Das ist mein Material, damit arbeite ich
Jean Sibelius: 7. Sinfonie in C-Dur (1924)
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Wenn ich mich mit meinen schreibenden Bekannten unterhalte, gibt es ein wiederkehrendes Thema: Tolle Anfänge, vor allem Artikelanfänge. Für kreative Menschen sind Anfänge wichtig und für solche, die von ihrer Kreativität leben müssen, sind sie sogar lebenswichtig. Was nützt der schönste Artikel, wenn sich die Leserschaft nach zwei Sätzen ermattet wieder TikTok zuwendet?
Wie Kunstwerke beginnen, ist zweifelsohne wichtig und bei der Sinfonie, die ja oft einen ganzen Kosmos eröffnen will, erst recht. Und genau wegen seines bemerkenswerten, merkwürdigen Anfangs möchte ich euch die 7. Sinfonie von Jean Sibelius ans Herz legen.
Jean Sibelius kam in den Schleichwegen schon mal vor mit einem seiner 13 Klavierstücke (Abre numa nova janela). Er ist eher für lyrische (gesangliche) Werke bekannt. Das muss nicht heißen, dass tatsächlich gesungen wird, sondern nur, dass man diese Stücke mit ihren langen, eingängigen Melodien gut singen könnte, ja geradezu singen möchte!
Diese Gefahr besteht bei seiner 7. Sinfonie von 1924 nicht. Sibelius’ letzte vollendete Sinfonie beginnt mit einem Statement von geradezu archaischer Ernsthaftigkeit: einer Tonleiter. Hier breitet der Künstler sein Material aus: Schaut, das hier habe ich zur Verfügung, damit arbeite ich.
Aber dieses Material hat es natürlich in sich, denn es ist nicht einfach nur eine Tonleiter. Sie wird mit einer leisen Pauke eingeleitet und von Ton zu Ton lauter. Jedem Ton folgt zudem unmittelbar eine Art Echo durch die Kontrabässe. Diese Synkopen (also quasi Betonungen auf dem unbetonten Taktteil, mehr dazu im Schleichweg über Ragtime (Abre numa nova janela)) führen dazu, dass man schon ein bisschen verunsichert ist darüber, was hier rhythmisch eigentlich passiert.
Noch verunsichernder ist allerdings das Ende der Tonleiter. An dem Punkt, an dem eigentlich klare Verhältnisse herrschen sollten, werden wir mit einem völlig dissonanten (also nicht harmonischen) Klang in der Schwebe gehalten (im unten verlinkten Video von 0:21 bis etwa 0:27). Das Material ist nämlich keineswegs so klar wie es zuerst erschien. Die vermeintliche Ordnung trägt nicht und am Ende stehen wir vor einem, wenn auch höchst kunstvoll gestalteten, Fragezeichen.
Es geht in Sibelius’ 7. Sinfonie also nicht darum, zwei musikalische Themen vorzustellen und diese dann aneinander zu reiben (was üblicherweise in den ersten Sätzen von Sinfonien passiert), es geht gar nicht mehr um so etwas wie eine Melodie – es geht um die Frage, was das eigentlich sein soll, eine Melodie.
Melodien funktionieren, weil sie mit unseren Erwartungen spielen, sie kunstvoll erfüllen oder enttäuschen. Und das funktioniert, weil wir in der westlichen Musiktradition gelernt haben, was passieren muss, damit eine Melodie zu Ende ist. Auch wenn die meisten Menschen natürlich nicht musiktheoretisch beschreiben könnten, warum das so ist, haben sie doch ein Gefühl dafür, ob eine Melodie zu Ende ist oder nicht. Dieses Gefühl ist erlernt. So wie man auch im Deutschen oft sagen kann: Das ist falsch, ohne vielleicht genau grammatikalisch begründen zu können, warum.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wagten sich immer mehr Komponierende aus dem sicheren Gehäuse der Tonalität heraus, also aus dem Regelwerk, das über Jahrhunderte gegolten und diese Erwartungen hervorgebracht hat. Sibelius war kein Avantgardist, die Experimente seiner Kollegen wie Arnold Schönberg waren viel extremer, und auch bei Gustav Mahler konnte man anderthalb Jahrzehnte zuvor tonale Auflösungserscheinungen feststellen. Aber gerade weil das Publikum bei Sibelius schwelgerische, irgendwie nordisch klingende, musikalische Landschaftsmalerei erwartet, ist dieser zweifelnde, verunsichernde Einstieg so wirkungsvoll.
Hier nun die erschütterndste Tonleiter, die ich kenne, am Anfang von Jean Sibelius’ 7. Sinfonie, in einem sehr guten Live-Mitschnitt des hr-Sinfonieorchesters unter Paavo Järvi:
https://youtu.be/Bi9QiDrJJmw?si=Pv4VuPFOVhpQUAqQ (Abre numa nova janela)Das Ende der Sinfonie ist übrigens genauso unerwartet wie der Anfang – aber hört selbst. Hier das ganze Stück im Streaming (Abre numa nova janela).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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