Was ist eine Katastrophe?
Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Kämpft man sich ein wenig durch die Forschungslandschaft, merkt man schnell, hier besteht keine Einigkeit. Eine allgemeingültige Definition gibt es nicht. Das kommt auch daher, dass die Katastrophenforschung ihren Beginn in den USA nahm (vgl. Siedschlag/Stangl, 2020, S. 23). Dort spricht man von “disaster”.
Die britische Disaster-Expertin Lucy Easthope leitet die Bedeutung des Begriffs “disaster” in “When The Dust Settles - Searching for Hope After Disaster” wie folgt her (übersetzt aus dem Englischen): Das Wort “disaster” setze sich zusammen aus dis und astro (lateinisch), was so viel wie schlechte Sterne (“bad stars”) bedeute. Es beziehe sich auf den alten Glauben, dass bei einer ungünstigen Stellung der Sterne unglückliche Ereignisse eintreten werden. (Easthope, 2023, S. 29)
Das Wort “Katastrophe” stammt aus dem Griechischen (“katastrophḗ”). Es meint “Umkehr, Wendung”, v.a. “Wendung nach unten” (vgl. DWDS (Öffnet in neuem Fenster)). Die Ähnlichkeiten zum lateinischen Wort “catastropha” sind nicht zu verkennen, das “Umschwung des Schicksals” bedeutet (Langenscheidt (Öffnet in neuem Fenster)).
Da die fehlende Definition, alter Glaube und das Abstellen auf ein von mir favorisiertes Begriffsverständnis an dieser Stelle nicht weiterbringen, will ich “Katastrophe” nur kurz beschreiben und dann auf die Lösung der Katastrophenschutzgesetze eingehen.
Beschreibung statt Definition
Eine Katastrophe ist eine verhängnisvolle Abfolge von Ereignissen, die nicht abgewendet werden kann. Ob eine Katastrophe vorliegt, hängt nicht nur von dem Zusammenwirken der Ereignisse ab, sondern auch von subjektiver Wahrnehmung. Eine Katastrophe ist das, was jemandem oder einer Gruppe von Personen konkret passiert. Ein Ereignis wie ein Hochwasser, ein Erdbeben, Erdrutsch, Terroranschlag oder Cyberangriff ist für sich allein nie eine Katastrophe. Sondern das wahrgenommene Ergebnis seines Zusammentreffens und Zusammenwirkens mit Menschen, Siedlungen, Infrastruktur, etc. (in Anlehnung an Siedschlag/Stangl, 2020, S. 75).
“Katastrophe” in den Katastrophenschutzgesetzen (Öffnet in neuem Fenster)
In einem Sachgebiet, wo zusammenwirkende Hilfskräfte sich nicht missverstehen dürfen, ist Klarheit vonnöten. Die Bundesländer (Öffnet in neuem Fenster) bedienen sich daher eines praktischen Kniffs: einer sogenannten Formaldefinition. Eine Formaldefinition definiert nicht, was eine Katastrophe katastrophal macht. Eine Formaldefinition bestimmt Auslösebedingungen, hier für das Handeln von Akteuren des Katastrophenschutzes (Öffnet in neuem Fenster).
Die Formaldefinition der “Katastrophe” in den jeweiligen Katastrophenschutzgesetzen (Öffnet in neuem Fenster) der Bundesländer funktioniert wie der mustergleiche Glossarbegriff des BBK (Öffnet in neuem Fenster):
“Ein Geschehen, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen oder die natürlichen Lebensgrundlagen oder bedeutende Sachwerte in so ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden, dass die Gefahr nur abgewehrt oder die Störung nur unterbunden und beseitigt werden kann, wenn die im Katastrophenschutz mitwirkenden Behörden, Organisationen und Einrichtungen unter einheitlicher Führung und Leitung durch die Katastrophenschutzbehörde zur Gefahrenabwehr tätig werden.”
Das bedeutet: Eine Katastrophe liegt vor, wenn die aus einem Geschehen herrührende Gefahr oder Störung nur durch ein Zusammenwirken von Akteuren im Katastrophenschutz (Öffnet in neuem Fenster) unter einheitlicher Führung und Leitung in den Griff bekommen werden kann.
Das wiederum bedeutet: Jemand Zuständiges, d.h. die zuständige Katastrophenschutzbehörde, muss entscheiden, dass ein Zusammenwirken unter einheitlicher Führung und Leitung erfolgen soll.
Und das heisst im Ergebnis: Die Katastrophe folgt aus einer formalen Entscheidung. Nicht aus einer tatsächlichen, nach allgemeinem Sprachgebrauch katastrophalen Sachlage. Diese mag die formale Entscheidung beeinflussen, sie ist aber nicht die Katastrophe selbst.
Der Vorteil der Formaldefinition liegt auf der Hand: Schnelle Entscheidungen ermöglichen schnelles Handeln. Wären die Voraussetzungen für die Bestimmung des Vorliegens einer Katastrophe wissenschaftlicher Natur, müsste die zuständige Katastrophenschutzbehörde erst einmal in die Literaturrecherche und Sachverhaltsermittlung einsteigen, um eine Entscheidung treffen zu können. Hierdurch ginge wertvolle Zeit verloren. Viele Menschen könnten in dieser Prüfphase Leben, Gesundheit und Lebensgrundlagen verlieren. Kontraproduktives Verhalten aus Verzweiflung und Unruhen (Öffnet in neuem Fenster) könnten in der Folge die Gefahren- sowie Störungsbekämpfung erschweren oder unmöglich machen (Öffnet in neuem Fenster). Dies gilt es zu vermeiden.
Die Kritik der Wissenschaft
Die Formaldefinitionen der Bundesländer gehen allesamt davon aus, dass eine Katastrophenschutzbehörde unmittelbar erkennt, dass eine Katastrophe vorliegt (welche die betroffene Bevölkerung auch als solche wahrnimmt). Die Bevölkerung darf in diesem Idealfall davon ausgehen, dass das “Go” für die zusätzlich benötigten Hilfskräfte unmittelbar folgt. Mit Blick auf die jüngere Geschichte des Ahrtals lässt das verständlicherweise unbefriedigt zurück. Idealfall und Realität, so kritisiert auch die Wissenschaft, liegen selten nah beieinander. Wenn der operationale Katastrophenschutz (Öffnet in neuem Fenster) schon im ersten Schritt an der Katastrophenschutzbehörde scheitern kann, liegt unter Umständen nach der Katastrophenforschung, aber eben rechtlich gesehen keine Katastrophe vor. Mit allen Konsequenzen.
Die Bedeutung von Selbsthilfe und Selbstschutz
Natürlich ist nicht damit zu rechnen, dass die erforderliche Entscheidung unterlassen oder verzögert wird. Unter Verweis auf meinen Vorgängerpost (Öffnet in neuem Fenster) muss die Bevölkerung jedoch im Katastrophenfall immer damit rechnen, dass die Katastrophenschutzbehörde und/oder die benötigten Hilfskräfte für einen ungewissen Zeitraum funktions- und handlungsunfähig oder verhindert sein können. Weil eben Idealfall und Realität so selten beieinander liegen. Weshalb Selbsthilfe und Selbstschutz (Öffnet in neuem Fenster) so wichtig sind.