Zu "Cruising Utopia" von José Esteban Muñoz (und eigenen Doku-Produktionen)
"Queerness is not yet here. Queerness is an ideality". So lautet der erste Satz in "Cruising Utopia"[1] (Öffnet in neuem Fenster) von José Esteban Muñoz. Statt sich auf Leid, Unterdrückung und Ausgrenzung allein zu konzentrieren, erarbeitet Muñoz, auf Ernst Bloch, Herbert Marcuse und andere Denker*innen sich stützend, in diesem bahnbrechenden Werk eine Konzeption des Intermedialen, in dem Utopien sich formieren können. Er findet das Noch-Nicht-Seiende in Künsten, Medien und dem Performativem queerer Alternativökonomien. Praxen, die dem zustreben und in Spuren enthalten, was erst noch zu verwirklichen sei.
"Queerness is utopian, and there is something queer about the utopian. Fredric Jameson described the utopian as the oddball of the maniac. Indeed, to live inside straight time and ask for, desire, and imagine another time and place is to represent and perform a desire that is both utopian and queer." (S.26)
"Straight Time" meint: Geburt, Pubertät, Paarung, Kinderaufzucht, Enkel versorgen, Tod. Queer Time ist anders organisiert. In den originalen Worten von Judith Halberstam, von der Muñoz diese Gedanken übernimmt:
Queere Zeitlichkeit strukturiert Leben jenseits der Logik von Reproduktion und tradierter Familienformen. Oft wirkt sie auf Straights wie verlängerte Adoleszenz, spielt sich House-Clubs, Theatern, für manche beim Cruising auf Toiletten (z.B Garth Greenwells "Was zu Dir gehört" beginnt mit einer solchen Sequenz inmitten von Sofia, Didier Eribon beschreibt, wie er Möglichkeiten zu sexuellen Praxen in den Parks von Paris aufsuchte, George Michael wurde an einem solchen Ort verhaftet und drehte später ein berühmtes Video dazu - "Cruising" ist der Begriff für diese Suche nach Sex an öffentlichen Orten), für andere in Seminaren zur Queer Theory ab.
Nichts davon wäre verächtlich. Es sind Lebensformen, die außerhalb von Kitas und Großraumbüros einen umfassenden Eros entfalten, der sich im besten Fall auf Marcuses "Erotisierung des ganzen Lebens" zubewegt und keineswegs nur auf das Sexuelle reduziert wird. Verwechseln rechte Agitatoren oft noch Fragen der Geschlechtlichkeit und der Sexualität, so vermag Queerness als Erkunden von Raumzeiten jenseits der Konvention Freiheitsspielräume an-denken, testen und anarchisch aufladen. Um so zugleich mit Formen und Ästhetiken zu experimentieren, Schauplätze anders zu bespielen, sie ihrer Zwecke zu berauben und noch beim Blick in silberne Ballons Reflektionen zu ermöglichen. Darum geht es in Muñoz "Cruising Utopia".
Muñoz beginnt mit Theorien spielenden Kapiteln zur utopischen Hermeneutik eines gay Pragmatismus. Der erwähnte Fredric Jameson gehört dieser Denkschule zu; ebenso Charles Sanders Peirce, John Dewey (auf den sich auch Jeff Koons jüngst in einem Interview bezog, das ich mit ihm führte), Jahrzehnte später auch Richard Rorty. Über Pearce, Searle und Austin vermittelt wirkt der US-Pragmatismus noch auf Jürgen Habermas ein.
