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Die Mitte der Woche - der Bettges Newsletter Nr. 5: "After Balzer"

Das "Ende von woke" ist aller Munde. Sei es in dem von Putin, DeSantis, Söder, Höcke (der schreibt dazu sogar lächerliche Sonette und lässt sie bei Twitter zirkulieren).

Oder dem von Jens Balzer. Die Reihung ist gemein, zugegeben. Das hat sich Balzer nicht besser verdient. Er betont, bisher sich selbst als so was wie "woke" erfahren habend, nunmehr jedoch in eine Art Erweckungserlebnis gerutscht zu sein ...

 Balzers "After Woke" sich liest wie mit Hilfe von Chat GPT verfasst. Es dockt wie einst Helmut Kohl in seiner Politik an einen präfigurierter Konsens an, um so Leser*innen zu locken und final die große Lösung zu präsentieren.

Ich wollte dieses Buch eigentlich ignorieren. Jetzt erschien der Berlin Review jedoch ein lesenswerter Text von Diedrich Diedrichsen (Öffnet in neuem Fenster) zu den Kritiken an "woke" von Susan Neiman in “Links ist nicht woke” - deren grenzseriöse Fehllektüren Michel Foucaults habe ich hier bereits in 3 Teilen kommentiert (Öffnet in neuem Fenster), nicht, weil Neimans Kritik gewichtig wäre, sondern weil Lesarten Foucaults, die ihn ernst nehmen, mir aktuell wichtig erscheinen - und eben Jens Balzers Essay.

Diederichsens Text ist überschrieben mit "Don't cry woke". Wegen ihm greife ich das Thema hier doch noch einmal auf - zudem wegen Balzers arg plumper Berufung auf Jürgen Habermas. Zunächst zwei kurze “News”:

 

BEATS IN SPACE

 Bevor ich anfange zu schreiben jedoch eine Empfehlung: bei Apple Music, vielleicht auch bei Spotify, wirkt ein Kuratorenteam unter dem Label "Beats in Space". Die dort veröffentlichten DJ-Mixe lohnen sich ebenso wie die Kompilationen. Während ich schreibe, lausche ich gerade "Ibiza Nature". Das erzeugt einen guten, hypnotischen Flow, um in die Tasten zu tippen.

 

"UGLIES" BEI NETFLIX

 Auf Netflix kann gerade ein Film namens "Uglies" betrachtet werden. Der Plot: Nach der sich vollendenden Klimakatastrophe sind weite Teile der Welt verwüstet. Nur in offenkundig London hat sich eine neue Zivilisation begründet. Um Diskriminierungen aufgrund körperlicher Merkmale zu vermeiden, bekommen alle Menschen mit 16 eine Schönheits-Operation. So leben sie friedlich zusammen.

 Eine Widerstandsbewegung formiert sich, lebt im Wald, ist aus einer heilen Heterofamilie entstanden. Deren Sohn fungiert als Anführer. Er ist außerhalb der Schönheitsfarmen aufgewachsen. Besetzt wurde er mit Keith Powers, der sowieso schon dermaßen gut aussieht, dass er auch gar keine Schönheitsoperation nötig hätte. Es stellt sich heraus, dass das Beauty-Imperium die Menschen operativ verblödet, um sie zu braven Schafen zu verwandeln. Die Widerständler leben wie eine "natürliche" Öko-Kommune, bauen selbst Nahrung an.

 Die Herrscherin über die OP-Diktatur ist, Trommelwirbel, eine trans Frau. Sie bringt nun alle anderen Menschen durch schale Versprechungen dazu, sich quasi-eugenischen Experimenten und Transitionen zu unterwerfen.

So funktionieren auch rechte Verschwörungstheorien. Auch die leiten aus imaginären Vorstellungen dessen, was "Natur" sei, politische Forderungen ab.

 Glamour.de (Öffnet in neuem Fenster) hat das begriffen und kritisiert. Die Netflix-Macher*innen entweder nicht, oder sie wollten genau das erzählen.

 Das leitet jetzt zu Jens Balzer gut über.

