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Lieber schmutzige Toiletten als gar keine

Rosafarbenes Steinhäuschen mit der Aufschrift "Public Toilet"
Nicht immer blitzblank, aber verlässlich vorhanden: Öffentliche Toiletten in China. Hier in Beihai.

Liebe von Stoffwechsel abhängige Mitlebewesen,

schon mein ganzes Leben lang muss ich oft aufs Klo. Deshalb ist mein persönlicher Zivilisationsindikator die Verfügbarkeit von öffentlichen Toiletten. Und nach diesem Indikator ist China das Paradies. Im Zentrum von Beijing alle 200 Meter, ansonsten (jedenfalls wo ich war) spätestens alle 500 Meter gibt es eine, es ist wundervoll. Auch Menschen wie ich können unter diesen Umständen stressfrei unterwegs sein und ihr Leben genießen, ohne permanent checken zu müssen, wo es eine Möglichkeit zum Pieseln geben könnte.

Als ich mein Entzücken auf Facebook kundtat, gab es Einwände und Fragen: Haben die Toiletten Türen und Zwischenwände? Sind sie sauber? Naja, mal so mal so. Aber mir sind, ehrlich gesagt, schmutzige Toiletten lieber als gar keine.

In den vergangenen drei Wochen habe ich in Südchina Urlaub gemacht, aus privaten Gründen und ganz ohne beruflichen oder politischen Hintergrund. Ich kenne mich mit China nicht aus, auch wenn mein erster publizierter wissenschaftlicher Text sich mit der Partisanentheorie Mao Tse-Tungs beschäftigte, aber das ist 35 Jahre her (Man kann das Buch tatsächlich antiquarisch (Öffnet in neuem Fenster) noch bekommen, wow).

Das heutige China kennt man als Systemkonkurrenten zum Politikmodell der westlichen Demokratien, wobei zurzeit allerdings nicht klar ist, ob letzteres überhaupt noch existiert, oder ob es sich in Europa und USA aufspaltet oder insgesamt autoritär und neofaschistisch wird. Man könnte auch sagen, ich kam ziemlich angefasst von den derzeitigen Desastern der westlich-abendländischen Politik in China an. Und ohne dass ich es mir vorgenommen hatte, drängten sich mir beim Wahrnehmen meiner Umgebung systemvergleichende Fragen in den Kopf, die ungefähr folgenden fatalistischen Tenor hatten: Wenn die Demokratie nach westlichem Modell demnächst flöten geht, könnte dann China eine Alternative sein?

Die Altstadt von Beihai in Südchina.

Tatsächlich ist es ja so, dass unsere Kritik am chinesischen Politikmodell bisher immer auf dem Vergleich mit dem parlamentarischen Rechtsstaat basierte - im Vergleich dazu schneidet China in Punkto Menschenrechte, Klimaschutz, Gerechtigkeit und so weiter sehr schlecht ab. Aber was, wenn es uns nicht gelingen sollte, eine autoritär-faschistisch-oligarchische Übernahme der „westlichen” Staaten aufzuhalten? Dann wäre dieses Argument ja futsch.

Dann würde sich zum Beispiel die Frage stellen, wie klug es war, den sozialen Medien unter dem Schlachtruf der Meinungsfreiheit ihren Lauf zu lassen. Oder ob nicht China richtig gelegen hat mit der Einschätzung, das Internet müsse kontrolliert und zensiert werden, damit es nicht aus dem Ruder läuft? Was nützt uns denn am Ende das Recht, die eigene Meinung frei in unsere Blogs zu schreiben, wenn der Preis, den wir dafür bezahlen, ist, dass russische Bots unsere Wahlen manipulieren und autokratische Diktatoren an die Macht bringen? Und dass sich Incels, Rechtsradikale oder Islamisten im Internet zu Gewalttaten und Terroranschlägen radikalisieren?

Wie gesagt, schmutzige Toiletten sind nicht schön, aber besser als gar keine. Und eine halbwegs mit Plan agierende autokratische Regierung, die definiert, was „wahr” ist und was nicht, ist womöglich vorzuziehen, wenn die Alternative ein Sumpf aus Social Media getriebenen Verschwörungserzählungen ist, die den Leuten die Hirne vernebeln, und wo darüber diskutiert wird, ob die Erde eine Scheibe ist, oder warum Männer von Natur aus ein Recht darauf haben, Frauen zu vergewaltigen.

Wenn ich das so aufschreibe, klingt es mir selbst arg abenteuerlich, und es ist nichts, was ich als Politikwissenschaftlerin ernsthaft vertreten wollte. Aber als Urlauberin und Privatperson drängelten sich solche Fragen durch den Kopf, als ich in China war. Zum Beispiel, wenn ich hörte, dass ab September in chinesischen Schulen der Umgang mit KI auf dem Stundenplan steht (Ich wäre nicht überrascht, wenn in Deutschland Kinder immer noch das Lied von der Glocke auswendig lernen müssen).

Androgyne Jungs: Schmuck-Werbung in einem Shopping-Center in Beijing.

Neben der Toilettensituation ist für mich die Geschlechtersituation ein relevantes Merkmal für den Grad der Zivilisiertheit einer Gesellschaft. Auch diesbezüglich wirkte China dem Augenschein nach ganz positiv auf mein touristisches Ich. Frauen sind überall zu sehen, die performativen Geschlechterunterschiede gering (viel geringer als bei uns), Frauen und Männer gehen unbefangen miteinander um und separieren sich nicht ständig voneinander. Mein Highlight war eine Gruppe von Frauen in der Fußgängerzone von Beijing, die, in lange Kleider gewandet, traditionellen chinesischen Tanz aufführten. Dabei wurden sie von einem (männlichen) Lehrer angeleitet, der sich dafür ebenfalls einfach das Frauenkostüm angezogen hat. Warum auch nicht.

