie wechselseitige Achtung und die gleichen Rechte aller enthalten, sich aber davon auch unterscheiden und aus dieser Sicht problematisiert werden. Sie können dabei aber auch auch nicht einfach als Sitten und Gebräuche verstanden werden, weil sie nicht nur Tugenden und Konventionen umfassen, sondern durch ihren normativen Charakter auch harsch angegriffen werden können - so kann z.B. Fleischkonsum aus der Massentierhaltung als Teil selbstverständlichen Alltags aufgrund des Leids der Tiere und der Folgen für das Weltklima in die Kritik geraten. Manche definieren ihre um Fleischessen sich gruppierende Lebensform im Gegenzug selbst als essenziell politisch in demokratischen Öffentlichkeiten.

Was in solchen Debatten deutlich wird, ist ein ständiges Verschieben der Frage nach dem, was privat und dem, was öffentlich sei. Daniel Loick führt so auch Künstlerkolonien, Land WGs- und Kommunengründungen oder Polyamorismus im Kontext von Gay Rights-Bewegungen an im Zusammenhang der Politik von Lebensformen.

Mitverhandelt wird immer die philosophische Frage nach dem "guten Leben" : was macht uns glücklich und zufrieden? Tugendhaftigkeit oder Selbstverwirklichung, Porsche fahren oder Leben nach dem Lustprinzip? Sujet unzähliger medialer Produktionen zugleich. Deutlich wird, und das führt auch Jaeggi aus, ist, dass bestimmte Lebensformen institutionalisiert werden (wie die Ehe, Elternschaft, Arbeitsverträge) und dass sie eingebettet sind in Ökonomien. So schreibt sie an einer Stelle von "Kapitalismus als Lebensform". Dazu gehören auch Eigentums- und Produktionsverhältnisse.

Cruising Utopia

 Plädoyer dieses Textes soll sein, in Anknüpfung an Lebensstilmodelle, auch diese erwähnt Jaeggi, diese als Teil von Lebensformen stärker herauszuarbeiten und so die ästhetischen Dimensionen stärker einzubeziehen. Eben jene, die gerade in Texten der so genannten Postmoderne in den Mittelpunkt rückten. Mit Debatten rund um Lebensformen korrespondieren Ästhetiken, die in ihnen zirkulieren und in ihnen sich reproduzieren. Das zeigt sich schon in all dem, was rund um die Wahl der richtigen Kleidung für den Arbeitsplatz geschieht. Bis hin zum Hemden bügeln - und wer sie jeweils bügelt. Die ganzen kleinen und großen Unterschiede Bourdieus, die auch das Werk von Edouard Louis nachhaltig prägten, wirken als ästhetische und sind auch nicht ohne weiteres normativ zu kritisieren, allenfalls indirekt, und wirken trotzdem im engeren Sinne als Leben formend.

Diese Ästhetiken artikulieren sich auch im medialen Aufbereiten von Erinnerungen. Bestimmt Lebensformen, zumeist die der weißen, heterosexuellen Mittel- und Oberschicht, dominieren. Manchmal treten Imaginationen ländlicher Vergangenheiten, idyllisierende Fiktionen, hinzu - wie in Schnellroda beim Ziegenkäse. Sie setzen ästhetische Normen, in rechter Tik Tok-Propaganda ebenso wie in "Self Improvement"-Videos bei Youtube, in denen fitnessgestählte Männer in Maßanzügen betont sportlich ihre Luxuskarossen in Dubai lenken. Diese Ästhetiken wirken auf das ein, was als Lebensform gewollt wird, fatal in Fällen wie jenem Andrew Tates. Sie werden erinnert, wandern ggf. durch Imitation in das Sensomotorische ein und flankieren alltägliches Erleben als Folien, in denen Körper sich handelnd situieren. Wenn viele dieses teilen, ist das keineswegs Problemlösungen äußerlich - es soll ja einen Ausweg dem Leben der Deklassierten und Abgewerteten aufzeigen in all den Business-Modellen, die solche Videos zugleich propagieren.

Gerade weil Queerness immer schon politisiert wurde, zumeist gar nicht von Queers selbst, sondern von denen, die sie verbieten wollten und wollen, weil queere Politiken der Lebensformen zumindest historisch so stark an Medialem sich formten, weil eben im Alltag Isolation regierte und noch Dating Apps die Wahrnehmung potenzieller Partner*innen von erinnerten Bildern aus sozialen Medien durchdrungen und Dating-Apps zugleich selber welche sind, sind solche Komponenten queeren Kunstpraxen im besten Falle nicht äußerlich. An dem Werk von Louis irritiert mich bei aller Sympathie so manches Mal die beinahe schon Fetischisierung von Arbeiterkulturen, jener Menschen, die ihn zugleich quälten und malträtierten und doch immer nur als Kontrast zum Queeren erscheinen, dem zudem die politische Verpflichtung gilt.

Gerade in Zeiten der Massenproduktion rechter Propaganda, die zu fürchterlichen Gesetzgebungen von Russland über Quatar bis Ghana und Florida beiträgt, zum Teil sogar auf die Sexyness des Queeren reagierend, weil die Angst regiert, dass es locken könnte, kann ja die Rück-Assimilation an Lebensformen, die selbst Druck und Qual erzeugen, nicht der einzige Weg sein.

Vielleicht stattdessen für andere mediale Bilder zu sorgen, die Gegenangriffe auf allseits präsente Dominanzkulturen nähren könnten?

Autofiction hat folgt der Tendenz, leidvollen Erinnerungen zu verarbeiten, anstatt bessere Zukünfte zu imaginieren. Das ist in vielen Fällen auch richtig und immens wichtig. Aber es ist nicht alles. Das Virtuelle beinhaltet immer auch Möglichkeiten. Im erwähnten "Sense 8" zeigen sie sich. Auch im Afrofuturismus finden sich kontrafaktische Gegenerinnerungen: offensive Mythenbildung erfundene, besserer Vergangenheiten, die zugleich Alienation erklären können und doch Möglichkeiten anderer Selbstdefinitionen erkunden.

Deleuze analysiert, trotz Ausführungen über das Fabulieren als widerständige Praxis, im “Zeit-Bild” jedoch vor allem Filme des italienischen Neorealismus. Also solche, die das Alltagsleben Deklassierten in den Mittelpunkt rückten - ganz wie die Literatur von Edouard Louis. Das ist auch gut so. Aber es ist es gut, wenn man dabei stehen bleibt?

Olle Marcuse-Slogans von der Fantasie an der Macht, ganz dem Lustprinzip folgend, können on top und darüber hinaus Erinnerungen entrinnen und ganz anders als die Retropisten mögliche Zukünfte erkunden. "Cruising Utopia (Öffnet in neuem Fenster)" nennt José Esteban Muñoz das.

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[1] (Öffnet in neuem Fenster) Loick, Daniel, Zur Politik von Lebensformen, in: Westend 03/2016, S. 149 ff.

[2] (Öffnet in neuem Fenster) Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014 S. 77

Kategorie Medien

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