Verdrängung der eigentlichen Katastrophe hat bei Wahlen 25 gesiegt

„Wenn Narrative die Welt so zu deuten imstande sind, dass ich das Egoistische tue, ohne dass es so aussieht, dann lebe ich in der besten aller Welten: Ich kann ungerührt den Vorteil der egoistischen Tat einheimsen, ohne dabei mein Image aufs Spiel zu setzen"
„Geschichten spielen aber auch kulturell eine bedeutsame und prägende Rolle, als Merkmale und Vergewisserung von kultureller Identität und Zugehörigkeit. Alle Kulturen haben ihre eigenen Geschichten vom Anfang der Welt, vom Sitz der Götter, haben ihre Märchen, Sagen und Heldengeschichten. Gerade religiöse Geschichten, ihre Plots und Protagonisten können benutzt werden, moralisch fragwürdige Dinge zu tun.“
Diese Meinung finde ich überzeugend diskutiert im Beitrag dort. (Abre numa nova janela)
„Geschichten von Verneinung, Beschwichtigung und Herabwürdigung entstehen gerade da, wo es das Bedürfnis nach Abwehr und Rechtfertigung gibt. Angesichts der globalen Bedrohung und der enormen Anpassungsleistungen und -kosten, die ein glaubwürdiger Klimaschutz mit sich bringt, ist nicht verwunderlich, wieso sich viele dagegenstemmen, oftmals mithilfe von Klimalügengeschichten"
Diese und folgende Argumentationen haben wir im letzten Wahlkampf zur Genüge gehört:
„Häufig zu hören sind Geschichten der individuellen Unzulänglichkeit, die moralisch richtiges Verhalten als „sinnlos“ erscheinen lassen. Es ist ohnehin schon zu spät. Oder: Ich kann alleine sowieso nichts ausrichten. Abgesehen davon, dass man mit demselben Argument auch nicht zur Bundestagswahl gehen sollte, was wir aber doch richtig finden, ist das Argument bezogen auf Klimawandel nicht ganz richtig. Unter der Annahme, dass die derzeitigen nationalen Emissionsziele umgesetzt werden, kann berechnet werden, wie viel Schaden eine zusätzlich ausgestoßene Tonne CO₂-Emissionen hätte. Der zusätzliche Ausstoß würde acht Quadratmeter Vegetation gefährden. Eine Tonne CO₂-Emissionen kommt schneller zusammen, als man denkt, hierzu reicht schon eine Flugreise von Frankfurt nach Lissabon. Das Verhalten Einzelner hat zudem einen wichtigen Effekt, weil wir Multiplikatoren sind und durch unser Vorbild auch das Verhalten von Freunden, Nachbarn, Kollegen und Bekannten verändern. Jeder, der seine Ernährung auf weniger Fleisch oder gar vegan umgestellt hat, weiß das. Man sollte den Beitrag jedes Einzelnen nicht kleinreden. Jede Tonne zählt!”
Schlussfolgerung: Wir können trotz (realistischer!) Kollapserwartungen eine verantwortliche Haltung zur Minimierung der Katastrophe einnehmen.
Für Grüne bleibt Klimaschutz zwar wichtigstes Thema
Aber auch die Grünen verlieren besonders bei den jungen Wählergruppen an Zustimmung. Doch insgesamt sind sie von den drei Ampel-Parteien die einzige, die nicht regelrecht abgestraft wird. Im Vergleich zu 2021 verlieren sie deutlich weniger als SPD oder FDP und kommen auf 11,6 Prozent - obwohl es viel Kritik an ihrer Politik gab und sie im Zentrum von Negativkampagnen stand. Die Grünen haben sich im Laufe der Jahre offenbar die 25% vom Klimathema Überzeugten als Kernwählerschaft erarbeitet. Diese Gruppe ist stabiler bei den Grünen zu Hause, als bei anderen Parteien. Das liegt statistisch messbar bei den Grünen vor allem am Thema Umwelt- und Klimaschutz. Für Grünen-Wählerinnen und Wähler bleibt das das wichtigste Thema, während es bei Anhängern anderer Parteien aktuell eine eher untergeordnete Rolle spielt: vernichtende 13% im Durchschnitt! Und beim Umwelt- und Klimaschutz werden den Grünen weiterhin mit Abstand die größten Kompetenzen zugesprochen - nicht nur von ihren eigenen Anhängern.