Kern ist eine an gelebter Erfahrung orientierte Praxisphilosophie, die Sprache und Symbolisches nicht ausklammert und eher in den Praxen selbst als in begründenden Prinzipien Denken und Handelns prozessual als Einheit begreift. Muñoz fasst als Kern eines queeren Pragmatismus eine Ökonomie des "Desires", ein Begriff, der im Original mehr besagt, als würde man es übersetzen. Sie entfaltet sich in einer utopischen Hermeneutik, die Spuren einer besseren Zukunft von Gemeinschaften im Jetzt aufspürt und dabei auch vor klassisch marxistischem Materialismus nicht zurückschreckt. Was heißt: Produktivkraftentwicklung auch in der Zeichenproduktion begreifen wie auch die Verhältnisse, die sie organisieren, keinesfalls auszuklammern. Inmitten dessen situieren sich performative Praxen, welche diese antizipierende Hoffnung artikulieren. Es ist dieses zugleich eine Form von Arbeit: "It does utopia." (S. 26).
"(...) I point to a queer feeling of hope in the face of hopeless heteronormattive maps of the present where futurity is indeed the province of normative reproduction. This hope takes on the philosophical contours of idealism." (S.28)
In konkreten, nicht abstrakten Utopien. Muñoz folgt dem utopischen Verlangen queerer Erinnerungen an öffentlichen Sex durch Künste und Literatur, zitiert dabei Debatten zwischen Bloch und Adorno, verbindet sie mit Diskussionen inmitten der AIDS-Krise und entdeckt die Geister queeren Lebens in den Fotografien von Tony Just. Er surft durch queere Ökonomien, analysiert die Performances sexueller Avantgarden und webt seine Gedanken um allerlei Objekte queerer Kunst, auch inmitten von Rotlichtvierteln und Sex-Shows. Nicht zufällig siedeln sich queere Szeneviertel oft inmitten oder am Rande von Regionen an, in denen auch Prostitution gearbeitet wurde und wird - St. Pauli, Nollendorfplatz, Times Square. Die Devianten und ihre "Milieus", von Polizisten sodann malträtiert. Verbürgerlichungstendenzen wollen dieses Erbe oft ignorieren, aber warum?
Muñoz erkundet die Gesten und Expressionen der Drag Queen Kevin Aviance, folgt radikal schwarzen Traditionen in der Lyrik von Amiri Baraka auf dem Weg zu einem queeren Futurismus. Er durchdenkt die Performances von Queer Punks, setzt die Mail-Art von Ray Johnson und Texte der Autorin von "The Lesbian Nation", Jill Johnston, zueinander in Beziehung, indem er sie als intermediales Geflecht begreift. Er setzt sich mit Warhols Adaption von Camouflage-Mustern auseinander und vergleicht sie mit den ebenfalls Natürlichkeit transformierenden Werken des Künstlers Jim Hodges. Beides konfrontiert Muñoz mit der Ausstellung von schwebenden silbernen Luftballons Warhols und verknüpft sie mit Marcuses "Eros and Civilization", das auf deutsch den deutlich akademischeren Titel "Triebstruktur und Gesellschaft" erhält" - als könne das freudianische "Triebstruktur" die Kraft des Eros je begreifen. Freud, ins Englische übersetzt, scheint eine andere Wirkung zu entfalten. Konkret widmet sich Muñoz Marcuses Auseinandersetzung mit dem Narziss-Mythos. In der Tradition der Psychoanalyse wurde Narzißmustheorie neben der Neurosenlehre oft gegen Schwule ins Feld geführt, weil diese ja nur gleichgeschlechtliche Spiegelbilder ihrer selbst begehrten. Muñoz liest die Interpretation Marcuses lustvoll gegen diesen Strich. Darauf wird zurückzukommen sein.
Dieses "cruisen" durch Theorie und Philosophie, angstfrei zwischen Adorno, silbernen Ballons und der Landschaftskunst Hodges' mäandernd, das auch noch mit Berichten über seine eigene Jugend gesättigt, ist typisch für die Methodik von Muñoz.
Sie steht quer zu formatierten akademischen Praxen, geht in das mediale Material hinein und bewegt sich wieder hinaus in Sphären der Abstraktion, wandert von Warhol zum Tanz Fred Herkos und zu den Künsten von Jack Smith - dieser Filmemacher, Fotograf und Schauspieler, der zudem als einer der Gründerväter der US-Performance Art gilt. Um in der Conclusio des Werkes zu fordern: "We need to step out of the rigid conceptualization that is a straight present." (S. 185) Den Anschluss an dieses Zitat bildet eine Interpretation der Band Magnetic Fields.
