Falscher Planet
Hallo,
ich war auf Reisen und wollte ein bisschen davon erzählen. Reisen ist nicht einfach – ich war achtzehn, als ich meine erste große Reise angetreten habe, und bis heute habe ich das Gefühl, nie wieder wirklich zurückgekommen zu sein. Das ist seither mein Maßstab für alle Reisen: Dass man nie wieder wirklich zurückkommt.
Vor ein paar Wochen waren wir zum Beispiel in Tokio, meine Partnerin und ich, in der größten Stadt der Welt. Sie ist spitzwinklig. Alles überschneidet sich aus allen Richtungen zugleich, in alle Richtungen, Beton, Eisen, Glas und Menschen. Der schreckensreichste Schnittpunkt ist der Bahnhof Shinjuku, der größte Bahnhof der Welt, gleich links hinter mir, als ich dieses Foto gemacht habe:
Wandernde, die ihr nach Tokio kommt, betretet nie den Bahnhof Shinjuku, denn ihr werdet ihm nie wieder entkommen! Ihr werdet nie den Ausgang finden, den ihr braucht, die Wegweiser, denen ihr folgt, werden plötzlich verschwinden. Die Schilder zum West Exit werden euch nach Süden führen, und noch während ihr sucht, werden rund um euch herum in rasendem Tempo Baustellen errichtet werden, die alle Wege umleiten in ein noch nirgenderes Nirgendwo.
Am 6. November begeben wir uns auf eine Wanderung vom Bahnhof Shinjuku ins Zentrum von Shibuya. Unser Startpunkt ist eine Insta-Sensation: ein gekrümmter Bildschirm, aus dem eine Katzenfigur heraus zu springen scheint, wenn man genau darunter steht. Digitales Trompe-l’œil.
Der Zeitunterschied zu New York beträgt vierzehn Stunden, zu Los Angeles siebzehn. Als wir anfangen, die Wahlergebnisse aus den USA abzufragen, sind wir nervös, aber nicht übermäßig besorgt. Immer wenn wir unsere Telefone aufwecken, verdüstert sich die Lage. Auf einer besonders trostlosen Wegstrecke fällt unser Blick in eine graue kleine Seitengasse zwischen den Hochhäusern, mit einer Bude, in der eine blauhaarige Frau Hamburger brät. Vor einer kleinen Landschaft aus Sukkulenten und putzigen Kiwi-Figuren stehen ein paar Tische und Stühle.
Ich bestelle mir einen Burger und wünsche mir, in diese Bude einziehen zu können. Ich möchte mir die Haare blau färben und die Gasse nie wieder verlassen.
Sobald wir wieder unterwegs sind, erfahren wir, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Und nicht mehr lange, dann wird uns die Nachricht erreichen, dass die Regierung meines Herkunftslandes beschlossen hat sich lieber selbst zu zerstören als weiter zu regieren.
Als wir Shibuya erreichen, ist es dunkel. Ich bin wütend und voller Furcht. Ich befinde mich plötzlich in einer Welt, die mir nicht mehr real vorkommt: Straßen, Eisenbahnstrecken und endlose Fußgängerbrücken kreuzen einander auf drei oder vier Ebenen. Die Fußgängerbrücken führen in Ladenpassagen, hinter deren Türen Roboter warten. Die Roboter lächeln mich an und fiepen. Draußen bewachen riesige Kräne Baugruben, deren Tiefe ich nicht abschätzen kann. Halbe Hochhausfassaden sind von Bildschirmen bedeckt. Das Licht der Videos darauf blendet mich, die Schärfe der Bilder verwirrt mich und kommt mir unwirklich vor.
Nichts an dieser Landschaft sieht aus wie von oder für Menschen gemacht, und was ich an Furcht mitbringe, hätte hier explosionsartig wachsen müssen. Stattdessen erfasst mich ein seltsames Hochgefühl. Ein Lichtrausch. Nach vielen Wanderungen durch asiatische Megacitys bin ich plötzlich an einem Ort, den ich mir nicht hätte vorstellen können. Ich stehe auf einem fremden Planeten.
Ich weiß nicht, wie man das zulässige Ausmaß der Furcht nach einem Ereignis wie der Wiederwahl Trumps berechnen soll. Ich weiß auch nicht, wer solche Maßstäbe setzt. Vermutlich sind es Männer, die Macht als Gewaltherrschaft verstehen und die Welt regieren. Für sie beweist Macht sich in der Ausübung von Gewalt gegen Schwächere, und nur wer Gewalt gegen Schwächere verspricht, wird in einer Demokratie gewählt.
Ich gehe deshalb davon aus, dass gar keine Furcht erlaubt ist, denn Furcht ist für diese Männer Schwäche, und wer Schwäche zeigt, wird eher zum Opfer von Gewalt. Ich weiß das, seit ich in meinem ersten Schuljahr zum ersten Mal Gewalt erlebt habe und der Rat meiner Mutter lautete: Du darfst eben keine keine Schwäche zeigen.
Die Gewalt war also als unverrückbare Wirklichkeit da, unkritisierbar, unhinterfragbar. Das Problem war ich. Ob ich zum Opfer wurde, war meine Entscheidung, und an jedem Schlag, der mich traf, war ich, das sechsjährig eingeschulte Kind, selbst schuld. Die Gewalt herrscht.