 

BALZERS “AFTER WOKE”

"After Woke" beginnt mit einer geballter Empörung angesichts der angeblich fehlenden Empathie für die Opfer des 7. Oktober und des vermeintlich grassierendem Fantums für die Hamas. Diese Passagen lesen sich wirklich, als habe Balzer Chat GPT mit den einschlägigen Tiraden aus den politischen Feuilletons von die WELT, taz, NZZ, Jungle World usw. gefüttert und anschließend leicht redigiert. Auch Diederichsen verweist darauf, dass Balzer gerade mal 3 Quellen für die Behauptung eines "moralischen Bankrotts" der Linken, des Queerfeminismus, der Postkolonialen usw., die übliche Leier halt, anführt - einen Text aus der New Left Review, einen, so Diederichsen, "ungenau zitierten Artikel aus der n+1" sowie einen Tweet der somalisch-amerikanischen Journalistin Najma Sharif. Man kann darüber hinaus allerlei Vorgänge diskutieren und schlimm finden. Hier geht es darum, das Balzer nur wenige selbst anführt und analysiert.

 Er betreibt Cherry Picking. So entstehen auch viele Texte in renommierten Publikationen: einmal die Stichwortsuche bei Google Books oder in ähnlichen Tools angeworfen, und drumherum die Dämonisierung des Gegners betreiben.

 Auffällig bei diesem zugespitztem hook zum "moralischen Bankrott" all der "Woken" ist, dass die vielfach geteilten Texte z.B. von Seyla Benhabib, jüngst mit dem Adorno-Preis bedacht, fehlen. Ich erwähne das, ich greife vor, weil Benhabib nicht nur die meines Wissens besten und differenziertesten Texte zum 7. Oktober verfasste (Öffnet in neuem Fenster), denen mangelnde Empathie mit den Opfern des 7. Oktober ebenso wenig vorzuwerfen ist wie Hamas-Fantum.

Sondern auch, weil Benhabib als zumindest auch Habermas-Schülerin sich in Balzers Konzept gut einfügen würde, wenn es denn ernsthaft durchdacht worden wäre. Er will die "Diskursethik" von Habermas/Apel den "Woken" paternalistisch verordnen, deren Anliegen dadurch schon so gar nicht begreifend. "Diskursethik" zirkuliert auch als "herrschaftsfreier Diskurs" oder "ideale Sprechsituation" durch allerlei Medien. Sie formuliert Regeln, unter deren Berücksichtigung moralische Normen wahrheitsanalog diskutiert und begründet werden sollten. Regeln wie z.B. der gleiche Zugang zur Debatte aller Betroffenen, die gleichen Rechte aller - die komplette Liste findet sich am Ende dieses Textes.

DIE KONKRETEN ANDEREN

 Mir begegnete Benhabib als Autorin tatsächlich erstmals in Seminaren, in denen u.a. solche postkonventionell ansetzenden Moralbegründungen im Gefolge Lawrence Kohlbergs (Öffnet in neuem Fenster) diskutiert wurden. Kohlberg verfasste einst Konzeptionen der Stufen der Moralentwicklung von autoritärer Binnenmoral rund um Befehl, Gehorsam und Konvention bis hin zu abstrakten Prinzipien wie z.B. den Menschenrechten als höchster Stufe. Habermas beruft sich explizit auf ihn.

 Diesen Ansatz attackierte in den späten 80er Jahren Carol Gilligan (Öffnet in neuem Fenster) aus feministischer Perspektive - er werfe kurzerhand alles aus dem Bereich des Moralischen, was Frauen zugewiesen würde: Fürsorge, Empathie, Anderen zugewandt sein, statt sich auf Prinzipien zu berufen statt auf Mitmenschlichkeit, also gelebte Solidarität.

Benhabib griff diese Einwände auf in "Kritik, Norm, Utopie (Öffnet in neuem Fenster)", durch Adornos Vernunftkritik belehrt, und führte den "konkreten Anderen" ins diskursive Feld. Prinzipienmoral kenne nur den "verallgemeinerten Anderen"; die tatsächliche Person, das leidensfähige Gegenüber, den Anderen in seiner sozialen Situiertheit verkenne sie jedoch. So erweiterte sie die "Diskursethik" um richtige Menschen, die miteinander umgehen, füreinander sorgen, sich wechselseitig unterstützen - und die so auch zur wechselseitigen, hypothetischen Perspektivenübernahme und Einfühlung fähig seien.