Vor allem aber sind Frauen nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar. Ständig schreiende Frauen, überall. Kann eine Gesellschaft, in der Frauen viel und laut in der Öffentlichkeit herumschreien, so schlecht sein? Vor allem im Kontrast zu dem unsäglichen Taliban-Gesetz in Afghanistan, das Frauen verbietet, ihre Stimme im öffentlichen Raum zu erheben. Gleichzeitig ist bei jungen Männern in China offenbar Androgynität „in”. Ist das nicht die ideale postpatriarchale Gesellschaft? Frauen sind als Frauen präsent und erkennbar, Männer geben sich androgyn und verzichten auf herkömmliche toxische Männlichkeit? Ich fände das ideal, jedenfalls habe ich diese demonstrativen Männlichkeits-Darsteller, die in Deutschland oft das Stadtbild bevölkern, kein bisschen vermisst.

Gemeinsames Musizieren auf dem Platz.

Noch etwas fiel mir positiv auf, und zwar generell die vielfältige und gemeinschaftliche Nutzung des öffentlichen Raums. Morgens und Abends gab es auf den Straßen und Plätzen Tai Chi und Qi Gong zum Mitmachen. Auch Aerobic, Turnen, Gymnastik. Spielen, Karaoke. Toll. (Weniger gefallen hat mir die chinesische Musik, die klassische hörte sich für mich krächzend an, die moderne schmalzig, und am Strand bevorzuge ich eindeutig Samba. Soviel Kritik muss sein).

Soweit meine Eindrücke. Wie gesagt, das alles müsste unbedingt kritisch analysiert werden, nur nicht von mir, nicht hier und heute. Ich bin noch im Urlaubsmodus.

Aber bald geht’s wieder mit Elan wieder an die Arbeit, freut euch auf spannende Projekte diesen Sommer - DAZU gibt’s dann mehr Infos im nächsetn Newsletter.

Bis dahin, mit herzlichen Grüßen,

Antje

PS: Ganz unten gibts wieder Buchgeschenke!

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Hilde steht hinter mir. (Öffnet in neuem Fenster) FR7, das Wochenmagazin der Frankfurter Rundschau, hatte die schöne Idee, sieben Autor*innen um Geschichten über ihre Großmutter zu bitten. Lest hier meinen Text über Oma Hilde, von der ich einen Daumen geerbt habe (Ihr müsst runterscrollen, bis etwa in die Mitte der Seite).

Antjelas ein Buch

Franziska Schutzbach: Revolution der Verbundenheit (Öffnet in neuem Fenster). Droemer 2024.

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Warum bin ich Christ*in? Kurze Antwort: 1. Aus statistischen Gründen, 2. wegen der feministischen Theologie, 3. weil's woanders auch nicht besser ist. Lange Antwort in einem Buch, das grade im Hirzel Verlag erschienen ist (Öffnet in neuem Fenster). In sehr illustrer Gesellschaft u.a. mit Eckart von Hirschhausen, Heribert Prantl, Margot Käßmann und Wolfgang Thierse.

Termine

Dienstag, 29. April 2025 | KÖLN
Wo steht der Feminismus heute?
Vortrag beim Frühjahrstreffen der AKF-Köln (Öffnet in neuem Fenster) (Arbeitskreis Kölner Frauenvereinigungen), Melanchthon-Akademie, Haus der Ev. Kirche, Kartäusergasse 9, 19.30 Uhr. (mehr) (Öffnet in neuem Fenster)

Donnerstag, 1. Mai 2025 | HANNOVER
Schuld ist nur der Feminismus. Rechte Narrative im digitalen Raum.
Deutscher Evangelischer Kirchentag, Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen, 15-17 Uhr, Apostelkirche, Celler Straße 78 (mehr (Öffnet in neuem Fenster)).

Montag, 12. Mai 2024 | MAINZ
Input und Podiumsteilnahme
Abend über Evangelische Frauenverbände, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Albert-Schweitzer-Str. 113, Mainz, 18.30 Uhr. (mehr (Öffnet in neuem Fenster))

Dienstag, 27. Mai 2025 | GRIESHEIM
Antifeminismus als Gefährdung der Demokratie
Veranstaltung der AsF Griesheim, 19 Uhr (Ort steht noch nicht fest)

Samstag, 7. Juni 2025 | HOFGEISMAR
„Politik der Frauen“ in chaotischen Zeiten
Workshop beim Frauentag der EKKW (Ev. Kirche in Kurhessen Waldeck), 10-17 Uhr, Ev. Akademie Hofgeismar. (mehr) (Öffnet in neuem Fenster)

Sonntag, 8. Juni 2025 | MAINZ
Zurück zu alten Rollen? Der reaktionäre Wertewandel und seine Auswirkungen auf unsere Demokratie
Input und Podiumsteilnahme beim Open Ohr Festival, 11.30-13 Uhr, Zitadelle

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Manchmal habe ich Bücher doppelt, zum Beispiel als Print und als E-Book, oder ich habe eins versehentlich zweimal gekauft (schusselig wie ich bin), oder ich habe das Buch zwar gelesen, will es aber nicht behalten, oder ich sortiere mein Bücherregal aus …

… deshalb frage ich hier im Newsletter nach, ob jemand ein Buch geschenkt haben will.

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  • Eva Illouz, Dana Kaplan: Was ist sexuelles Kapital? (2021)

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Bei Interesse bitte einfach per Mail mit dem Betreff Bücherverlosung Newsletter“ Adresse schreiben, first come first serve. Wer mag, kann mir anschließend die Portokosten per paypal an post@antjeschrupp.de (Öffnet in neuem Fenster) ersetzen, aber muss nicht. (Wirklich nicht).

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