Das Werk müsste aus dreierlei Gründen längst in Deutsche übersetzt sein. 1.) Es ist einer der grundlegenden Texte us-amerikanischer Queer Theory. 2.) Es geht über rein queeres Denken dadurch hinaus, dass sich hier eine originelle Interpretation vor allem der Werke von Bloch und Marcuse findet, die auch bei Erben der Kritischen Theorie bisher geflissentlich ignoriert wird und 3.) es entfaltet am Leitfaden philosophischer Gedanken eine Lektüre intermedialer Praxen, die auch für die Medienwissenschaften als Vorbild dienen kann. Weil sie nicht Einzelmedien in Einzelwerke zerlegt, um vereinzelte Hypothesen zu belegen, sondern Schneisen in hochkomplexes Material schlägt so, dass nicht einfach nur das, was ist, reproduziert wird, sondern Räume für die Zukunft entstehen.
Mike Laufenbergs Verdienst ist es, in dem bahnbrechenden Band "Queere Theorien"[2] (Öffnet in neuem Fenster) auf das Werk Muñoz hingewiesen zu haben. "Queerness wird" von Muñoz "als eine Gefühlsstruktur theoretisiert, die uns spüren lasse, dass diese Welt unvollständig ist. (...) Mit Bloch versteht Muñoz Hoffnung nicht als naiven Utopismus, sondern als eine reflektierte, kritische Aktivität (...)." (S. 175-176)
Muñoz geht dabei explizit auf eigene Kindheitserfahrungen als Queer Person of Colour ein, die immer nur mit weißen Role Models konfrontiert werden. Queerness sei ein Noch-Nicht im Sinne Blochs und doch ein Potenzial für die Zukunft.
Das Potenzial im Gegenwärtigen der queeren Künste und Alltagserfahrungen aufzuspüren entbirgt dabei keinesfalls nur eine Zukunft für Noch-Nicht-Queers, sondern erkundet auch Freiheitsspielräume für alle gleichermaßen. "Rigid straight present" versperrt die Utopie für alle. Die Gegenwart ist ein Gefängnis. Bilden alle nur ab, was ist, ohne aus den Bruchstücken und Fragmenten der Vergangenheit ganz im Sinne der Heideggerschen Ekstase, des Über-Sich-Hinaus-Seins etwas Neues zu entwerfen, dessen Potenziale überall aufzuspüren sind, stagnieren wir in den Retropien der Neuen Rechten. Gesellschaften werden selbst fossil.
"Bloch offers us hope as hermeneutic" (Cruising Utopia, S.4).
Das oben lediglich skizzierte Cruisen durch die Künste bildet eine solche Lektüre der Gegenwart, die sich nicht auf die Suche nur nach Gefahren, sondern auch nach Chancen und Möglichkeiten begibt.
Rückblickend sehe ich viele der Dokumentarfilmreihen, an den ich teils maßgeblich mitgewirkt habe, als eine solche Praxis an.
In Reihen wie "Sex'n'Pop", "Birth of ...", "Soul Power" oder auch dem Zweiteiler "Peace'n'Pop" folgten wir in Teams solchen Hermeneutiken - ohne Muñoz kennen.
Alle wurden für ZDF/ARTE produziert. Sie erkunden am Leitfaden von Popmusik nicht nur Musikhistorie so, dass wir die übliche Erzählung "erst kam der Rock'n'Roll, dann der Dylan und Beat, dann Art Rock, dann Punk, dann Alternative" gelten ließen, um sie rockistisch aufzubereiten und noch den Blues lediglich als Vorgeschichte gelten zu lassen.