 Erwähnenswert ist das deshalb, weil Balzer diese Dimension des Miteinanders und Möglichkeit von Solidarität in "After Woke" komplett entgeht. Queerness, Jüdischsein, als Palästinenser zu leben und überleben zu wollen, als Schwarzer Racial Profiling und Polizeigewalt zu erleben, das liest sich bei ihm wie theoretische Konzepte, die sich in Sub- und Musikkulturen herausbildeten -  nicht wie etwas, was mensch lebt und erlebt. Ganz konkret erfährt, als Person mit Gefühlen, Reflexen in einer oft feindseligen Umwelt, die sich anmaßt, vorzuschreiben, wie man das nun gefälligst zu leben und zu sein habe. Diktate von einer oft aggressiven Mehrheitsgesellschaft.

 DIE GLIEDERUNG VON “AFTER WOKE”

Balzers Buch gliedert sich in 5 Kapitel. Die bereits erwähnte Einleitung, Kapitel 2 widmet sich der Begriffsgeschichte von "woke" und deren, so Balzer, Umschlagen in das Böse durch Aufladung mit sich abgrenzenden Identitätskategorien und antisemitischen Tendenzen; eine binäre Weltsicht von Schwarzen und Weißen, Unterdrückern und Unterdrückten habe sich etabliert und Juden seien, was tatsächlich erschreckend oft geschieht, kurzerhand als "weiß" gelesen worden.

 Wiederum wirken die Passagen wie mit Chat GPT generiert; sie sammeln die üblichen und nie nur ganz Falschen, aber selten völlig richtigen Urteile zusammen, die gerade überall kursieren und in die Thesenführung passen, und schauen nirgends genau hin. Gerade in postkolonialen Forschungen und antirassistischen Studien sind es jedoch oft die konkreten Detailstudien - auch zu Gaza als im Kontext des Postkolonialen nicht ohne weiteres zu situieren (Öffnet in neuem Fenster) -, die, all die großen Thesen unterlaufend, andere Sichtweisen erlauben. Balzer vermeidet sie.

 Der 3. Teil widmet sich der angeblichen Etablierung der angeblichen "postkolonialen" Weltformel. Bezeichnenderweise widmet er sich dabei Texten, nicht z.B. den Black Panthers und den Reaktionen des Staates auf sie oder wenigstens Mbembes “Kritik der schwarzen Vernunft”, Spivak taucht zumindest auf; beides wäre im Rahmen einer Diskussion von "woke" ja möglich gewesen. Zudem Balzer eher Phänomene in den USA aufsucht, anstatt sich mal dem Subsahara-Raum zu widmen. Ihn interessiert weder die Lage in Gaza noch die Opposition in Israel; Quellen wie die Haaretz verwendet er nicht. Er widmet sich auch nicht der Geschichte des Antisemitismus, was bei seiner Beweisführung ja nahe läge, oder jener des Islamismus und wo die Hamas in diesem fürchterlichen Feld positioniert ist.

Würde ja alles davon wegführen, sich nun den Milieus aus der eigenen Clubszene in Berlin zu widmen und dem, was er im bei René Pfister gelesen hat (den nennt Diederichsen “SPIEGEL-Schranze, der eine analoge Referenz konstatiert).

POSTKOLONIALISMUS ALS WAHRHEITSREGIME?

Stattdessen vertieft Balzer sich in die These, beim "Postkolonialismus", wie er ihn versteht, handele es sich um ein "Wahrheitsregime" im Sinne Michel Foucaults. Er lässt anders als dieser allerdings die Machtfrage außer Acht. Hätten sie Macht, die “Postkolonialen”, wären deren Ansätze z.B. auch in BWL-Studiengängen, unter Juristen, im FAZ-Feuilleton oder bei Rüstungsunternehmen dominant.

Er folgt ein wenig der Ulf Poschardt-Masche, Menschen in Proseminaren, Stadtteilzentren oder der Flüchtlingshilfe zur fest in den Satteln der Macht sitzenden Elfenbeinturm-Elite zu verklären. Wobei der Chef von DIE WELT danach mit seinem Vorgesetzten Kaffee trinken geht. Ein Vorgesetzter, der tatsächlich über viel Macht verfügt, als postkolonial orientiert jedoch bisher nicht aufgefallen wäre.

