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Wenn Einsatzkräfte angegriffen werden, ist irgendwann vielleicht keiner mehr da, der hilft

Am 28.12.2023 fand die Bundespressekonferenz zum Ergebnis der Umfrage zu “Gewalt gegen Einsatzkräfte” statt. Du findest ihre 34-minütige und schauenswerte Aufzeichnung hier auf dem YouTube-Kanal von Phoenix:

https://www.youtube.com/watch?v=hTq5iohFYuo (Öffnet in neuem Fenster)

Diese Umfrage richtete sich an die ehrenamtlichen Mitglieder der freiwilligen Feuerwehren. Ihr Ergebnis ist erschreckend.

49,5% der Befragten haben in den letzten 2 Jahren Gewalt im Einsatz erfahren.

49,5%.

Das ist die Hälfte aller ehrenamtlichen Feuerwehrleute.

Jedes zweite Mitglied der freiwilligen Feuerwehr.

Als Angreifende wurden vor allem Einzelpersonen angegeben, die keinen Migrationshintergrund und keinen Alkohol zu sich genommen hatten. Die Normalos von nebenan, deren Zündschnur kurz ist. Deren eigene Interessen über der Not anderer stehen. Die z.B. Sandsäcke entwenden. Die Feuerwehrleuten in kritischen Situationen verbale und körperliche Gewalt antun. Und dabei offenbar völlig vergessen, dass die Feuerwehrleute gekommen sind, um zu helfen. Und das ehrenamtlich.

Neu sind diese Gewalterfahrungen gewiss nicht. Beispielsweise stellte Kriminologe Thomas Feltes, Professor der Ruhr-Uni Bochum, schon vor 6 Jahren in einer Studie eine Tendenz zur Verrohung fest. (Öffnet in neuem Fenster) Hier gaben 64% der teilnehmenden Brandschützer:innen, Sanitäter:innen und Notärzt:innen aus NRW an, Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Von mehr als 4.500 Befragten hatten sich nur 812 geäußert.

Aus der Pressekonferenz erfährst du auch, dass nicht alle Gewalterfahrungen gemeldet werden. Umfragen, Statistiken geben also nur ein unvollständiges Bild ab. Die Dunkelziffer, so wird daher vermutet, ist höher. Die Erfahrungen, dass Strafanzeigen zu nichts führen, sind zudem bestürzend. Das senkt noch mehr die Motivation, Gewalterfahrungen zu melden und gar anzuzeigen. “Es bringt ja eh nix.”

Was ist langfristig gesehen die Konsequenz?

Es kommt vielleicht irgendwann keiner mehr, um zu helfen.

Wenn Einsatzkräfte mit Angriffen rechnen müssen, muss die Gesellschaft damit rechnen, dass sie ihren Job aufgeben. Unter Umständen müssen sie ihren Beruf und ihre Berufung aufgeben, weil ihre Verletzungen sie arbeitsunfähig gemacht haben. Wenn junge Menschen mit Interesse für den Beruf erfahren, dass sie während ihrer Berufsausübung jederzeit mit Angriffen rechnen müssen, dann ergreifen sie ihn womöglich nicht. Eltern halten ihre Kinder vielleicht davon ab, ihrer Berufung zu folgen, weil die Gefahren für Leib und Leben als zu hoch eingeschätzt werden.

Und dann? Ja, dann ist vielleicht irgendwann keiner mehr da, um zu helfen. Weil vielleicht die wenigen Einsatzkräfte, die es dann noch gibt, nach Fallschwere entscheiden müssen, wohin sie fahren, um zu helfen.

Was kann jede(r) Einzelne tun?

1. Verstehen, wo Gewalt(-erfahrung) beginnt

Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass Gewalt nicht erst beim körperlichen Angriff, einem Körperkontakt mit Verletzungsabsicht beginnt.

(Weg-)Schubsen ist Gewalt.

Beleidigende Worte und Gesten wie der Stinkefinger sind Gewalt.

Anschreien und Beschimpfen sind Gewalt.

Auf die juristische Wertung kommt es nicht an. Eine Gewalterfahrung kann genügen, dass eine Einsatzkraft - ein Mensch - den Beruf aufgibt, weil sie z.B. Angst vor der Berufsausübung hat.