"Sex'n'Pop", eine ausgesprochen quotenstarke Doku-Reihe in Frankreich wie in Deutschland, entstand 2004. In ihr rekonstruierten wir, unterstützt durch Experteninterviews und solche mit Musikern, wie sich die im Medialen, also "Popmusik" im Sinne von Diedrich Diederichsen als medialem Bündel, zu dem auch Audiovisualisierungen, Konzerte, Clubs, Poster, Fanzines und Mainstreammedien usw. gehören, neue Codes um Umgangsformen mit dem ästhetischen Material herausbildeten, Diskurse um sie gruppierten und diese in Lebenswelten zurückwirkten.
Ich fungierte in diesem Fall sowohl als Executive Producer und Redaktionsleitung wie auch als Autor und Regisseur einer Folge.
Zu jener Zeit bildete die soeben skizzierte Erzählweise vom Rock'n'Roll bis zu Alternative den Rahmen für die Kanonbildung. Abweichendes von Boney M. bis Alcazar und Scooter fand medial durchaus statt, in Charts-Shows bei Sat1, galt jedoch selten, von Ausnahmen wie Prodigy, Tricky oder Laurent Garnier abgesehen, als credible.
Eine 2004 für das ZDF aufgezeichnete Show-Sendung mit dem Titel "50 Jahre Rock", moderiert von Thomas Gottschalk, folgte diesem rockistischen Schema. Backstage interviewte ich Eric Burdon, dessen Zusammenarbeit mit War deshalb so bahnbrechend war, weil er aus diesem Kanon ausbrach und sich zu Funk & Soul hin öffnete. James Brown, Stevie Wonder, Prince oder Michael Jackson thematisierten Dokus durchaus hier und da; letzteren aber auch, weil er unter "Pop", nicht "Black Music" eingeordnet wurde. Tina Turner reihte sich parallel ins Rock-Paradigma ein.
Muñoz verfasste ein zweites bahnbrechendes Werk, in dem er Praxen der "Desidentification"[3] (Öffnet in neuem Fenster) rekonstruiert - das Sich-Lösen schwarzer Menschen, von Latinos und als "asiatisch" oder "arabisch" Gelesenen aus Zuschreibungen und Aufprägungen durch Mehrheitsgesellschaften. Mit dem Ziel, diese Arten des Identifiziertwerdens als X, mit allerlei diskreditierenden Stereotypen gesättigt, zu transformieren und zu transzendieren.
Ein Sich-Einreihen in Mainstream und "Mitte" mündet nur in Assimilation und Selbstverleugnung - wie nicht zuletzt die Zionistin Hannah Arendt zeigte, als sie die Zerrissenheit zwischen Paria und Parvenu inmitten der Assimilation von Juden an europäische Mehrheitsgesellschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts analysierte und auf die Sicht des Paria setzte als die, die Selbstverleugnung verhindern könne.
Fälschlich deuten viele massenmediale Interpreten jene Praxen, die sich der Assimilation verweigern, als "Identitätspolitik". Mit Muñoz gedacht eine falsche Einordung - es geht vielmehr darum, sich Fremdidentifizierungen zu verweigern, um so hin zu neuen Seinsweisen utopische Räume zu erkunden, also zugewiesene Identifizierungen abzustreifen.
Im Jahr 2004 hatten sich solche Gedanken rund um Desidentifzierungen in der Popmusik, anders als heute, noch kaum etabliert. "Sex'n'Pop", das nach einer von mir gestalteten Auftaktfolge über die 50er und 60er Jahre je eine Folge zu Perspektiven von Frauen, Queers, Schwarzen, eine zu Boy- und Girlgroups wie auch eine rund um das als abseitig Geltende wie BDSM-Praxen im Umfeld von Lydia Lunch beinhaltete, bildete den Versuch, etablierte Erzählschemata kanonisierender Praxen aufzubrechen. Indem wir auch die Riot Girls, Jimmy Sumerville, Samatha Fox, Peaches, Take That und die Spice Girls einbauten und im Falle des Hip Hops die Figur des Pimp, des Zuhälters, sozioökonomisch wie auch historisch aufdröselten und so verorteten.
