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Zum "Mastermind" und konzeptionellen Ansätzen bei TRACKS (ARTE) in den Nullerjahren

On Camera erschien ich nur als Schattenriss. Als Figur in TRACKS. Ein Zigaretten rauchender Schatten, aus dem Off betextet. Die Figur hieß "Mastermind". Ja, eitel. Aber die beste Möglichkeit, nicht als peinliche Inszenierung meiner selbst vor der Kamera zu sitzen. Dazu hatte ich zu viele solcher scheiternden Performances Anderer schon gesehen ...

 Zu Beginn der Nullerjahre fungierte ich als Redaktionsleitung und Executive Producer der ZDF-Ausgabe von TRACKS; dem Popkulturmagazin auf ARTE. Angestellt noch bei Me, Myself & Eye steuerten wir einen Teil der binational gefertigten Sendung bei. Zusammen mit anderen deutschen Produzenten und einer französischen Firma namens Programm 33 erschufen wir programmatisch Vielfalt.

 Die Kommunikation bei der Programmplanung erwies sich als aufwendig, aber spannend, waren doch eine ZDF-Redaktion, eine weitere in Straßburg, ARD-Redaktionen wie auch französische Partner beteiligt. Doch es realisierte sich, was Teil der Vision der EU-Gründung sein sollte: kommunikative Kooperation über Landesgrenzen hinweg. Viele amüsierten sich ja über Habermas' Vorstellung "Kommunikativen Handelns". Wir erfuhren im Changieren zwischen drei Sprachen, deutsch, französisch und englisch, dass seine Konzeption es trifft. Wir koordinierten so das Programm über Landesgrenzen hinweg.

 TRACKS verband Musikberichterstattung mit jener über popkulturelle Trends. Wir bezogen andere Medien wie Film oder Comic ein. Wir präsentierten avancierte "Szenen", Tribes - "Stämme". Ein Begriff aus den Cultural Studies fand so Eingang in die Konzeption der Sendung. Zwar lösten die klassischen Tribes wie Punks, Gothics oder gar Popper allmählich auf. Doch es gab allerlei im Funsport oder auch sozialen Zusammenhängen zu entdecken, was als "Tribe" verstanden werden konnte. Das folgte der "Ligne Editorial". Die Straßburger Redaktion hatte einen klugen und doch offenen Rahmen geschaffen, in dem die Zulieferer sich orientieren konnten.

 Rege Debatten und ausufernde Meetings, was man noch besser gestalten könne, bestimmten die Arbeit. Reisen nach Paris und Straßburg gehörten dazu. Bei einer der kontroversen Diskussionen beschloss die Runde, dass nunmehr auch die Macher*innen selbst vor der Kamera in Erscheinung treten sollten.

In uns regte sich Widerstand, nun eine auf cool getrimmte Stilisierung unserer selbst zu gestalten. Zu viel in Politik, Medien und Popkultur folgte dem Regiment dieser Art stilisierter Oberflächen, die alles Deklassierte und Prekarisierte zunehmend audiovisuell wegästhetisierten. Ästhetisierung fanden wir gut, aber keine, die sich nicht gar als nicht als Ästhetisierung, sondern Selbstinszenierung zeigen würde.

 So erfanden wir Figuren: Nicole K. setzten wir als stets gestresste Super-Redakteurin in Bild, die unaufhörlich mit 3 Handys und 5 Telefonen am Rande des Nervenzusammenbruchs agierte. Solche Figuren gab und gibt es in Medien überall. Zwei weitere Redakteure operierten als "Symbionten", die alles immer nur zusammen erledigten, sich vollständig synchron bewegend. Volontär Sven S. lebte als Bedingung des Mietvertrags im Schrank der Redaktion, vollbärtig, Zähne putzend, stets auf der Suche nach neuen Abenteuern. Und ich saß als Schattenriss "Mastermind", Tyrann der Redaktion, hinter meinem Schreibtisch.

 Dieses Unterlaufen verordneter Coolness machten wir zum Programm. Zu entleert von allem Sozialen erschienen uns analoge Formate, auch wenn im Privatfernsehen allmählich der Trend begann, "Unterschichten" vorzuführen. Wir suchten Wege in TRACKS, klar ein Biotop der Vielfalt in Möglichkeiten der Programmgestaltung in den Nullerjahren, dem entgegenzuwirken. Wir berichteten über die Effekte von Hartz IV auf die Kulturszene, über die rechtlich fragwürdige "Datei Gewalttäter Sport" oder auch Musikprojekte im Jugendknast - um zugleich Adele, Amy Winehouse, Lady Gaga und Coldplay erheblich früher alle andere in der Sendung zu präsentieren.