2. Sich das eigene Verhalten bewusst machen

Jede Person nimmt die Welt subjektiv wahr. Vor allem die Gefahrenwahrnehmung ist sehr unterschiedlich. Manche tragen, metaphorisch gesprochen, eine rosarote Brille, andere tragen im Dunklen eine Sonnenbrille. Während also eine Seite glaubt, sie verhalte sich unproblematisch, kann die andere, fachkundige Seite das Verhalten als problematisch wahrnehmen. Aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen kommt es dann unter Umständen zu Gewalt.

Ein fiktives Beispiel: Viele Menschen stehen dicht gedrängt am Deich, der zu brechen droht. Fotos und Videos sollen für die sozialen Medien gemacht werden. Die gerufene Feuerwehr will den Deich sichern und Menschen, ihre Häuser und ihr Hab und Gut schützen. Sie muss dafür die vielen Menschen vom Deich wegbewegen. Da dies schnell gehen muss und Gefahr für Leib und Leben besteht, wird die Gruppe laut aufgefordert, den Deich zu verlassen. Manche Person fühlt sich durch die Aufforderung angegangen, gar kritisiert, und greift die Feuerwehrleute verbal an. Andere Personen widersetzen sich, wollen weiter filmen, da der Höhepunkt des Geschehens noch nicht im Kasten ist. Die Einsatzkräfte versuchen hier vielleicht, die sich selbst gefährdenden Personen direkt anzusprechen und aus der Gefahrenzone zu geleiten. Dies wird vor lauter Konzentration auf den Smartphone-Bildschirm als Angriff aufgefasst und der ein oder andere Ellenbogen holt aus.

Das eigene Verhalten hindert also womöglich andere an der Rettung bzw. am Gerettet-werden. Und wird gar als Gewalt angesehen.

Sind Einsatzkräfte vor Ort oder gerufen, sollte das eigene Verhalten geprüft werden: Beeinträchtige ich vielleicht den Schutzauftrag der Einsatzkräfte? Und würde ich als Einsatzkraft mein Verhalten als ok ansehen?

3. Flexibilität trainieren, kooperieren

Die Gewaltbeispiele der Umfrage zeigen, dass Angreifende nicht selten ihre Tagesplanung oder Routine durchsetzen wollen. Doch Pläne und Routinen sind nicht alternativlos. Spätestens im Angesicht eines Einsatzes von Rettungskräften empfiehlt es sich, über Handlungsalternativen nachzudenken. Die Informationen der Rettungskräfte können als wertvolle Hinweise dienen, um die beste Alternative zu bestimmen:

  • Eine Verspätung kann telefonisch entschuldigt werden. Termine können nachgeholt werden.

  • Das Telefon ermöglicht die kurzfristige Aufgabenübertragung, dass z.B. das Kind von einem anderen Familienmitglied aus der Kita abgeholt wird.

  • Das Navi zeigt vielleicht einen Umweg, den Einsatzort weiträumig zu umfahren. Der Blick in den Stadtplan hilft im Zweifel auch.

  • Der von den Umständen (nicht: Einsatzkräften) aufgezwungene Moment des Wartens kann auch als Geschenk verstanden werden. Wie selten gibt es Momente, wo man einfach mal für sich sein und durchatmen kann.

Man sollte sich dabei in Erinnerung rufen: Stress und Sorgen haben hier gerade alle. Die Alternativensuche ist eine für jede(n) umsetzbare Art der Kooperation mit den Einsatzkräften.

4. Mehr Interesse für Helfende in der Not

Und damit meine ich die echten Menschen. Nicht das Bild, das soziale Medien hin und wieder als absolute Realität vorgaukeln.

In der Tat kann die Kommunikation mit Angehörigen der Blaulicht-Berufe unter Umständen zu Missverständnissen führen. Doch bevor eine Reaktion als Abwertung der eigenen Notlage oder Person gewertet wird, sollten sich z.B. folgende Hintergründe bewusst gemacht werden:

Der Missbrauch von Notrufen ist Realität, aber kein impliziter Vorwurf.