In allen Produktionen verwoben wir zudem das, was in der Musik sich entwickelte, auch mit Entwicklungen in anderen Medien und Künsten. So thematisierten wir in "Birth of ...", einem Vierteiler über die Frühzeit der Popmusik, auch Jazz als Birth of the Cool. Wir integrierten Norman Mailer, Burroughs, den Abstrakten Expressionismus und den Film "Fahrstuhl zum Schafott", in der Folge über die frühe Popmusik auch den Siebdruck Andy Warhols. Wir surften durch queere Geschichte, so in dem Zweiteiler "Style Clash" in der Folge "Disco vs. Punk" des heute renommierten Autoren Dirks Laabs. Punk-Fanzine-Macher entschuldigten sich in ihr dafür, einst Disco niedergeschrieben zu haben. Die eine von BPoC- und Gay Culture-angetriebene Musik mitsamt Lifestyle war, die sexualisierend und zugleich progressiv verfuhr und doch häufig auf Kommerz nur reduziert wurde. Ich fungierte bei "Style Clash" als Executive Producer. In der "Soul Power"-Folge "The Fusion Years", ich agierte in diesem Fall als Produzent und Autor, ließen wir das "Blaxploitation"-Kino auferstehen, das normalerweise hinter Wim Wenders und Martin Scorcese-Stories verschwindet, und gingen über Disco mitten hinein in die House-Music. Wir befragten Clay Cane von "For Coloured Boys", einer Organisation, die sich um schwule Schwarze kümmerte. Cane berichtete von deren Idolen. Ich thematisierte zusammen mit der Editorin Marion Pohlschmidt auch "Tears" von Frankie Knuckles als Soundtrack zu AIDS, dieser Seuche, der so viele Menschen zum Opfer fielen, ohne dass ihnen je ein kollektives Gedenken zu Teil wurde.
All das jedoch keineswegs, um nur Unterdrückung zu beklagen. Vielmehr zeigten wir lauter utopische Momente im Intermedialen auf, im Material selbst, um Aspekte möglicher Zukünfte bereit stellen.
Muñoz Bücher waren da zum Teil noch nicht erschienen. Doch bei engeren Beschäftigung mit Diskussionen und Interviewpartner*innen aus den USA zeigte sich das, was er in seinen Büchern verdichtete, dies vorbereitend, eben auch.
Viele der von uns im Rahmen von Me, Myself & Eye und später Signed Media aufbereiten Sujets wurden mittlerweile in großen BBC-Dokus und anderen Zusammenhängen weiter und teils großartig aufbereitet. Wir waren allerdings recht früh dran. Diese Ansätze als "woke" verunglimpfen zu wollen ist Geschichtsklitterung, ein Diktat von Dominanzkulturen, eine Re-Marginalisierungsstrategie derer, die es gewohnt waren, selbst als Helden der Historie sich zu begreifen. Diese Angriffe sind nichts als Gegenaufklärung, eine Attacke auf das, was wahr, gelungen und richtig ist.
Durch das Medium Fernsehen konnten wir dabei zwar im Spiel mit dem Material, nicht jedoch in der Tiefe auch philosophische Perspektiven ansteuern, wie Muñoz sie in "Crusing Utopia" durchspielt.
Seine gehaltvollen Analysen können hier nicht vollumfänglich rekonstruiert werden. Exemplarisch sei jedoch die Interpretation der silbernen Luftballons mit Hilfe von Marcuses "Eros & Civilization", wie angekündigt, dargestellt.
In dessen 8. Kapitel liest Marcuse die antiken Mythen rund um Orpheus und Narziß gegen den Strich. Beide stünden nicht nur für das fatale Zurückblicken nach Euridykes Rettung aus der Unterwelt, der Plot ist bekannt, das, grausam, Orpheus dann auch noch in die "Homosexualität" flüchten ließ oder das Scheitern an Selbstverliebtheit.
