Wenn ich ein Alien wäre…

Wenn der Faschismus zurückkommt, wird er nicht sagen „Ich bin der Faschismus”, er wird sagen „Ich bedauere das”.
Man kann darüber streiten, ob die Umwälzung der bisherigen politischen Ordnung, die sich grade vor unseren Augen abspielt, als Rückkehr des Faschismus beschrieben werden kann oder nicht. Aber die Frage ist eigentlich irrelevant. Denn die Antwort ist klar: Irgendwie schon, andererseits aber auch nicht.
Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen heute und den 1930er Jahren, aber es gibt natürlich auch viele Unterschiede. Der Verfassungsschutz beurteilt die AfD als in Teilen gesichert rechtsextrem, die rechte Regierung Italiens steht schon rein formal in der Tradition des dortigen Faschismus. Und in den USA weckt der schnelle Abbau demokratischer Mechanismen, die radikale „Säuberung” staatlicher Strukturen von regierungskritischen Ansichten, die Ausgrenzung nicht linientreuer Medien schon böse Erinnerungen.
Aber der Faschismus-Vergleich, den ich auch manchmal ziehe, ist keine politische Analyse, sondern eher ein Versuch der Dramatisierung: Leute, es ist wirklich ernst! Was grade passiert, ist nicht einfach business as usual, sondern hat eine epochale Bedeutung. Und die Richtung, in die dieser Wandel geht, ist keine gute.
Ich habe mich schon öfter gefragt, wie die Geschichte weitergegangen wäre, wenn Hitler sich militärisch nicht an allen Fronten gleichzeitig in Kriege verwickelt hätte. Wenn in UK kein entschlossener Churchill regiert hätte, wenn die USA nicht in den Krieg eingetreten wären. Wenn der Hitler-Stalin-Pakt länger gehalten hätte. Anders gesagt: Wenn sich der Nationalsozialismus als legitime Regierungsform etabliert hätte.
Wenn man zur Welt kommt, nachdem ein historisches Ereignis bereits stattgefunden hat, hat man das Gefühl, dass es zwangsläufig so laufen musste. Unser Geschichtsbewusstsein ist linear, wir suchen immer hinterher Gründe, die erklären, warum etwas so oder so gekommen ist. Dabei übersehen wir leicht, dass es auch anders hätte kommen können.
Es wird deshalb eine Weile dauern, bis in unser Bewusstsein eingesickert ist, was wir gerade erleben.
Wäre ich ein Alien und hätte persönlich nichts damit zu tun, würde ich das, was grade passiert, interessant finden. Ich würde interessant finden, wie leicht Institutionen und Glaubenssätze der Demokratie in sich zusammenfallen, wenn sie etwas kosten. Wie schnell gerade auch reiche und mächtige Leute vor autoritärer Macht einknicken. Wie dreist sich JD Vance hinstellen und behaupten kann, nicht China oder Russland, sondern Europa bringe die Demokratie in Gefahr - während gleichzeitig die Regierung, der er angehört, die Gewaltenteilung abschafft und Korruption (deals) zur Grundlage des Regierens macht.
Wäre ich ein Alien und hätte persönlich nichts damit zu tun, würde ich wahrscheinlich eine gewisse Bewunderung verspüren für den Instinkt, mit dem Wladimir Putin schon vor 10, 15 Jahren die Chance erkannt hat, westliche Demokratien von innen heraus zu untergraben. Dass er durchschaut hat, wie wenig Substanz in Wahrheit hinter all den Bekenntnissen zu Menschenrechten, Klimaschutz oder Anerkennung von Minderheiten steckte. Wie viele Leute eigentlich doch lieber nur ihre eigenen Interessen verfolgen wollen, anstatt politisch zu denken. Und wie viele offenbar geglaubt haben, dass uns als Europäer*innen nie irgendwas wirklich gefährlich werden kann.
Wäre ich ein Alien und hätte persönlich nichts damit zu tun, würde ich staunen darüber, wie sich die deutsche Öffentlichkeit in eine sinnlose Migrations-Hysterie treiben lässt, die sie davon abhält, sich den drängenden Problemen des Landes zuzuwenden, und die sie zu Maßnahmen verleitet, die den eigenen Interessen entgegenläuft. Und ich würde spotten über die europäischen Rechtsradikalen, die stolz wie Bolle sind darauf, von ausländischen Autokraten am Nasenring durch die Arena geführt zu werden.
Leider bin ich kein Alien.
Was wird passieren, wenn dieser Wahnsinn weitergeht? Wenn wir ihn irgendwann für normal halten? Momentan fehlt mir die Phantasie, mir das vorzustellen. Stattdessen habe ich mir noch mal den Eintrag über das Staunen (Öffnet in neuem Fenster) aus unserem “ABC des guten Lebens” durchgelesen.
Der Text erschien 2012, also zu einer Zeit, als sich das heutige Desaster noch nicht angekündigt hat. Das merkt man dem Text an. Das Fremde, Neue, Überraschende wird dort im Grundsatz sympathisch und positiv vorgestellt. Das Neue und Überraschende, mit dem wir heute konfrontiert sind, wirkt hingegen angstmachend, gefährlich und unberechenbar. Trotzdem finde ich das, was wir damals geschrieben haben, auch heute noch hilfreich.