Vor einigen Jahren löste sich das Fenster meiner Mietwohnung auf der Dachschräge und drohte auf die Straße, v.a. auf den gegenüberliegenden Fußweg und Hauseingangsbereich, zu schießen. Mir war klar, dass diese Gefahr eine tödliche sein konnte. Ich rief die 112. Die Reaktion war zunächst ungläubig und ich wurde gefragt, ob mir bewusst sei, dass mich ein unnötiger Einsatz viel Geld kosten würde. Ja, ich fand das in dem Moment nicht ok. Ich antwortete, sinngemäß: “Schicken Sie mir gerne die Rechnung, der Einsatz ist für mich noch immer günstiger als Tote und Verletzte, mit denen ich leben müsste.” Die Feuerwehr kam sofort. Vier Feuerwehrleute sicherten das Dachfenster, das bei ihrem Eintreffen nur noch an einer Ecke mit dem Dach verbunden war. Also gerade noch rechtzeitig. Ich bekam sogar ein Lob, dass ich gut reagiert hatte. Eine Rechnung kam natürlich nicht.

Kritisch klingende Nachfragen bei einem Notruf oder Einsatz sind nicht persönlich gemeint, sondern dienen dem besseren Verständnis der (Not-)Lage.

Überlastung und Handlungsunfähigkeit müssen vermieden werden.

Vor allem in Zeiten der Angespanntheit der Gesundheitsversorgung ist es wichtig, die schweren, lebensbedrohenden Fälle von den weniger schweren Fällen zu unterscheiden, um Einsätze priorisieren zu können. Anderenfalls droht Handlungsunfähigkeit und damit ein Kollaps der Gesundheitsversorgung. In diesem Fall verlieren alle; auch die Person, die mit Gewalt oder Lügen “nur” eine schnelle Versorgung erreichen wollte. Daher ist es wichtig, Nachfragen nicht als Zweifel an den eigenen Angaben oder Geringschätzung zu werten, sondern die (Hinter-)Gründe zu verstehen.

So hatte ich kürzlich einen Radunfall. Ich hatte viel Glück auf der Strasse und sah meine unter der Kleidung verborgene Verletzung erst daheim. Ich hatte mir einen großen, tiefen Schnitt zugezogen, aus dem es stark blutete. Nach einem erfolglosen Anruf in einer nicht erreichbaren Arztpraxis und der Feststellung, dass ich mit dieser Verletzung selbst nicht mehr weit kommen, geschweige denn einschätzen konnte, ob ich verbluten würde, rief ich die 112. Ich schilderte die Verletzung ausführlich und beantwortete alle Fragen, so unangenehm sie auch waren. Mein Gesprächspartner entschied: Das IST ein Notfall. Ich wurde sofort in die Ambulanz gebracht und versorgt.

5. Vorbild sein.

Ich gebe zu, ich bin ein Fan von Feuerwehrleuten, THW-Hilfskräften, Sanitäter:innen, (Not-)Ärzt:innen und Polizist:innen. Und sicher auch voreingenommen, weil sie mich und meine Mitmenschen wiederholt gerettet haben (es waren nicht nur die genannten zwei Male). Wofür ich ihnen ewig dankbar sein werde.

Man muss aber keine Notfälle am eigenen Leib erlebt haben, um ihnen Dank, Wertschätzung und Respekt entgegenbringen zu können.

Um das im eigenen Verhalten ausdrücken zu können, braucht es nicht viel: Dank, Wertschätzung und Respekt liegen bereits in der Kooperation. Und die kann sich z.B. in der ruhigen, freundlichen Beantwortung von Fragen zeigen, im trotz aller Umstände besonnenen Verhalten, im eigenständigen Suchen nach Handlungsalternativen zur Meidung des Einsatzortes, und natürlich im Befolgen von Aufforderungen. Es darf davon ausgegangen werden, dass diese der (eigenen) Sicherheit dienen. Und da Menschen dazu tendieren, sich an anderen Menschen um sich herum zu orientieren, kann man damit in Gefahrensituationen für andere ein Vorbild sein. Und die Lage ohne Eigengefährdung positiv beeinflussen.

Auf diese Weise kann jeder Einzelne dazu beitragen, dass wir auch in Zukunft Rettungskräfte haben, die in der Not da sind. Auch du vielleicht, indem du diesen Beitrag mit anderen teilst.

Kategorie Aus Gründen

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