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Feminismus bedeutet, herauszufinden, was du willst

Schwarz-Weiß-Foto einer Gruppe diskutierender Frauen vor einem Bücherregal.
Diskussionen im Mailänder Frauenbuchladen in den 1970er Jahren. | Foto: Bibi Tomasi

Vor ziemlich genau dreißig Jahren, im Sommer 1995, berichtete ich als Journalistin über eine Tagung, bei der es um irgendwas mit Gleichstellung und Feminismus ging. Das Thema interessierte mich nur so halb, ich war damals dreißig Jahre jung und keine aktive Feministin. Natürlich sympathisierte ich mit der Frauenbewegung, sie vertrat schließlich hehre Ziele, denen man sich als vernünftiger Mensch kaum verschließen konnte, aber für mich war kein „Strom drauf”. Feminismus begeisterte mich nicht.

Dennoch kannte ich mich in dem Thema ganz gut aus. In den zehn Jahren, die ich damals schon als Journalistin arbeitete, war fast immer mir die Berichterstattung über frauenpolitische Themen zugefallen - einfach weil ich oft die einzige Frau in den noch stark männerlastigen Redaktionen war und mir damit das Thema quasi natürlicherweise in den Schoß fiel. Und so war ich es gewohnt, mir von feministischen Aktivistinnen Forderungen in den Block (ja, damals noch Block und Stift) diktieren zu lassen, Zahlen, Daten, Fakten, die belegten, wie benachteiligt Frauen noch sind, wie unterrepräsentiert, wie schlecht bezahlt, und was - erstens, zweitens, drittens - von der Politik unternommen werden müsste, damit sich das ändert.

Bei jener Tagung 1995 war auch eine Referentin aus Italien dabei, Chiara Zamboni von der Philosophinnengruppe Diotima (Öffnet in neuem Fenster) aus Verona. Damit sie beim Abendessen etwas Gesellschaft hätte, setzten mich die Veranstalterinnen, die wussten, dass ich Italienisch sprach, an ihren Tisch, und so kamen wir ins Gespräch. Ich hatte am Nachmittag bereits an einem Workshop mit Zamboni teilgenommen, bei dem sie mir fast ein bisschen leid tat. Es ging um Quoten, damals der letzte heiße Scheiß im deutschen Feminismus, und sie hatte versucht, zu erklären, warum sie Quotenregelungen nicht für ein geeignetes Mittel hielt, um der Stimme von Frauen mehr Gewicht zu geben. Sie hatte keine Chance, sich verständlich zu machen, was nur teils an der Sprachbarriere lag, vor allem lag es an der Unvereinbarkeit der feministischen Konzepte.

Beim Abendessen erwartete ich daher, dass sie versuchen würde, mir, der Journalistin, ihre Position noch besser zu erklären. So war ich das jedenfalls gewohnt. Aber Chiara hatte anderes im Sinn: „Und du? Was meinst du?” fragte sie mich ein ums andere Mal. Sie wollte wissen, was ich von diesem und von jenem hielt, fragte nach meinen Einschätzungen zu politischen Entwicklungen, wofür ich mich engagierte, was mir wichtig wäre. Am Ende verwickelten wir uns in ein langes Gespräch über Hegel (von dem ich damals ein großer Fan war), und Chiara empfahl mir die Lektüre von Carla Lonzis „Wir spucken auf Hegel”, einem der Gründungstexte des italienischen Differenzfeminismus.

Dieses Abendessen läutete meine Konversion zum Feminismus ein. Ich kam noch auf der Tagung selbst in Kontakt mit einigen Aktivistinnen aus den verhältnismäßig kleinen Zirkeln des deutschen Feminismus, die sich für eine Vermittlung des Denkens „der Italienerinnen” in Deutschland stark machten. Ihr Einsatz war nur mittelmäßig erfolgreich, da sich die deutschen Feministinnen der 1990er Jahre zwischen Fans von Alice Schwarzer und Fans von Judith Butler aufteilten. Schwarzer- und Butler-Fans wiederum waren sich in praktisch allem uneins außer in der festen Überzeugung, dass „Differenzfeminismus” etwas ganz Schreckliches sei.

Ich aber war elektrisiert. Ich hatte meine politische Heimat gefunden und wandelte mich von einer sympathisierenden Beobachterin der Frauenbewegung hin zu einer feministischen Aktivistin, die was wollte.