Im 4. Teil ergötzt sich Balzer an Konzeptionen des Hybriden und feiert ein freies Spiel der Zeichen im herrschaftsfreien Diskurs, um im 5. Teil alles noch einmal zusammen zu fassen.

 ANTIESSENTIALISMUS ALS BALZERS POINTE

In einem Passus führt Balzer aus, dass die "Black Live Matters"-Bewegung in den USA zunächst ja "legitim" gestartet sei, um dann in einen "schwarzen Essentialismus" zu verfallen und sich dem Antisemitismus hinzugeben. Letzteres stimmt in Teilen, und das ist, wie auch Diederichsen aufzeigt, keineswegs neu. Es gibt von Diederichsen Texte, in denen er den Glauben an das Gute im Pop verlor, als Flavour Flav von Public Enemy ( "Don't believe the Hype"; "Fight the Power") sich dem Antisemitismus der "Nation of Islam" in den USA hingab. Das ist schlimm und nicht plötzlich passiert, weil ein "essentialistischer woke-Virus alle infizierte", sondern hat eine lange Vorgeschichte. Die kann man nicht mal eben so ausblenden kann, weil der hook dann besser funktioniert. Man kann das rekonstruieren, z.B. von Muhammed Ali ausgehend oder von Malolm X und auch kritisieren; aber das will Balzer alles gar nicht.

 Zudem er - ähnlich wie bei Neiman - dabei völlig ignoriert, dass diese als "essentialistisch" kritisierten "Black Power"-Ansätze nicht wie bei den Völkischen in Europa oder den weißen Nationalisten in den USA aus aufgeblasenen Selbstbildern entstehen, die sich erhöhen, indem sie Andere als minderwertig behaupten, sondern in der Konfrontation mit einer teils böswilligen, hochaggressiven Mehrheitsgesellschaft und Dominanzkultur. Man unterteilt Menschen auch nicht in Unterdrücker und Unterdrückte, wenn man das analysiert. Wenn man Foucault anführen will, dann kann man genau so gut konstatieren, dass die Macht in den Beziehungen wirkt, alle Teil dieses Netzes sind und muss strukturellen Rassismus trotzdem nicht leugnen.

 Auch Diederichsen zitiert in diesem Zusammenhang die berühmten Worte Hannah Arendts, dass, wer als Jude angegriffen werde, sich auch als Jude verteidigen müsse. Dieser Faktor entgeht Balzer durchgängig. Diese Einsicht jedoch bringt das hervor das, was auch "strategischer Essentialismus" genannt wird; eben ein als-ob der “Wesenhaftigkeit” im Sinne der Selbstverteidigung angesichts von dominanten Kulturen und Institutionen. Obgleich Balzer viele Quellen aus den 90ern zitiert, in denen das alles auf weit höherem Niveau diskutiert wurde, führt er diese Strategie nicht an. Oder ich habe es überlesen.


WIE MAN ETWAS AUS DEM MACHT, WAS AUS EINEM GEMACHT WURDE

Man kommt z.B. als queerer Menschen überhaupt nicht umhin, sich als queer zu verteidigen. Weil man sonst nicht mal ein richtiges Selbstbestimmungsgesetz im Falle von trans oder die "Ehe für alle" fordern könnte. Es muss ja benannt werden, was trans ist und dass es andere Formen des Zusammenlebens als die unter Heteros gibt, um überhaupt emanzipatorisch agieren zu können. Man nennt sich auch nicht schwul, weil man eine homosexuelle Essenz in sich entdeckt hätte, die nun freizulegen wäre. Sondern weil das, wie man liebt, fantasiert, praktiziert so, oft diskreditierend, genannt wird. Zunächst erfährt man in seiner situierten Leiblichkeit Begehren, das auf konkrete Menschen gerichtet ist, wird dann ggf. als schwul beschimpft, aha, so bezeichnen die das also, und sucht sich Lebenswelten, in denen man solche findet, die ähnlich empfinden. Soll heißen: diskriminierende Strukturen sind Teil des Aufwachsens und werden ggf. internalisiert.

