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Krieg, kein Ende

Frühmorgens sind in meiner Straße Mutter und Sohn unterwegs. Sie ist sehr klein, er ist ein Riese. Er ist auch schon in den mittleren Jahren, und sie sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie geht forsch, zackig und fröhlich, er schreitet auf sehr viel längeren Beinen neben ihr her. Sie gehen einmal hin und zurück, aber ich weiß nicht wohin; manchmal sammeln sie nebenbei eine Pfandflasche auf. Sie demonstrieren jeden Tag, dass sie guten Mutes sind, mit einer gewissen Härte. Den Rest des Tages über tauchen sie nicht wieder auf.

Blick auf eine Straße durch die Triebe eines Blattkaktus, Kopfsteinpflaster, ein Radfahrender, Straßenbahnschienen, ein Taxi, grelles Sonnenlicht.

An den Parkscheinautomaten hat jemand eine aus einer Küche gesägte Arbeitsfläche gelehnt, mit Spüle. Daran schlängelt sich jetzt ein Nachbar von gegenüber vorbei, in einem makellosen blauen Anzug, dreiteilig, Hemd und Krawatte, alles fest verschnürt. Er schließt sich eines der vielen Leihfahrräder auf, schwingt sich darauf und radelt mit kerzengeradem Rücken davon.

Wenn ich gefrühstückt habe, kommen die Menschen, die man nur ein Mal in der Straße sieht und die keinen anderen Grund haben, hier zu sein, als sich zu zeigen und dabei das gastronomische Angebot wahrzunehmen: Deutsche Familien in Funktionskleidung, pflichtschuldig gestresst. Gruppen von Bros mit Basecaps, Lässigkeit als Dominazverhalten. Und aus welchem Film ist die Mittzwanzigerin mit Lucille-Ball-Frisur gestiegen? Weiter blauer Blazer, wallende weiße Hose, große Sonnenbrille, eng geschnürtes Seidentuch, Nervosität am Handy, alles völlig unironisch. Julia Klöckners aufgeregte Nichte.

Diese Menschen verbringen hier Freizeit. Dass es das Paralleluniversum „Alltag“ gibt und dass es in ihre Freizeit eindringt, in Form von Menschen, die hier leben und Alltagsdinge machen müssen, empfinden sie als Störung, auf die sie oft erstaunlich aggressiv reagieren. Manchmal besteht die Störung einfach in der Tatsache, dass ich existiere. Genuss von Freizeit geht offensichtlich mit Territorialansprüchen einher. Freizeit ist Krieg. Tourismus ist Krieg.

Krieg ist auch Krieg. In den USA führen weiße Trillionäre mit südafrikanischen Wurzeln einen Rassenkrieg, aus Rache für die Entlassung Nelson Mandelas aus der Haft. In der Ukraine übt Putin Rache am „Westen“. Auf der ganzen Welt rächen sich Islamisten für die Kreuzzüge. In Neukölln wollen Demonstrierende Rache an Israel üben, für den Kolonialismus einer Zeit, in der es Israel noch nicht gab. An diesen Demonstrierenden will sich der Berliner Bürgermeister unter dem Kampfbegriff „Antisemitismus“ für die gesellschaftlichen Veränderungen rächen, die linke Bewegungen in den Sechziger- und Siebzigerjahren durchgekämpft haben. Für seinen Krieg funktionalisiert er die Polizei, während er selbst im Rahmen eines anderen Krieges funktionalisiert wird, vom Botschafter eines Kriegsverbrechers. Gleichzeitig lässt er sich stolz mit einem antisemitischen US-Trillionär mit südafrikanischen Wurzeln fotografieren.

Der Wille zum Wahn ist so stark, dass es schwer ist, ihn zu betrachten, ohne selbst vom Wahn gepackt zu werden. Im Wahn gibt es Stellen zu besetzen, man kann mit dem Wahn Karriere machen, wenn man sich zur richtigen Zeit den richtigen aussucht. Man kann sich dabei für einen guten Menschen halten, bis man vor Rechtschaffenheit fast platzt.

Wo vor meiner Wohnung nicht Straße ist, ist Balkon. Ich pflanze etwas und betreue es, indem ich ihm beim Wachsen zusehe. Es ist alles in Töpfen und Kübeln voneinander getrennt, weshalb es keine richtige Natur werden kann, aber es gibt immerhin den Ameisenbau in den Bambuswuzeln. Die Ameisen bauen Straßen zwischen den Töpfen und Kübeln und verbinden sie miteinander.

Pflanzen in Tontöpfen im Gegenlicht, grelle Sonne.

Ich achte darauf, über die Sorgearbeit des Zusehens und das Wässerns hinaus nicht übertrieben stark einzugreifen. Ich ermögliche Wachstum, aber auch Verfall. Verfaule doch!, sage ich fröhlich allem, was verfaulen will. Der Thymian, den im letzten Frühjahr die Taube plattgesessen hat, ist sehr schön verdorrt. Am Stiel eines frisch eingepflanzten Waldmeisters klebt ein Tupfer weißer Schaum; darin sitzt eine Schaumzikade und saugt Pflanzensaft.

Wenn ich am späten Nachmittag auf dem Balkon bin, sammeln sich im Baum und auf den Nachbarbalkonen die Spatzen. Sie wollen an die Vogeltränke, und ich räume dann immer bald das Feld. Ich mag sie nicht stören. Invertiertes Territorialverhalten, das Gegenteil einer Machtgeste: Sich nicht durchzusetzen bedeutet nicht, dass man verliert.