Feministin zu sein, davon bin ich seither überzeugt, bedeutet nicht, bestimmte inhaltliche Positionen zu vertreten und die Interessen eines ominösen „Wir” der Frauen zu vertreten, sondern zu verstehen, dass die eigene Erfahrung wichtig ist und das eigene Urteil zählt. Dass es darum geht, in einer Welt, die auf die Wünsche der Frauen nicht gewartet hat, dem eigenen Begehren zu folgen und dabei weibliche Autorität in der Welt zu finden und auszuüben. Statt „Gleichheit” (sei es mit den Männern oder der Frauen untereinander) ist die weibliche „Differenz” der Motor für die weibliche Freiheit, und zwar weniger die Unterschiede zwischen Frauen und Männern als vielmehr Unterschiede und Differenzen zwischen den Frauen selbst.

Heute sind wieder dreißig Jahre vergangen, und die politischen Fronten zwischen den feministischen Strömungen nicht mehr so starr wie damals. Insbesondere mit dem Konzept der Intersektionalität sind Unterschiede zwischen Frauen generell stärker in den Fokus gerückt.

Aber in politischer Hinsicht haben wir weiterhin ein Problem. Seit den 1990er Jahren hat der deutsche Feminismus als politische Bewegung viel stärker als in anderen Ländern auf den Staat gesetzt. Staatskassen oder parteinahe Stiftungen sind heute die hauptsächliche Finanzierungsquelle vieler feministischen Projekte, und die gesetzliche Verankerung geschlechterpolitischer Forderungen ist ein zentraler Fokus des Engagements. Aber Frauenrechte sind in schwierigen Zeiten immer die ersten, die wieder zurückgedreht werden. Nicht nur in den USA, auch in Europa droht derzeit vieles von dem, das auf der Ebene der Gleichstellungspolitik erkämpft wurde, wieder verloren zu gehen. Das „Ende von links“, das Bundeskanzler Friedrich Merz im Wahlkampf ausgerufen hat, meint natürlich auch und vor allem den (radikalen und queeren) Feminismus.

In einer Welt, in der Donald Trump Präsident der USA ist, die extreme Rechte in Europa immer mehr Einfluss gewinnt, die Zahl der autokratischen Regime weltweit zunimmt und sich unter Milliardären rund um den Globus eine Wildwest-Mentalität Bahn bricht, die weder Gesetz noch Moral kennt, ist „Gleichstellungspolitik” keine sinnvolle feministische Strategie mehr.

Die Frauenbewegung hat in den 100 Jahren seit der Durchsetzung des Frauenwahlrechts immer zwischen Revolution und Reform oszilliert. Sie hat gleichzeitig für die Integration der Frauen in das bestehende politische System gekämpft als auch dieses System grundsätzlich hinterfragt, in einem breiten und pluralistischen Spektrum von Akteur*innen.

Keinesfalls darf man die Gefahr klein reden, die von der um sich greifenden Entmachtung parlamentarischer Institutionen ausgeht - gerade auch für Frauen, ihre Freiheit und Würde. Aber es ist gleichzeitig gut, wenn wir uns darauf besinnen, dass „Staatsfeminismus“ nicht das einzige Pferd ist, das wir im Stall haben. Feministisches Engagement kann aus sich selbst heraus Praktiken entwickeln (und hat es schon), die der Freiheit Raum und Sichtbarkeit geben - der Freiheit der Frauen und der aller anderen Menschen, die Freiheit und Gerechtigkeit lieben und sich dafür einsetzen.

Gesetze und Institutionen, die sich geschlechtlicher und sexueller Freiheit verschrieben haben, können leicht wieder abgeschafft werden, wie Donald Trump mit seinen executive orders bewiesen hat. Was sich aber nicht einfach so abschaffen lässt, ist das erwachte Bewusstsein über die Würde und die Freiheit von Frauen, das eine unermüdliche feministische Kulturarbeit im Wissen der Gesellschaft verankert hat. Diese tiefe Überzeugung lässt sich nicht mit einem autoritären Federstrich ausradieren. Sie lässt sich nicht ausmerzen, indem man ihr staatliche Finanzierung entzieht. Sie ist das, worauf sich die Freiheit der Frauen und letztlich die Freiheit aller Menschen gründet.

