Die Lage ist ernst, aber keine Panik!
Über Mythos, Widersprüche und selbsterfüllende Prophezeiung des sog. Panikrisikos
Selbsthilfe und Selbstschutz (Abre numa nova janela) können von der Bevölkerung nur erwartet werden (Abre numa nova janela), wenn diese v.a. durch Information in die Lage versetzt wurde bzw. wird, sich selbst zu helfen und zu schützen. Doch nicht selten wird seitens zuständiger Behörden befürchtet, man könnte mit einer Gefahreninformation eine (Massen-)Panik auslösen. Aus dieser Befürchtung heraus wird dann die Information und Kommunikation beschränkt auf das, was subjektiv für nicht-Panik-auslösend gehalten wird. Wobei übersehen wird, dass mit dem zurechtgestutzten Ergebnis eine Kette von unheilvollen Ereignissen (Abre numa nova janela) losgetreten werden kann.
Der Mythos des Panikrisikos
Die Risiko- und Katastrophenforschung stützen die Annahme eines generellen Risikos einer (Massen-)Panik nicht und sprechen deshalb von einem “Panikmythos” (siehe z.B. Gantt/Gantt, 2012 (Abre numa nova janela); Stiftung Risiko-Dialog St. Gallen, 2014 (Abre numa nova janela); Schulze et al., 2015 (Abre numa nova janela), sowie Siedschlag/Stangl, 2020). Eine gute Zusammenfassung bietet die Stiftung Risiko-Dialog St. Gallen:
“Medien vermitteln oft das Bild, dass Katastrophen mit sozialem Zusammenbruch, Chaos, Plünderung, Panik und Gewalt einhergehen. Dieses Bild entspricht gemäss wissenschaftlichen Studien oftmals nicht der Realität. Katastrophenforscher sind sich einig, dass hier Mythen und Stereotypen entstanden sind, die immer wieder gesellschaftlich und medial reproduziert werden (Heide, 2004; Geenen, 2010; McEntire, 2007; Quarantelli, 2001, 1999). Das soll nicht heissen, dass dysfunktionales und antisoziales Verhalten in Katastrophen nicht vorkommen kann (Heide, 2004). Insbesondere bei einer direkten Gefährdung von Leib und Leben können irrationale Handlungen verstärkt auftreten. Es kann durchaus zu einzelnen panik- artigen Reaktionen kommen. Gesamtgesellschaftlich – so zeigt die Empirie – kann aber davon ausgegangen werden, dass Katastrophen ein Spiegelbild der normalen ‘Alltagssituation’ darstellen.” (Stiftung Risiko-Dialog St. Gallen, 2014 (Abre numa nova janela), S. 12)
So hat man anhand von Fallstudien festgestellt, dass von einer Katastrophe Betroffene sich vielmehr alltagsgemäß verhalten, also in eine gewohnte Rolle wie z.B. die berufliche oder familiäre Rolle schlüpfen (vgl. Siedschlag/Stangl, 2020, 86, 89). Und sich vielleicht auch deshalb an den Ort des Geschehens begeben, um sich nützlich zu machen oder zu fühlen (vgl. Siedschlag/Stangl, 2020, 89).
An diese Erkenntnisse der Wissenschaft und Forschung müssen die behördliche sowie mediale Information und Kommunikation angepasst sein. Leider sind sie das oft nicht.
Widersprüche und selbsterfüllende Prophezeiung
Mythos-basierte, verkürzte (Warn-)Informationen begünstigen wegen der offen gelassenen Fragen Dynamiken und Widersprüche, die für die Gefahrenabwehr kontraproduktiv sind. So können sich z.B. verschiedene Diskussionen herausbilden, um die Informationslücken mit “Expertenwissen” zu füllen. “Verschwörungstheorien” und Desinformation finden hier fruchtbaren Boden. Es kann eine widersprüchliche, gar zersetzende (Des-)Informationslage entstehen, mit der unter Umständen das Ziel der ursprünglichen Warnmeldung nicht mehr erreicht werden kann. Behördliche Informationen und Behörden sowie Hilfsorganisationen selbst können in der Folge an Vertrauen verlieren. Ihre Korrekturen, Beruhigungsversuche nicht mehr angenommen werden. Die Ungläubigkeit gegenüber amtlichen Informationen und Warnsignalen, nicht jedoch die (Massen-)Panik, stellt daher das größte Problem des Krisen- und Katastrophenmanagements dar (Siedschlag/Stangl, 2020, S. 181).
Mit Panikverhalten sei allerdings zu rechnen, wenn folgende Bedingungen vorliegen:
Menschen nehmen eine unmittelbare, ernste Gefahr für sich wahr.
Diese Menschen sind der Meinung, dass es nur einen einzigen Fluchtweg gibt, auf dem sie dieser Gefahr entkommen können und dass dieser Fluchtweg blockiert zu werden droht.
Sie erhalten widersprüchliche Informationen.
(Siedschlag/Stangl, 2020, S. 181, unter Verweis auf Drabek, 2010)
Unter Umständen kann also die vermeintlich Panik-vermeidende Information doch zu einer Panik führen. So steckt im exemplarischen Titelsatz “Die Lage ist ernst, aber keine Panik!” ein Widerspruch: Die ernste Lage solle nicht (allzu) ernst genommen werden. Damit wird eine der Gefahr angemessene Reaktion erschwert, ggf. unmöglich gemacht.
Bessere, wissenschaftlich fundierte Information und Kommunikation
Der Wissenschaft und Forschung zufolge sollen Risiken breit und detailliert - vor allem verständlich - kommuniziert werden (Siedschlag/Stangl, 2020, 85). Der Bevölkerung sollen bereits in der Warnungsphase relevante Informationen geliefert werden, anhand derer die potenziell Betroffenen die Bedeutung des Warninhalts interpretieren und in ihren individuellen Lebenskontext einordnen können (Siedschlag/Stangl, 2020, S. 85, 181 f.).
So wie jeder Mensch über eine individuelle Gefahrenwahrnehmung (Abre numa nova janela) verfügt, verfügt jeder Mensch auch über eine individuelle Wissens- und Erfahrungsbasis (Abre numa nova janela) sowie individuelle Fähigkeiten (z.B. sinnliche Wahrnehmung, Sprachverständnis, Beweglichkeit). Wirtschaftsunternehmen und Personenmehrheiten, z.B. Arbeitgebende, Verbände und Familien, sind zudem von Interessen und Abhängigkeiten geprägt, die wiederum Einfluss auf die ihnen angehörenden Individuen haben können. Diese Faktoren beeinflussen die Aufnahme und Umsetzung von (Warn-)Informationen. Eine menschenzentrierte Information und Warnung kann sich daher nicht auf eine verkürzte und in Verhaltensvorgaben erschöpfende Ansprache beschränken.
Selbsthilfe und Selbstschutz dienen keinem Selbstzweck
Wenn die Bevölkerung wichtige Akteurin des Bevölkerungsschutzes (Abre numa nova janela) sein soll, muss sie auch als solche angesehen, behandelt und einbezogen werden. Eine davon losgelöste Anspruchshaltung, dass sie - metaphorisch gesprochen - auf ein Schreckgespenst mit dem erwarteten Verhalten (Abre numa nova janela) reagiert, bürdet der Bevölkerung eine Verantwortung auf, die sie nicht trägt und tragen muss.