 Das alles ignorierend ist das die zentrale Stoßrichtung von Balzers Buch: Antiessentialismus ohne wenn und aber. Statt "Identitäten zu beschwören", solle doch allen klar werden, dass es so was wie ein unveränderliches "Wesen" der Schwarzen, der Weißen, der Männer, der Frauen, der Normierten und der Queeren, der Juden und der Araber bzw. Palästinenser nicht gäbe, weil ja alles fluide sei. Was stimmt, aber in manchen Zusammenhängen wenig besagt.

In den Worten von Diederichsen:

 "Bei Jens Balzer ist es die Untreue gegen die Errungenschaft des Antiessentialismus, der sich in den 1990er-Jahren um einen «Postkolonialismus» gebildet habe, der noch in Ordnung gewesen sei und von Denker:innen wie Stuart Hall oder Édouard Glissant geprägt wurde." (Öffnet in neuem Fenster)

 Auch die frühe Judith Butler, die nunmehr, ja, sie hat Unsägliches zur Hamas und zum 7. Oktober geäußert, drumherum aber auch Bedenkenswertes, lobt Balzer für ihren Anti-Essentialismus zu Zeiten ihres wohl wirkungsmächtigsten Werkes aus den frühen 90ern, "Gender Trouble". Als sie die berühmte These formulierte, dass Gender eine gesellschaftlich vermittelte und trainierte Performance sei, nix Natürliches.

Schon bei Stuart Hall - ein Denker übrigens, der regelmäßig von Queerfeministinnen ins Feld geführt wurde, wenn im letzten Jahrzehnt Debatten rund um "Identitätspolitik" im Netz kursierten - wird die Sache komplizierter als bei Balzer. Er zitiert Halls tatsächlich maßgeblichen Text "Kulturelle Identität und Diaspora" und führt so zwei Formen von Identitätsstiftung ein - jene des "einzig wahren Selbst" und einer des ständigen Werdens. In diesem Fall sind:

 "(...) Identitäten die Namen, die wir den unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind, und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren."

Hall, Stuart in "Kulturelle Identität und Diaspora", zitiert nach: Balzer, Jens. After Woke (S.62). Matthes & Seitz Berlin Verlag. Kindle-Version

 Balzer hebt in seiner Interpretation auf die Hybridität ab die in diesem Werden unter Diaspora-Bedingungen entsteht - wenn also z.B. Menschen aus der Karibik nach Jahrzehnten der Sklaverei sich als schwarz gelesen in einer Stadt wie London wiederfinden.

 "Durch diese Vermischung der Kulturen – Hall bezeichnet sie als »Kreolisierung« – sind nicht nur vielfältige Formen des Widerstands und der Solidarität gegen die hegemoniale Gesellschaft entstanden, sondern auch unaufhörlich neue Arten der Kultur, zum Beispiel: neue Arten des Slangs und des Patois, der identitätsstiftenden, kreativen Aneignung der Sprache der Herrschenden und der hegemonialen Kultur (...).!

Balzer, Jens. After Woke (S.65). Matthes & Seitz Berlin Verlag. Kindle-Version.

 Stimmt ja alles. Diese Hybridität löst die Positionierungen aber nicht auf; sie ist ein Umgang mit ihnen. Ich kann noch so hybride mit Identitäten herumspielen und in diversen Musiken recyclen, um sie aufzulösen - ich bekommen trotzdem vor's Maul, wenn ich von Neonazis als schwul identifiziert werde. Balzer ist so fasziniert von den 90ern, dass er die Gegenwart nicht mehr begreift.

Aber auch in den 90er findet sich schon viel Bedenkenswertes. Bei Act up, den Anti-AIDS-Aktivisten, könnte er nachlesen, wie das so war mit dem "Hybriden", als Ronald Reagan AIDS schlicht ignorierte, keine Forschung unterstützte. Als ihm und anderen Republikanern das ganz recht, dass so viele Schwule sterben, darunter viele Queers of Colour. AIDS hat sich so tief in schwule Selbstverständnisse eingeschrieben, weil so viele von uns daran starben und wir eine Scheißangst hatten, nicht, weil Act Up daraufhin das "Queer Nations (Öffnet in neuem Fenster)"-Manifesto verfasste.

