Kannst du dich mit einer psychischen Erkrankung anstecken?
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Risiken und Nebenwirkungen einer aufgeklärten Gesellschaft.
Es ist Winter und alle paar Tage erwischt es einen Freund oder eine Freundin: „Sorry, bin krank und liege flach!“ Logisch, Winterzeit ist Virenzeit, und wenn man so in der vollgestopften S-Bahn steht, ist es auch kein Wunder, dass die Viren gerade eine richtig gute Zeit haben. Es trägt ja kaum noch jemand eine Maske.
Gut für mich: So richtig hat es mich diesen Winter noch nicht erwischt (ich kann nicht glauben, dass ich diese Worte schwarz auf weiß hier hin schreibe, klopf mal bitte ganz fest auf irgendwas Hölzernes , ja? Danke!). Neulich aber bin ich über eine Schlagzeile gestolpert, bei der es um Ansteckung ging, aber nicht mit Viren oder Bakterien – sondern mit psychischen Erkrankungen. Das klingt erstmal total absurd; als könnte ich mich bei einem Freund, der unter einer Angststörung leidet, anstecken, wenn ich ihn treffe. Das kann doch nicht sein – oder? Spoiler: Nein, kann es nicht. Schauen wir uns aber mal an, was dahinter steckt.
Sind psychische Erkrankungen etwa ansteckend?
Um diese Studie ging es: In Finnland haben Forscher:innen die Daten von mehr als 700.000 Jugendlichen aus 860 finnischen Schulen ausgewertet (Abre numa nova janela). Laut den Forschenden handelt es sich dabei um die bislang größte und umfassendste Untersuchung zu diesem Thema. Die Schüler:innen waren zwischen 1985 und 1997 geboren.
Das Besondere: Die Forschenden untersuchten anhand von Daten aus Registern, wie sich das Leben der Absolvent:innen nach dem Abschluss der finnischen Gesamtschule in der neunten Klasse entwickelte. Die Analyse reichte bis 2019, sodass die erfassten Jugendlichen durchschnittlich über elf Jahre hinweg beobachtet wurden. Das nenne ich mal Langzeitdaten.
Das Ergebnis: Bei etwa 6,6 Prozent der Jugendlichen war bis zur neunten Klasse bereits eine psychische Störung diagnostiziert worden. Bei den anderen geschah das bei einem Viertel nach der neunten Klasse. Aber das Risiko war unterschiedlich hoch: Bei denjenigen, die einen Mitschüler oder eine Mitschülerin mit diagnostizierter psychischer Störung hatten, erhöhte sich im Laufe der Jahre das Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Im ersten Jahr der Nachbeobachtung war das Risiko, selbst psychisch zu erkranken, um neun Prozent erhöht, wenn es einen erkrankten Mitschüler gab. Bei mehr als einem erkrankten Mitschüler stieg das Risiko um 18 Prozent. Von allen untersuchten Erkrankungen stieg das Risiko am deutlichsten bei Stimmungs-, Angst- und Essstörungen.
Das klingt heftig, oder?
Andere Faktoren, die mit Eltern, der Schule oder der Wohngegend zu tun haben, konnten den Zusammenhang nicht erklären. Wenn psychische Erkrankungen tatsächlich irgendwie ansteckend sind, wäre das eine ziemlich wichtige Erkenntnis. Denn seit Jahren wird darüber berichtet, dass die Fallzahlen von Menschen mit psychischer Erkrankung steigen, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Oft geht es in den Berichten darum, den Schuldigen zu finden. Die Frage lautet dann: Was macht uns heutzutage nur so krank? Die Studie aus Finnland deutet an, dass die Antworten vielleicht überraschend sein könnten.
Dass die Gesellschaft heute offener über mentale Probleme spricht und immer mehr Menschen immer mehr darüber wissen, welche Symptome zu welchen psychischen Störungen passen, kann nämlich dazu führen, dass die Zahlen steigen. Wichtig: kann. Ob es tatsächlich einen Zusammenhang gibt, ist schwer nachzuweisen. Aber es gibt Hinweise.
Wir sind häufiger mit psychischen Krankheiten konfrontiert
In einer Studie (Abre numa nova janela) aus dem Jahr 2023 wurde einer Gruppe von Studierenden (im Durchschnitt 20 Jahre alt) Social-Media-Beiträge gezeigt, in denen Ängste als normal und weit verbreitet dargestellt wurden. Diese Gruppe diagnostizierte anschließend bei sich selbst häufiger eine Angststörung als die Kontrollgruppe. Wichtig: Diese Beiträge verursachten bei den Studierenden keinen besonders starken Stress; Personen, die den normalisierten Beitrag sahen, berichteten zwar nicht von einem höheren Maß an Angst, neigten aber eher dazu, ihre Angst als Störung einzustufen.
Einige Psycholog:innen vermuten deshalb, dass die häufige Darstellung von Ängsten in sozialen Medien zu einer Überdiagnose von Angststörungen beitragen könnte. Weil wir über Social Media viel öfter sehen, dass Menschen psychisch erkrankt sind, beschäftigen wir uns auch mehr mit unserer eigenen Psyche. Und weil dadurch auch mehr darüber wissen, welche Symptome zu welcher Krankheit passen, können wir die Symptome auch eher bei uns selbst beobachten.
Hilft Achtsamkeitstraining doch nicht?
In Großbritannien haben mehrere tausend Teenager an einer Untersuchung (Abre numa nova janela) teilgenommen. Die Wissenschaftler:innen aus Oxford wollten wissen, ob Achtsamkeitstraining („Mindfulness“) das psychische Wohlbefinden verbessert. Eine Hälfte der Teenager wurde von ihren Lehrkräften in zehn Lektionen darin geschult, ihre Aufmerksamkeit auf den Moment zu lenken, auf ihren Körper und ihre Gefühle zu achten. Die andere Hälfte der Probanden wurde in der Zeit ganz normal unterrichtet. Und hier kommt das überraschende Ergebnis:
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