Fakten von Habeck (E-Mail) belegen das:
So viele Menschen haben sich dafür eingesetzt, dass grüne Politik eine starke Stimme hat. Während dieses Wahlkampfes sind mehr als 42.000 Neumitglieder unserer Partei beigetreten, wir haben mehr als 12 Millionen Euro Kleinspenden von über 100.000 Menschen erhalten, der Andrang zu unseren Veranstaltungen war überwältigend.
Doch das nutzt für einen Wahlerfolg nichts.
Bundesangstwahl 2025: im Kollaps gewinnt, wer Ängste politisiert
Tadzio Müller analysiert (hier ausführlich mit Leseempfehlung (Abre numa nova janela)) für mich treffend aus politikwissenschaftlicher Sicht kombiniert mit der Hypothese der Verdrängungsgesellschaft die Bundestagswahlen und kommentiert das Wahlergebnis einen Tag nach der Bundestagswahl 2025 so:
„…Tatsache, dass Klimaschutz over isch (wie viele larmoyante Feuilleton-Artikel haben wir gelesen, die sich fragten, “warum redet niemand vom Klima?” - larmoyant, weil die offensichtliche Antwort ist: weil niemand die Wahrheit übers Klima sagen oder hören will), und, dass das deutsche Parteiensystem wie überall auf der Welt hart am fragmentieren ist, und zersplitterte Parteiensysteme machen üblicherweise stabiles Regieren nicht so ganz einfach, und instabiles Regieren spielt leider zur Zeit den Rechten in die Hände.
„Es war also von Anfang an klar, dass wir heute morgen in einem Land aufwachen würden, das den stärksten (elektoralen) Rechtsruck der Nachkriegsgeschichte erlebt hat, das sich in den vergangenen Monaten immer krasser der “schamfreien Arschlochigkeit” hingegeben hat, die es seit 1945 nicht mehr unproblematisch fühlen durfte. Ein Beispiel: Merzens schaumgeifernde Wahlkampfabschlussrede, in der er ankündigte, er "werde Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen, die gerade denke und 'alle Tassen im Schrank' habe". (Aus seinem Blog) (Abre numa nova janela).
Seine Kernthese lautet darum so: Des elektoralen Pudels Kern: (verdrängte!) Zukunftsangst
„Jetzt aber zum zentralen und vermutlich nicht überraschendem Punkt, den ich zum Wahlergebnis machen will: es beweist meiner Meinung nach, dass im Kollaps, in der ständig weitere Kreise ziehenden Multifuckup-Katastrophe die politische Kraft gewinnt, die es am stärksten und überzeugendsten schafft, Zukunftsängste aufzunehmen, zu politisieren, und in die Richtung ihres politischen Projekts zu artikulieren, hinzulenken.
Verloren haben also SPD und Grüne, verloren haben die Parteien, die bisher regiert haben, verloren haben die, die nicht in der Lage waren, adäquat auf die teils rationalen, teils irrationalen aber immer als real gefühlten Zukunftsängste der Menschen einzugehen.”