Liebe Grüße,

Antje

Als Lesetipp empfehle ich euch einen Artikel zum 50. Jubiläum des Mailänder Frauenbuchladens in diesem Jahr. (Öffnet in neuem Fenster)Die „Mailänderinnen” haben vor allem mit ihrem Buch „Wie weibliche Freiheit entsteht”, das 1990 auf Deutsch herauskam, für so manche Diskussionen gesorgt. Traudel Sattler ist seit über vierzig Jahren dabei und erzählt aus der Geschichte des Buchladens. In ihren Schilderungen wird auch nochmal deutlich, was die dort entwickelte feministische Praxis auszeichnet.

Linksammlung zum italienischen Differenzfeminismus (Öffnet in neuem Fenster)

Mein Vorwort zur Neuauflage von (Öffnet in neuem Fenster)Wie weibliche Freiheit entsteht” (Öffnet in neuem Fenster) 2001

PS: Ganz unten gibts wieder Buchgeschenke!

Neu im Internet

“Es ist ein Mädchen”. (Öffnet in neuem Fenster) Mein Essay über die Frage, wie Geschlecht zugeschrieben wird/zustande kommt - geschrieben für die diesjährige taz zum Frauentag, 7.3.2025.

Ein Blick zurück nach vorn: Corona, was haben wir gelernt? (Öffnet in neuem Fenster) - diese Bilanz schrieb ich für die März-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, allerdings hinter einer Bezahlschranke (3 Euro für den Artikel, 12 Euro für die gesamte Ausgabe). Auch im Blätter-Podcast vom 28.2.2025 bin ich dazu zu hören (Öffnet in neuem Fenster).

500 Jahre Täufer: Ein Gespräch mit dem Mennoniten-Pastor Benjamin Isaak-Krauß (Öffnet in neuem Fenster) (Podcast des EFO-Magazins).

Antjelas ein Buch

Neu auf meinem Youtube-Kanal:

Tim Vollert: Mit Physik auf der Suche nach dem Sinn des Lebens (Öffnet in neuem Fenster)

Edward Bellamy: Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887 (Roman) (Öffnet in neuem Fenster)

Margarete Susman: Beiträge zu Werk und Wirkung (Öffnet in neuem Fenster). (Hg. von Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel)

Termine

Montag, 17. März 2025 | HALTERN
Theologische und politische Argumente zum Paragraf 218
Vortrag und Diskussion bei der kfd (Katholische Frauengemeinschaft Deutschland) Münster, 16-19 Uhr, Könzgenhaus, Annaberg 40.

Dienstag, 29. April 2025 | KÖLN
Wo steht die Frauenbewegung heute?
Vortrag beim Frühjahrstreffen der AKF-Köln (Öffnet in neuem Fenster) (Arbeitskreis Kölner Frauenvereinigungen), Melanchthon-Akademie, Haus der Ev. Kirche, Kartäusergasse 9, 19.30 Uhr.

Donnerstag, 1. Mai 2025 | HANNOVER
Schuld ist nur der Feminismus. Familienbilder, Sexualität und Geschlecht von rechts im digitalen Raum
Deutscher Evangelischer Kirchentag, Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen, 15-17 Uhr

Montag, 12. Mai 2024 | MAINZ
Podiumsteilnahme
Abend über Evangelische Frauenverbände, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Albert-Schweitzer -Str. 113, Mainz, 18.30 Uhr.

Buchgeschenke

Manchmal habe ich Bücher doppelt, zum Beispiel als Print und als E-Book, oder ich habe eins versehentlich zweimal gekauft (schusselig wie ich bin), oder ich habe das Buch zwar gelesen, will es aber nicht behalten, oder ich sortiere mein Bücherregal aus …

… deshalb frage ich hier im Newsletter nach, ob jemand ein Buch geschenkt haben will.

Diesmal gibts:

Dorothee Markert: Fülle und Freiheit in der Welt der Gabe”
Christina Perincioli: Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb
Ute Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert
Yasmina Banaszczuk, Nicole von Horst, Mithu M. Sanyal, Jasna Strick:
Ich bin kein Sexist, aber…” Sexismus erlebt, erklärt und wie wir ihn beenden

Bei Interesse bitte einfach per Mail mit dem Betreff Bücherverlosung Newsletter“ Adresse schreiben, first come first serve. Wer mag, kann mir anschließend die Portokosten per paypal an post@antjeschrupp.de (Öffnet in neuem Fenster) ersetzen, aber muss nicht. (Wirklich nicht).

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