 Stuart Hall hat viel zu Identitäten geschrieben, hat sie zu Derridas Differenz als permanentem Aufschub in Sprachverhältnissen in Beziehung gesetzt und auch gefragt, wer Identität denn "brauche". Der gemeine Heterosexuelle oder Weiße braucht sie nicht, weil seine Lebensformen selten der Kritik von hegemonialer Seite unterliegen. Viele wählen nun Trump, weil auf einmal ihr Weißsein benannt und als Teil von Herrschaft kritisiert wurde; DeSantis initiierte, dass in öffentlichen Bibliotheken Floridas sogar die Bücher der Nobelpreisträgerin Tony Morrison gecancelt wurden. Weil Rechte ein Label wie "Critical Race Theory" erfanden, dass sie nun als Schriften der Ketzer am liebsten verbrennen wollen, was sie darunter subsummeiren. So, wie sie es mit Regenbogenflaggen auch schon tun. Dann zu rufen "Wir sind aber alle hybride!" hilft auch nicht weiter - allenfalls, um Zensur zu unterlaufen. Zudem so etwas wie die Möglichkeit von Praxen, Selbstbestimmung und Selbstverständnisse erlangen zu können, für Menschen in marginalisierten Zusammenhängen wichtiger sein kann als für jene, bei denen, als unmarkiert, eh alles als selbstverständlich gilt.

DIE UMARKIERTEN UND DIE GESELLSCHAFTLICHE REALITÄT

 Auf diesen Punkt verweist auch Diederichsen. Er liest den Text von Balzer (und auch den Neimans) als Ausdruck des Selbstverständnisses von westlichen Metropolenbewohnern und

"(...) dass diese in ihren Meinungen und Überzeugungen und deren expressiven Wechseln und Unvereinbarkeiten aufgehende Person vor allem auch etwas anderes ist: unmarkiert und privilegiert." (Öffnet in neuem Fenster)

Also z.B. Balzer und Neiman. Das Privileg als solches betrachtet Diederichsen als nicht notwendig von Übel; es könne ja auch genutzt  werden. Dennoch führen ihn seine Überlegungen zu folgender Fragestellung:

 "Das Existenzielle und Erbitterte des aktuellen Streits könnte damit zu tun haben, dass es inzwischen weniger um diese Ideen geht, mit denen man aufgewachsen ist, als um eine Diskurspolitik und strategische Verwendung von Ideologemen, die so weit gediehen ist, dass sie niemand mehr unter Kontrolle hat: Nicht nur die Eigendynamik der sozialen Medien, auch neueste Drohungen von rechts, durch grüne und christdemokratische Kulturpolitik schon teilrealisiert, die Spielräume für Ideen totzusparen und zu disziplinieren, treiben die Temperatur in Diskussionen hoch, zu denen man aus privilegierter Halbdistanz noch eine folgenlose Meinung haben konnte wie einst im Mai." (Öffnet in neuem Fenster)

 So ungefähr liest sich Balzer: er realisiert gar nicht, wann das Hybride ein ästhetisches Spiel, wann eine Überlebensnotwendigkeit ist. Weil es nicht um eine Diskussion von Theoremen geht, sondern um alltägliche Ausgrenzungserfahrungen im ganz realen Leben.

HABERMAS-MISSBRAUCH

 Als Lösung verweist Balzer seinerseits nun auf Habermas. Ganz frei von Komik ist das nicht, wurde doch genau dem genau das auch immer vorgehalten: "ja, rede Du nur idealistisch von den Bedingungen gelingender, verständigungsorientierter Kommunikation, Du Professor, und dann gehe mal in Drag nachts durch eine mittelgroße deutsche Stadt. Lieber Jürgen Habermas, Du vergisst Machtverhältnisse. Rede mal mit Höcke oder Merz über Emanzipation."

 Balzer scheint diese Diskussion gar nicht zu kennen. Er reproduziert einen Paternalismus, der in Habermas auch, aber nicht nur, steckt, ohne es zu merken.