 Den Beitrag zu Musikprojekten im Jugendknast drehte ich zusammen mit meinem damaligen Volontär Joko Winterscheidt. Uns allen in der Redaktion war klar, dass er irgendwann moderieren würde. Der hochbezahlten Personalplanerin des Unternehmens nicht. Ich musste ihn als Volontär durchsetzen.

 Joko stellte den Kontakt zu Musikprojekten in einer Jugendstrafanstalt in Herford her. Wir machten uns zusammen mit dem Zug auf den Weg. Beklemmung ergriff uns, als wir den wilhelminischen Bau sahen, mit dem Taxi vom Bahnhof vorfahrend. Unsere Papiere, Personalausweise und alles, was wir über das Equipment hinaus mit uns herumschleppten, war am Stahltor abzugeben. In einem Riesenbogen führte uns der Betreuer der Musikprojekte über das Gelände, schloss  aufwendig gesicherte Tore auf und hinter uns wieder zu. Eines nach dem anderen. Es waren viele. Viel Stacheldraht, hohe Zäune, Scheinwerfer, Überwachungstürme.

 Bis wir auf jener Station landeten für Insassen landeten, in deren Fall die Sozialpädagogen noch den Eindruck hatten, dass aus ihnen etwas werden könnte. Das berichteten sie uns in Interviews. Das Thema des Beitrages: schlicht die Möglichkeit der Resozialisierung von Straftätern in einem Beitrag aufzubereiten. Projekte also, um die Gesellschaft zu schützen. Unter die für unsere Schnittfrequenz endlosen Schwenks über die Gefängnismauern legten wir "Hurt" von Johnny Cash - ein alter Mann singt über Selbstverletzungen.

 Die Musikprojekte entwickelten ihre Sounds und Klänge in einem Raum neben der Knast-Kantine. Zum Rauchen gingen wir in einen Duschraum, ganz ohne Begleitung derer, die nichts mehr hassten, als wenn man sie anachronistisch "Schließer" nannte. Inmitten der Kacheln war das Rauchen erlaubt. Eigentlich hatte ich Joko - neben der Verpflichtung, ihn auszubilden - mitgenommen, weil ich dachte, dass er vom Alter her näher an den Insassen wäre, besser einen Draht zu ihnen fände. Die interessierten sich aber eher für die Höhe meines Gehaltes. Später erzählten uns die Strafvollzugsbeamten, dass sie eine Zeit lang ein erhebliches Problem mit Geiselnahmen gehabt hätten ... als wir später ein Wiener Schnitzel in dem Hotel aßen, in dem wir untergebracht waren, schmeckte es so gut wie selten zuvor.

 Wir liebten Pop. Wir liebten die Pet Shop Boys, Craig David, die Scissor Sisters und alles rund um DJ-Culture. Zugleich hatten wir den Eindruck, dass selbst Politik nur noch mit Pop-Stilmitteln, Schröders "Neue Mitte" hatte den Weg geebnet, arbeitete und sich von Lebenswelten zunehmend entkoppelte. So kontrastierten wir auch raue soziale Wirklichkeiten mit all dem, was Pop so wundervoll macht.

 Die frühen Nullerjahre bildeten auch die Zeit dessen, was der Musikjournalist Simon Reynolds "Retromania" nannte. Er beklagte die mangelnde Innnovationskraft des Pop, den Trend z.B. im Falle von Amy Winehouse, dass durch das exakte Adaptieren von Aufnahmetechniken der 60er Jahre durch den Produzenten Mark Ronson im Rückwärtsgang sich zu bewegen, um so Welten zu erzeugen, die weit hinter die Avantgarden zu Zeiten von Trip Hop und Drum'n'Bass zurückfielen. Auch der Erfolg der "American Recordings" des oben erwähnten Johnny Cash, der Depeche Mode, U2 und die Nine Inch Nails zur Akustikgitarre coverte ganz wie Folksongs, dadurch aber einen doppelten Retro- und Nostalgieeffekt erzeugte, kann in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. Mark Fisher, britischer Popjournalist und -theoretiker wie auch Kunsthochschullehrer, sah einen Zusammenhang zwischen der "Retromania" und neoliberalen Maßnahmen wie dem oben bereits erwähnten Hartz IV.