Meine Mutter lebt in einer anderen Stadt. Ich war mit ihr bei der Ohrenärztin. Sie geht ungeduldig, forsch, zackig. Sie will sich nicht helfen lassen, und manchmal schlägt sie nach mir, wenn ich es versuche. Ich musste aufpassen, dass sie nicht aus dem Taxi springt, bevor ich ihr auf den Bordstein helfen kann.

Im Juli wird sie 99. Hilfsbedürftigkeit ist für sie Scheitern. Wer Pflege braucht, hat versagt. Sie erzählt mir, wie sie beim Zahnarzt ist, am Rand der Einfamilienhaussiedlung, und nach der Behandlung auf ein Taxi wartet. Es dauert ihr zu lange, und sie macht sich zu Fuß auf den Weg, eine Strecke von ungefähr einem Kilometer. Schon nach zweihundert Metern ist es ihr zu viel, und sie weiß nicht mehr, wie sie es schaffen soll. Nach fünfhundert Metern kann sie sich an der Bushaltestelle auf der Bank etwas ausruhen. Es wird dunkel. Fünfzig Meter vor ihrer Gartenpforte stolpert sie beim Überqueren einer Seitenstraße über eine Unebenheit im Asphalt und stürzt. Sie hat Angst, dass ein Auto kommt und sie im Dunkeln nicht sieht. Sie versucht, sich irgendwo festzuklammern und auf die andere Straßenseite zu robben.

Ein Nachbar sieht sie durchs Fenster auf der Straße liegen, hilft ihr auf und begleitet sie nach Hause. Der Sturz hat keine Folgen.

Sie erzählt mir, wie sie gefeiert haben, als sie gerade einen Krieg überlebt hatte, in den Laderäumen von Frachtschiffen, die nicht auslaufen durften: Berghain im Schiffsbauch mit selbst gebranntem Schnaps und Zieharmonika. Mein Vater, ein Seemann, habe ihr besser gefallen als die anderen, weil er schüchterner gewesen sei, sagt sie – nicht so grob.

Sie hätte ihn lieber nicht geheiratet, sagt sie, aber ohne Trauschein war keine Wohnung zu bekommen. Sie hätte lieber studiert und einen Beruf ergriffen, sagt sie; aber er arbeitet sich zum Kapitän hoch, fährt zur See und erwartet, dass sie den Haushalt führt. Von einem der Schiffe, auf denen er gefahren ist, habe ich ein Foto gefunden.

Ein Küstenmotorschiff auf ruhiger See, schwarz-weiß, am Bug der Name "Egon Wesch". (Öffnet in neuem Fenster)

Nach rund fünfzehn Jahren Ehe bekommt sie zwei Kinder von ihm und zwingt ihn damit an Land. Er hasst sie und hasst seine Kinder, von denen eines ich bin. „Aus denen wird nichts“, sagt er einem Kapitänskollegen.

Scheidung ist undenkbar. Als Therapie eine Möglichkeit wird, will sie mit ihm hingehen; er weigert sich. Als ich dreizehn bin, fängt sie an, mir zu erzählen, dass sie sich von ihm trennen will. Als ich sechzehn bin, hat er den ersten Herzinfarkt, zwingt sie als ihr Pflegefall in die Frauenrolle und lässt sich von ihr versorgen. Mit siebzehn ziehe ich aus. Ich bin auf einem anderen Kontinent, als sie einen Zusammenbruch erleidet und zehn Tage in der Geschlossenen Abteilung verbringt; davon erfahre ich erst viele Jahre später.

Er will ihnen beiden rechtzeitig einen Platz in einer Altenwohnanlage sichern, an der Ostsee, erzählt sie, das Haus wird ihm zu viel. Jetzt ist sie es, die sich weigert. In den letzten Jahren hätten sie kaum noch miteinander gesprochen, sagt sie. Dann kommt der Lungenkrebs, an dem er langsam und quavoll zuhause verreckt, auf dem Sessel, auf dem sie heute sitzt, wenn wir gegeneinander Scrabble spielen. Sie gewinnt.

Sie hat ihn ausgesessen. Sie ist immer noch stolz auf diesen Sieg, in dem Haus, das sie sich erobert hat und das jetzt langsam rund um sie herum verfällt. Das ist ihre Rache für alles, was sie im Leben nicht bekommen hat, weil sie die Frauenrolle spielen musste. Sie klammert sich an das Haus und die Rache wie an den Asphalt nach ihrem Sturz in der Dunkelheit. Sie robbt weiter. So lange sie stolz ist, ist der Krieg nicht vorbei.

Patriarchat ist Krieg. Familie im Patriarchat ist Familie im Krieg. Kriege enden nie.

Ich stehe auf dem Balkon an der Vogeltränke. Plötzlich landet direkt vor mir eine der beiden Amseln, die im Hof leben und morgens manchmal die Pflanzkübel durchwühlen. Sie sieht mich an. Ich nicke leicht und versuche so etwas wie ein aufmunterndes Brummen. Jetzt springt sie in die Vogeltränke, badet und spritzt mich nass.

Dann springt sie wieder heraus. Sie sieht mich an. Ich nicke und brumme. Sie springt wieder hinein, badet, spritzt mich nass.

Drei Runden lang spielen wir dieses Spiel, dann fliegt sie in den Baum und plustert sich zum Trocknen auf.

Das Tier hat entschieden, dass ich keine Gefahr darstelle. Davon fühle ich mich geehrt. Wir leben in Frieden miteinander. So feiere ich 80 Jahre Kriegsende.

Danke fürs Lesen, danke fürs Gratisabo abschließen, oder für ein Bezahlabo, wenn das Geld reicht. Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

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