"[Habermas] formuliert er in seinem »Begründungsprogramm« folgendermaßen: »[Nu]r die Normen [dürfen] Geltung beanspruchen […], die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden können).«22 Habermas beschreibt seine Diskursethik als »Verfahren«, bei dem es nicht darum geht, letztgültige Wahrheiten zu benennen, sondern vielmehr Regeln und Prozeduren aufzustellen, die es allen Menschen ermöglichen, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen und sich über Fragen der Moral und Politik zu verständigen; das heißt aber auch, dass alle Ergebnisse dieser Verständigung jederzeit widerrufbar sind. Als »regulatives Ideal« seiner Ethik benennt Habermas den »herrschaftsfreien Diskurs«."

 Balzer, Jens. After Woke (S.30-31). Matthes & Seitz Berlin Verlag. Kindle-Version

 Im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen; das Recht auf Teilhabe eingeschlossen. Balzer erwähnt hier auch, dass auch Habermas klar gewesen, dass Gewalt intervenieren könne.

Komischerweise berücksichtigt er nicht, wozu es führt, wenn Menschen Gewalterfahrungen tatsächlich erleiden, was für Ressourcen sie sodann mobilisieren können oder müssen.

Er sieht die Diskursethik und deren Prinzipien als den ursprünglichen Kern von "wokeness", die doch zunächst dazu gedient habe, wach gegenüber Diskriminierung  zu sein (wenn man von Polizisten erstickt wird wie George Floyd, so mutiert das hier zu einer Diskriminierungsform). Ausgegrenzte würden:

 "(...) in ihrem »Kampf um Anerkennung« so unterstützt, dass ihre Beiträge ebensolches Gewicht erhalten wie jene von anderen Menschen, die eine stärker etablierte oder privilegierte Position einnehmen."

Balzer, Jens. After Woke (S.32). Matthes & Seitz Berlin Verlag. Kindle-Version

 Da schleicht sich unfreiwillig die Perspektive ein, aus der das ganze Buch geschrieben ist. "Sie werden unterstützt" - die Anderen also. Die Exkludeirten, zu den Balzer, unmarkiert, vermutlich nicht gehört. Nicht kraft irgendwelcher "Essenzen"; es ist wohl einfach nicht seine Position in dieser Gesellschaft.

 Menschen wie er - das macht er ja auch in dem Buch teilweise - können die Unterstützung auch entziehen, wenn die Ausgegrenzten nicht spuren. Balzer kippt ins Autoritäre und merkt es nicht einmal. Er spricht aus Sicht derer, die Anderen die Teilhabe gewähren, indem sie diese ggf. gönnerhaft unterstützen.

Er kann sich an all den wundervollen queeren Musiken zusammen mit der Tochter erfreuen, ein wenig Dub Reggae als Soundtrack einspielen. Er will damit den "binären Aufteilungen" in Gesellschaften entgegenwirken und vergisst dabei, von wem die zunächst vollzogen, etabliert und abgesichert werden - von genau denen, die anschließend zu Teilhabe einladen (oder auch nicht). Nein, nicht den Individuen. Dem gesellschaftlichen Feld, dem sie zughörig sind.

 Habermas gab einem seiner Bücher einen schlimmen Titel, "Die Einbeziehung des Anderen". In diesem Titel wird deutlich, dass er als Professor und weltweit renommierter Philosoph mit immenser publizistischer Macht zu denen gehört, die einbeziehen können. Die meisten Mehrheitsgesellschaftler reagieren ziemlich allergisch, wenn sich die Situation umkehrt, z.B. Queers bestimmen, wen sie einbeziehen wollen und wen nicht (z.B. keine CDU auf dem CSD, keine knutschenden Heteropaare in schwulen Kneipen). Balzer schreibt aus einer gerade aufreizenden Perspektive des Allgemeinen, das über das Partikulare richtet.

HABERMAS: MEHR ALS NUR DIE “DISKURSETHIK”

 Diederichsen amüsiert sich über den Habermas-Bezug aus anderen Gründen;  "waffenfähig gemachter Sachlichkeit hegemonialer Öffentlichtkeitsformen in der alten Bundesrepublik" würden bei Habermas keine Rolle spielen, und er habe sie zum Zeitpunkt des Verfassens des maßgeblichen Textes zur "Diskursethik" Mitte der 80er Jahre so etwas wie Marginalisiertenperspektiven auch nicht thematisiert.