"Weshalb führte der Aufstieg des neoliberalen, postfordistischen Kapitalismus zu einer durch Retrospektion und Pastiche geprägten Kultur? Vielleicht lassen sich an dieser Stelle ein paar vorläufige Überlegungen formulieren. Die erste bezieht sich auf den Konsum. Könnte die vom neoliberalen Kapitalismus vorangetriebene Zerstörung von Solidarität und Sicherheit nicht im Gegenzug die Sehnsucht nach Gängigem und Vertrautem gefördert haben?"[1] (Öffnet in neuem Fenster)

 Fisher führt weiter aus, wie vor dem Thatcher-Regime ein System aus Sozialstaat und Stipendien den Großteil der ungemein wirkungsmächtigen, britischen Pop-Experimente von den 60er bis in die 80er Jahre finanziert habe. Der Kahlschlag in den "Fürsorge"-Institutionen wie auch die Attacken auf den staatlichen Sektor schränkten jene Räume, die noch suchend, tasten und erkundend erschlossen wurden, ganz buchstäblich ein. Der öffentliche Rundfunk orientierte sich zunehmend an Warenförmigkeit, die Lebenshaltungskosten stiegen vor allem durch das, was man für Übungsräume, Ateliers, auch Wohnen bezahlte. Noch Neues zu erfinden bildete ein zu hohes Risiko.

"Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren, Simon Reynolds brachte es auf den Punkt, das Alltagsleben beschleunigt, die Kultur hingegen verlangsamt."[2] (Öffnet in neuem Fenster)

Prozesse, die in der Bundesrepublik zeitverzügert erst griffen, um in den Nullerjahren sich analog zu entfakten. Der Effekt auch hier: Auf Nummer sicher setzen, auf das, was schon funktioniert hat, etablierte sich als allgemeines Medienprinzip. Eine Analogie auf dem Filmmarkt etablierte sich. Deutlich bessere Chancen bestehen, einen Film produzieren zu können, wenn es sich um eine Bestsellerverfilmung handelte. Weil man ja weiß, dass die Story gut ankommt. Auch im TV-Bereich verstärkte sich der Trend, sich die Rechte international erfolgreicher Formate zu sichern, um sie für den deutschen Markt zu adaptieren. Das reichte von "Big Brother", ein genuin niederländisches Format, bis zu "Unsere Besten" im ZDF-Hauptprogramm ursprünglich BBC. Auch inhaltlich ein durch und durch von Nostalgie geprägtes Format, bei dem bei der Wahl des größten Deutschen auf Platz 1 Konrad Adenauer und auf Platz 2 Martin Luther landeten. Platz 3 erreichte Karl Marx. Me, Myself & Eye, die Firma, in der ich angestellt war, produzierte dieses und etablierte zudem "Top of The Pops" erfolgreich im deutschen Fernsehen.

Wir hatten im Gegensatz dazu bei TRACKS zu unserer Freude noch Möglichkeiten, das aufzuspüren, was sich reiner Nostalgie entzog und auch Neues zu präsentieren. Dann, wenn wir es fanden. Es wurde immer weniger ...

 Aktuell scheint es manchmal so, als sei die Retropie total geworden. Zumindest in Deutschland. Sie ragt überall in Politiken und Ästhetiken hinein. Noch koreanische, auf Webtoons basierende Serien - Webtoons hätten wir bestimmt in TRACKS aufgegriffen - oder auch manches bei Netflix, "Sense 8" oder "Tales of City", sucht Wege heraus aus diesem Dilemma. In Deutschland weniges. Formate, in denen das Neue gedacht werden kann, haben es schwer. So dass formale Innovation sich oft da weiterentwickelt, wo Retropien auf Fake News und Verschwörungstheorien treffen, bei Tik Tik, Youtube oder in Telegramgruppen.

 Dieses Spiel mit neuen Formen den Garstigen unter Content-Kreatoren zu überlassen zeigt bereits politisch immense Wirkung.

 Nimmt man Mark Fisher ernst, so bliebe nur der Ausweg, wieder gesellschaftliche Spielräume zu entwickeln, in denen überhaupt zwangfrei experimentiert werden kann. Wir hatten solche bei TRACKS. Ich bin dafür bis heute dankbar.

 Politische Initiativen und Visionen, die den Zusammenhang zwischen letztlich auch ökonomischen Innovationen und gesellschaftlichen Freiräumen zu begreifen, scheinen mir jedoch nicht in Sicht zu sein. Der Humus, auf dem das gedeihen könnte, wirkt aktuell erstickt von zu viel Zwang zum Selbstzwang.

[1] (Öffnet in neuem Fenster) Fisher, Mark. Gespenster meines Lebens: Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft . Fuego. Kindle-Version, Pos. 233

[2] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd., Pos. 252

Kategorie Medien

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