Vielmehr strebten beide Marcuse zufolge nach einem umfassenderen Eros als jenem der repressiven, fortpflanzungsorientierten Zweigeschlechtlichkeit. Sie entdecken eine neue Realität, erkunden eine neue Ordnung im Akt der großen Verweigerung. Orpheus überwindet Grausamkeit und Tod durch den homosexuellen Eros - indem seine Sprache der Gesang und seine Arbeit das Spielen ist. Narziß gibt sich der Schönheit und der Kontemplation hin. Mit ästhetischen Mitteln überwinden sie geltende Realitätsprinzipien. Tatsächlich hätten wir dieses, hätten wir es gekannt, als Motto auch "Sex'n'Pop" voranstellen können.
"The linkage of the Orphic to homosexuality and Narcissism to nonprocreative sexuality aligns both mythopoetic categories with an aesthetic protocol I would call queerness." (Muñoz, Crusing Utopia, S. 134)
Die "große Verweigerung" folge dabei weniger einer positiven Bestimmung wie "homosexuell" als einer Zurückweisung dessen, was als "normal" in Fragen der Liebe gilt. Eben dadurch entstehen utopische Räume. Das Lustprinzip überwinde so mit performativen Mitteln das repressiv wirksame Realitätsprinzip - in eben dieser Dialektik aus Lust- und Realitätsprinzip entfaltet sich die Argumentation Marcuses in "Triebstruktur und Gesellschaft". Auch das Realitätsprinzip verdichtet sich, so auch Judith Butler, in geschlechterkonformen, heteronormativen Ensembles von Auftreten, Haltung, Umgang mit eigener Körperlichkeit, Kostümen so, dass alle agieren wie Schauspieler, die vergessen haben, dass sie nur Rollen spielen. Ein Aufbrechen dessen durch Gesang und kontemplative Ästhetiken bringt die Gesellschaft in Schwung, bricht Entfremdung auf im Sinne von Queerness. Wie stark die Widerstände dagegen sich selbst performativ und sehr brutal ihren Weg bahnen, das kann derzeit bei Angriffen von Rechtsextremen auf Drag Shows betrachtet werden.
In "Crusing Utopia" stellt Muñoz einen Bezug zu den "Silver Clouds" von Andy Warhol her. 1968 als schwebende Ballons mit silbernen Oberflächen in einer Galerie präsentiert, sollten sie zugleich eine Art Wald darstellen. 6 Tänzer in tierähnlichen Kostümen, die wie von einer anderen Welt auf unserem Planeten gelandet erschienen, performten in der Ausstellung.
Muñoz weist auf den Kerngedanken der Pop Art hin, die Zeichen der Alltags-, Massen- und Konsumkultur durch Imitation umzudeuten, indem er sie in einen Kunstzusammenhang manövrierte - was ebenfalls eine performative Transformation von Realitätsprinzipien bedeutet. Sie probiert neue Möglichkeiten der Sinnlichkeit im Umgang z.B. mit Suppendosen oder Dollarscheinen.