Staunen führt zu einer Unterbrechung der täglichen Routine. Es provoziert ein Innehalten (Öffnet in neuem Fenster), damit dieses Andere, von dem die Staunende nicht viel weiß, betrachtet werden kann. Das Staunen schafft ein Dazwischen (Öffnet in neuem Fenster), sowohl als Zwischen-Raum (zwischen dem Subjekt selbst und dem „erstaunlichen“ Anderen) als auch als Zwischen-Zeit (die Zeit, die zwischen dem Davor und dem Danach der Begegnung liegt). Staunen bewirkt, dass man sich über das Anderssein der anderen wundert, sich fragt, was das Staunen ausgelöst hat, wer die andere ist, und es regt auch an, zu fragen, wer man selbst eigentlich ist.
Denn auch die Staunende muss darüber nachdenken, warum sie so überrascht ist, und was ihr so neu, unbekannt und verschieden vorkommt. Auf diese Weise wird nicht nur die vorgefasste Meinung über andere destabilisiert, sondern auch die Selbstwahrnehmung. In beiderlei Hinsicht bewahrt das Staunen vor vorschnellem Urteilen und davor, die Andere zu rasch in eine bestimmte Ordnung des bereits Bekannten einzusortieren.
Irgendwann muss man natürlich aus dem Staunen auch wieder herauskommen. Aber, zumindest für mich, ist es derzeit noch nicht so weit.
Herzlich,
Antje.
PS: Ganz unten gibts wieder Buchgeschenke!
Die Geschwindigkeit, mit der die Trump-Administration ihre Agenda 2025 abspult und dabei stapelweise irrwitzige Dinge tut verhindert, dass man die Einzelheiten dabei überhaupt wahrnimmt. Die Strategie dahinter ist lange gesprochen und war offen kommuniziert: So viel Ungeheuerliches auf einmal tu, dass es beim besten Willen unmöglich ist, alles zu kritisieren und zu verfolgen. Gleichzeitig wird Social Media grade überspült von Erfolgsmeldungen der Art, dass grade diese oder jenes (teils tatsächlich) überflüssige Regierungsprogramm gestrichen wurde, was 500.000 Dollar im Jahr spart, weil ja die neue Regierung "volle Transparenz" will. Es ist dieselbe Art von "voller Transparenz", wie sie sich in der Kommunikation längst eingeschlichen hat, dass nämlich so viel Wirbel um Nebensächlichkeiten gemacht wird, dass man gar nicht mehr dazu kommt, sich über das Wichtige zu informieren, und leider ist der deutsche Wahlkampf da auch nicht anders. Jedenfalls empfehle ich euch sehr, den täglichen Blog/Newsletter von Heather Cox Richardson zu abonnieren, um über die Entwicklungen in den USA auf dem Laufenden zu bleiben oder das später irgendwann mal in Ruhe nachlesen zu können, wenn es darum geht, die Frage zu stellen: Wie konnte es so schnell soweit kommen? https://heathercoxrichardson.substack.com/ (Öffnet in neuem Fenster)
Tradwives - die Buhfrauen des Internets. (Öffnet in neuem Fenster) In meiner aktuellen Zeitzeichen-Kolumne breche ich eine kleine Lanze für sie.
Neu auf meinem Youtube-Kanal:
Ayn Rand: Atlas Shrugged (Roman) (Öffnet in neuem Fenster)
Montag, 10. März 2025 | ANSBACH
„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“
Vortrag mit Diskussion, veranstaltet von einem Kooperationsbündnis in Ansbach, Staatliche Bibliothek/Schlossbibliothek, Reitbahn 5, 18 Uhr. (mehr) (Öffnet in neuem Fenster)
Montag, 17. März 2025 | HALTERN
Theologische und politische Argumente zum Paragraf 218
Vortrag und Diskussion bei der kfd (Katholische Frauengemeinschaft Deutschland) Münster, 16-19 Uhr, Könzgenhaus, Annaberg 40.
Manchmal habe ich Bücher doppelt, zum Beispiel als Print und als E-Book, oder ich habe eins versehentlich zweimal gekauft (schusselig wie ich bin), oder ich habe das Buch zwar gelesen, will es aber nicht behalten, oder ich sortiere mein Bücherregal aus …
… deshalb frage ich hier im Newsletter nach, ob jemand ein Buch geschenkt haben will.
Diesmal gibts:
Ronald Blaschke, Ina Praetorius, Antje Schrupp (Hg): Das Bedingungslose Grundeinkommen. Feministische und postpatriarchale Perspektiven (2016)
Annika Mecklenbrauck/Lukas Böckmann (Hg.): The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse. (2013)
Manon Garcia: Wir werden nicht unterwürfig geboren. Wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt (2021)
Ingeborg Nordmann, Antje Schrupp, Mechthild Jansen (Hg): Weibliche Spiritualität und politische Praxis (2004)
Bei Interesse bitte einfach per Mail mit dem Betreff „Bücherverlosung Newsletter“Adresse schreiben, first come first serve. Wer mag, kann mir anschließend die Portokosten per paypal an post@antjeschrupp.de (Öffnet in neuem Fenster) ersetzen, aber muss nicht. (Wirklich nicht).
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