Er zeigt auf, warum es diesen Rechtsruck gab…
„Gewonnen haben AfD und Union, Linke und BSW (remember: letztere halt “nur” 4,97%, gnihihihi): AfD, Union und BSW haben vor allem mit Angst vor Migrant*innen* und Migration gearbeitet, der Aufschwung der Linken war weniger ihrem guten Wahlkampf geschuldet, sondern eher der aktiven Mithilfe von Merz und Musk. Merz, weil er den antifaschistischen Menschen hierzulande nochmal gezeigt hat, wie nah wir am Faschismus sind (die Linken Umfragewerte explodieren vor allem seit Merzens Tabubruch im Bundestag; Musk, weil er dem verstaubten Antimilliardärswahlkampf der Linken Bedeutung gegeben hat – denn Musk zeigt, dass wir vor Milliardär*innen Angst haben müssen, dass ihre politische Macht zerstört, und sie als Milliardäre abgeschafft, verboten, gecancelt werden müssen. Merz und Musk haben uns Angst gemacht vor faschistischen Milliardären, und erst in dem Zusammenhang konnte der linke Wahlkampf richtig verfangen.
und wie die Verdrängungsgesellschaft funktioniert…
„Witzig ist, dass über dieses Thema bisher kaum gesprochen wird, auch nicht in den Wahlauswertungen, die ich bisher gesehen habe. Naja, „witzig”: vorhersehbar. Denn wir sind mehrheitlich immer noch eine Verdrängungsgesellschaft, und die kann zwar fühlen, aber nicht artikulieren, was sie fühlt, denn genau davor hat sie Angst. Angst, Zukunftsangst, hat diesen Wahlkampf entschieden. Aber uns das einzugestehen, würde uns zwingen, uns mit den Gründen für diese Ängste auseinanderzusetzen. Und darauf haben wir weiterhin keinen Bock, werden ihn mehrheitlich auch nie haben.“
…hier mein persönlicher Beleg dazu:
Ein starker Ausdruck solcher Verdrängung ist folgender aggressiver Kommentar zum letzten Newsletter über die katholischen Soziallehre (Abre numa nova janela), der mich die Tage erreicht hat:
Bezueglich Ihres Newsletters, kann ich Ihnen nur raten sich in die unten genannten Quellen einzulesen. Vielleicht kommen Sie dadurch von Ihrer Klima-Angst los und verstehen auch, dass soziale Wohltaten erst von anderen erarbeitet werden muessen (Wirtschaft). Das sind leider keine "sprühfrische Gedanken" sondern ahnungslose (bezueglich Naturwissenschaft und Wirtschaft), alters-angst-typische Horrorszenarien ("Klimakatastrophe").
Die aggressive Wortwahl „alters-angst-typische Horrorszenarien“ zeigt mir, wie heftig es (bei ihm) im Kessel brodelt und bestätigt mir Tadzios Schlussfolgerung:
„Dann doch lieber mit voller Wucht in den Thanatos (griech. „Tod”). Burn it all, so it doesn't scare you (Abre numa nova janela). Makes total sense.”
Genugtuung habe ich im Blick auf die FDP
Ich schließe mich Tadzios Seufzer an: „Trotzdem: vergesst die Trostpreise nicht. Kein Lindner, keine FDP, keine Lady Voldemort im Bundestag… Hätte schlimmer laufen können.” Die über 70jährigen Wähler:innen haben uns noch einmal für vier Jahre vor offenem Faschismus gerettet.
Und besser als Maurice Höfgen kann ich es nicht sagen:
„Lieber Christian Lindner, zum Abschluss Ihres Schurkenstücks inszenieren Sie sich als Märtyrer, der sich selbst und seine Partei für das Wohl des Landes in einer „offenen Feldschlacht“ geopfert habe. Die Wahrheit ist: Sie wurden für schlechtes Schauspiel abgestraft. Ihren Gang von der Bühne quittiert das Publikum mit Häme statt Applaus. Die FDP hinterlassen Sie dort, wo Sie sie vor zwölf Jahren übernommen hatten: in der außerparlamentarischen Opposition. Um im Bild zu bleiben: jetzt ist für die FDP wieder kleine Straßenkunst statt große Theaterbühne!