Diese Ready-Made Ballons, die so auch auf Jahrmärkten verkauft werden könnten, als spiegelnde Flächen können im Zusammenhang mit dem Narziß-Mythos gelesen werden. Dieser unterbricht durch seine Praxis der Selbstbetrachtung das übliche Spiel der Lüste und verwandelt sich nach seinem Tod in eine Blume. Durch Negation - Marcuse schreibt vom "Nirvana Principle" - gerät diese Verweigerung selbst zur Lust. Beim Anblick von den Ballons Warhols geschieht analog folgendes:
“(...) to gaze into the pillows reflective surface is to participate in the modality of contemplation that in an interruption in the mandates to labor, toil, an sacrifice that that the performance principle prescribes. Narcissism in Warhol's cosmology would also reject a strictly Freudian condemnation." (S. 136)
Warhols gesamtes Werke spiele mit dem Narzißmus, so auch seine oft als Auftragsarbeiten gefertigten, teuren Portraits. Muñoz reiht die Ballons hier ein - Betrachter sähen sich selbst, betrachteten sie die silbernen, reflektierenden, schwebenden Dinger. Das leitet in die buchstäbliche Bedeutung von Reflektieren auch im Sinne von Selbstreflektion - über sich nachdenken im Modus der Kontemplation. Muñoz verknüpft diese Verbuchstäblichung explizit mit Kant und Marx. Der Effekt verstärke sich, betrachte man die Ballons als Kissen, auf denen man auch ruhen könne. So begebe sich, wer auch immer sich in ihnen betrachtet, zugleich in die Verweigerung des Arbeitsethos. Marcuse bewegte sich noch ganz im Paradigma der Kritik entfremdeter Arbeit.
Diese von Produktionsanforderungen entkoppelte Lust an der Reflektion adaptierte später kein Geringerer als Jeff Koons - so zum Beispiel im Falle seiner weltberühmten Balloon-Dogs. In Interviews betont er immer wieder, dass ihm wichtig sei, eine Wahrnehmungssituation zu schaffen, in Betrachter sich selbst sähen in den Objekten und auch den Raum um sich herum - eingefärbt und konkav gespiegelt. Ein Twist tritt hinzu dadurch, dass die Hunde nicht schweben und zudem jeder sieht, dass sie in einer Manufaktur hergestellt wurden, also von Arbeitenden im Falle einer Skulptur, die wirkt, also sei sie mit Luft gefüllt und deren Gewicht und Schwere doch zugleich erkennbar sind. Der Arbeitsethos kehrt so zurück und tarnt sich als Spiegel. Die große Verweigerung ist nicht wirklich geglückt. Zumindest in den Künsten.
Dennoch haben diese Spiele rund um Perfomance, Eros und Verweigerung des Reproduktiven sich in queeren Kulturen weiter entfaltet. Glitter, Pailetten und Orpheus-Gesänge treiben sie voran und schaffen so immer neue Räume, lieber sich zu spiegeln als die herrschenden Realitätsprinzipien.
Die Warhol-Exegese bildet nur ein Beispiel der vielfältigen Materialexegesen durch Muñoz. In ihnen zeigt sich ein Anwesensein des Abwesenden, der konkreten Utopie, im ästhetischen Material selbst wie auch seiner Präsentationsformen und mit ihnen verbundener performativer Praxen.
Insofern wird man "Cruising Utopia" auch nur teilweise gerecht, referiert man es als Auslegung theoretischer Texte - so jener Blochs. Es bildet stattdessen ein Pamphlet für ein Denken, das sich überhaupt erst im Ästhetischen, Performativen, Intermedialen entfalten kann - und damit auch als Vorbild für neue Formen der Wissenschaft im Dialog mit den Künsten, die ihrerseits Antworten kreieren können.
Das nennt man dann künstlerische Forschung. Ich habe in dem Fach promoviert.
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[1] (Öffnet in neuem Fenster) José Esteban Muñoz, Cruising Utopia, The Then and There of Queer Futurity, New York 2009
[2] (Öffnet in neuem Fenster) Laufenberg, Mike, Queere Theorien zur Einführung, Hamburg 2022, S. 175 ff.
[3] (Öffnet in neuem Fenster) Vgl. auch die Übersetzung der Einleitung in Laufenberg, Mike/Trott, Ben, Queer Studies, Berlin 2023, S. 195 ff. - Muñoz führt hier die Begeisterung Schwuler für Operndiven als Beispiel an, um die Desidentifikation männlichen Fühlens und Begehrens auch performativ von heteronormativen Schemata zu vollziehen und so durchaus utopische Räume des Selbstverständnisses wie auch eigener Emotionen zu modellieren.