Um keine Schwäche zu zeigen, sollte ich jetzt zum Beispiel auf keinen Fall davon zu sprechen, dass ich Autist bin. Ärzte raten davon ab, so lange man in der Gesellschaft funktioniert. Wozu soll ich den Menschen einen Anlass geben, mich zu stigmatisieren, als „unnormal“ einzustufen, als behindert? Mich als Störung ihres Normalitätsbegriffs zu begreifen und auszustoßen? Während in meinem Land eine Partei, der alle anderen Parteien nacheifern, ganz offen mit Euthanasiegedanken spielt und erkennbar behinderte Menschen offener Gewalt ausgesetzt sind?
Hallo, ich heiße Robin, und ich bin Autist.
Was ich habe, heißt auch „Wrong Planet Syndrome“, das hat mir sofort eingeleuchtet. Wenn man das hat, fühlt man sich immer wie auf dem falschen Planeten. Vertrauter Boden bricht einem immer wieder weg, er wird einem plötzlich fremd, was jedes Mal weh tut. Es gibt keinen Alltag, in dem man sich sicher aufgehoben fühlt.
Ich bin strukturell heimatlos. Mein Leben ist anstrengend, aber langweilig ist es nicht.
In der ganz fremden Fremde, wenn das Flugzeug über die „Stans“ fliegt – Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan –, und man von hoch oben nur noch karge Berge und Täler sieht, mit winzigen grünen Flecken dazwischen, die kleine Siedlungen erlauben, bis man irgendwann in der spitzwinkligen größten Stadt der Welt landet, habe ich dann so fremden Boden unter den Füßen, dass mein Fremdheitsgefühl endlich erlaubt ist. Vielleicht sind Reisen in asiatische Megacitys für mich so etwas wie self harm: Ich kontrolliere den Schmerz, das macht mich euphorisch.
Neulich war Weihnachten, und ich war in der Heimat, am Ort meiner ersten Gewalterfahrungen. Meine Mutter ist jetzt 98 Jahre alt, das ist ein schwieriges Alter. Wenn man versucht, ihr zu helfen, macht sie das vor allem wütend, ohne dass ihre Wut etwas daran ändern könnte, dass sie Hilfe braucht. Sie hat sich auf einen eigenen Planeten zurückgezogen, einen Planeten der Wut, der sich mit oft schwindelerregender Geschwindigkeit um sich selbst dreht. Er hat einen Kern aus Angst; Zutritt verboten.
Ich war dann allein in der Stadt. Das Terrain ist eher rechtwinklig, auch in den Köpfen.
Ich war in einem Café, und in das Café kam ein Mann. Der Mann hatte seinen Sohn dabei, und er sprach sehr laut. Außerdem lachte er nach jedem Satz. Er kannte die Café-Besitzerin und den Besitzer, und brüllte dem Besitzer zu: „Der Urknall zum Beispiel, stell dir mal vor, dass der am 1. Januar ist, dann kommen die Dinosaurier im November, und die Menschen Silvester fünf vor zwölf, nur damit du mal ein Gefühl für die Zeit hast!“ - „Ja ja“, sagte der Cafe-Besitzer leise. Und der Mann lachte dröhnend, und etwas später brüllte er: „Die Planeten driften ja auseinander, weißt du! Alle in ihrem eigenen Winkel! Mathematik ist schon toll!“
Der Sohn hat nie etwas gesagt, und sie sind irgendwann wieder gegangen. Dann war ich auf der Straße, und zwei Frauen gingen an mir vorüber. Die eine erzählte der anderen von einem Telefongespräch: „Und ich sag zu ihr, Sylvia, ich wollte schon vor einer Stunde auflegen, und das mach ich dann jetzt.“
Da war ich schon auf dem Weg zum Bahnhof und saß bald in einem Zug voller Menschen, die alle husteten, und niemand trug eine Maske. Und dann war ich wieder in Berlin, wo dieser kleine psychogeographische Jahresrückblick endet, und das Jahr 2024 endet jetzt auch. Es war ein trauriges Jahr, fand ich, ein furchterregendes und anstrengendes Jahr, aber langweilig war es nicht.
Mein Glück in Berlin ist, dass die erste Autorin, die ich in meiner Literaturübersetzer-Laufbahn übersetzt habe, nach 18 Jahren wieder ein Buch geschrieben hat, und ich sitze jetzt an dem 971-seitigen Manuskript. Das ist ein Text, in dem ich mich nicht fremd fühle, weil jeder Satz den Komplexitätsgrad hat, den ich für ein Heimatgefühl brauche: Komplexität in der Genauigkeit der Beobachtung, in der Weigerung, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit einer Situation oder einer Figur in ihrer Beschreibung aufzulösen. Anerkennung von Komplexität, Vereinfachungsverweigerung als Werk der Liebe.
Ich muss daran denken, dass sich gerade ein offener Verfechter von Rape Culture einen Job als Moderator einer wichtigen Kultursendung im Fernsehen erkämpft hat, und zwar unter anderem mit dem Versprechen, sein Kulturbegriff sei „unterkomplex“. Man macht sich viele mächtige Freunde, wenn man mit Unterkomplexität für sich wirbt. Ich glaube trotzdem, dass das Buch, das ich gerade übersetze, ein großer Erfolg werden wird.
Danke für’s Lesen, danke für’s Bezahlabo abschließen, wenn das Geld reicht.
Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.