Herr Lindner, Sie haben sich verzockt. Die Operation „D-Day“, in geheimen Power-Point-Sessions ausgeklügelt, war ein Schuss in das eigene Knie. Mit einer knallharten Asylpolitik wollten sie die Union und die AfD rechts überholen, aber haben damit ihre letzten sozialliberalen Wähler verscheucht. Besonders junge Wähler haben Ihnen in Scharen den Rücken gekehrt, weil Sie statt von Bildung, Digitalisierung und Bürgerrechten nur noch von Machtoptionen geredet haben.”
Eins tröstet vielleicht? Dummheit und Protestwähler…
Der MilBlogger U.M. analysiert es auf den Punkt so (Abre numa nova janela) (Lesempfehlung): „Die AfD hat die wenigsten Mitglieder aller großen Parteien. Obwohl sie fast 21% eingefahren und ihr Ergebnis damit quasi verdoppelt hat, hat sie weniger Mitglieder als die FDP, weit weniger als die Linken und nicht einmal ein Drittel der Grünen.
Das bedeutet, die Wählerinnen und Wähler (deutlich mehr Männer) der AfD haben keine so feste Bindung an die Partei wie bei anderen Parteien. Es sind häufig Protestwähler, die sich weniger mit Politik auseinandersetzen. Als Grund der Wahl gaben 59% der AfD-Neuwähler Enttäuschung an.
Das Hauptthema war natürlich die Zuwanderung (38%) und die innere Sicherheit (33%, Mehrfachnennung). Und da schimmert dann doch etwas durch, was nicht mit Protestwahl zu begründen ist.
9% aller AfD-Wähler finden, dass selbst Migranten, die einen deutschen Pass haben, Deutschland verlassen sollten. 18% fanden, dass in Deutschland nur Deutsche leben sollten.
Das bedeutet, die Protestwähler finden diese Punkte offenbar akzeptabel genug, der Partei dennoch ihre Stimme zu geben.
Die Dummheit findet sich aber nicht nur bei Teilen in einer rechtsradikalen und realitätsfernen Einstellung. Sondern auch dabei, dass die (geringverdienenden) Wähler zutiefst nicht verstanden haben, dass die AfD eine wirtschaftsliberale Partei ist. Also eine Partei für Großverdiener.”
Für mich um so abstruser die Feststellung der Statistiken (Tagesschau.de), dass die AFD die neue deutsche Arbeiterpartei ist. Die Mehrheit deutscher Geringverdienender haben sie gewählt. Das ist rational nicht zu erklären, was wieder das klassische soziologische Sündenbock-Motiv (die Ausländer sind Schuld) sowie die These von Tadzio zur Verdrängungsgesellschaft (eigentlich sollte das Klimaproblem im Fokus sein) stark macht. Ach ja.
U.A. stimme ich in Blick auf die Ukraine-Politik einigermaßen erleichtert zu:„Damit kommen zwei Parteien an die Regierung, die – ich sag es mal salopp – pro Bundeswehr orientiert sind. Spannend wird tatsächlich, wie weit die CDU sich beim vorsichtigen Russlandkurs der SPD wird durchsetzen können. Auch die Entscheidung, wer Verteidigungsminister wird, wird spannend. Die CDU wäre gut beraten, das Ressort bei Pistorius zu lassen, der überparteilich und in der Bevölkerung einen enormen Zuspruch hat. Und dem Anschein nach auch nicht immer mit dem Kurs von Scholz einverstanden war.”
mit zaghaften Grüßen und „einem blauen Auge”
euer Helge
P.S. Heute mal nix Theologisches. Oder war das vielleicht implizit (heimlich) theologisch? Hier noch für deinen theologischen Hunger: Kann Merz den Wahlaufruf der Kirchen unterschreiben? (Abre numa nova janela) Nach den Ausführungen oben: Natürlich nein!
Ich freue mich auch auf deine Meinung oder Reaktion auf diesen Newsletter (einfach per Mail antworten). Gerne auch an Interessierte teilen, selbst wenn aggressive Kommentare zurückkommen sollten :-) Nicht bange machen lassen: die Verdrängungsgesellschaft lässt grüßen.