Was falsch ist. Die spielen eine Rolle; der Theoriekorpus bis hin zu "Faktizität und Geltung" reagiert auf die von Diedrichsen erwähnten Hegemonien. Zunächst auf die "Refeudalisierung" der Öffentlichkeit durch Verlage wie Springer, dann auf neokonservatives Machtstreben, damals auch "Tendenzwende" genannt, letztlich auf eine völkisch grundierte Wiedervereinigungspolitik. Habermas selbst gehörte zu jenen, die für den Terror der RAF verantwortlich gemacht wurden. Konservative hassten ihn.

 Was Habermas selbst in Vergessenheit geraten ließ, sind die Schriften aus den 60er und 70er Jahren bis hin zu der "Theorie des Kommunikativen Handelns"; durchgängig entwickelt in Kritik konservativer Ansätze wie denen von Schelsky oder Systemtheoretikern wie Luhmann. Habermas rechnet hier konstant mit administrativer Macht (Polizei, Behörden, Bebauungspläne etc.) und ökonomischen Systemimperativen, als funktionalen Regeln, die in der Wirtschaft regieren. In früheren Schriften kritisiert er auch illegitimer Verrechtlichung, attackiert strategischen Interventionen, gezieltes Lügen, Propaganda, Mittel-zum-Zweck-Kommunikation, um bestimmte Ziele zu erreichen, rechnet ab mit dem amoralischen Funktionalisieren von Menschen.

 Seine Lebenswelt-Konzeption bildet keine "heile Welt", lediglich den Hintergrund für das, was im kommunikativen Handeln auch thematisiert, Foucault würde schreiben diagnostiziert oder problematisiert, werden kann in durchaus auch kritischer Hinsicht. Er weiß aber auch, dass der Stammtisch in Bayern oder Sachsen zwar wirkt, es den "Neuen Sozialen Bewegungen" (Frauenbewegung, Öko-Bewegung etc.), um die sich die “Theorie des Kommunikativen Handelns” drehte, aber auch um "harte Währungen" ging.

 Er situiert explizit die Schwulenbewegung, den Feminismus (dessen Rolle vertieft er in "Faktizität und Geltung"), auch den Kampf um Behindertenrechte an der "Schnittstelle von System und Lebenswelt". Also an jener zwischen Wirtschaft und ihrer Machtausübung und der Exekutive, somit auch illegitimer Polizeigewalt, einerseits, und dem Alltag von Menschen. Er rechnet mit Hierarchiebildungen, die auf die Sozialisation von Menschen wirken und im kommunikativen Handeln durchaus auch mal wütend attackiert werden können, ja, auch mit Zivilem Ungehorsam.

 Die Absurdität in der Habermas-Rezeption auch bei Balzer entsteht, wenn man all das zu Nebenbedingungen erklärt, um dann direkt auf die "Diskursethik" los zu spazieren. Sage ich als überzeugter Habermasianer.

 Zudem: liest man sich deren Prinzipien, U und D, noch einmal durch, wie wären die denn aktuell auf den Krieg in Gaza anzuwenden?

Zunächst mal handelt es sich nur um Normenbegründungen, was oft ignoriert wird. Und auch Habermas weiß, dass es neben verständigungsorintiert-argumentativen Prozessen auch funktionale Ergänzungen z.B. im Recht gibt und Situationen, in denen Kommunikation nicht möglich ist.

Dennoch, was folgt aus den folgenden Prinzipien?

 

„So muß jede gültige Norm der Bedingung genügen:


– daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.

  Wenn ›U‹ gilt, d. h.:


– wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können."

 Und, wie von Balzer zitiert:

 »[Nu]r die Normen [dürfen] Geltung beanspruchen […], die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden können).«

 Seyla Benhabib hat viel dazu geschrieben, wie man diese Prinzipien auf den "Palästina-Konflikt" anwenden kann.

Jens Balzer sollte das vielleicht mal lesen.

 

 

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Kategorie Gesellschaft

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