Monogamie: Eine uniforme Entscheidung?
Stell dir vor, alle deine Freunde, Verwandte, Kolleginnen sowie Fremde auf der Straße tragen grüne Kleidung, Grün ist sogar im Gesetz als einzig legitime Farbe festgelegt. Du trägst natürlich auch Grün, aber war es deine Entscheidung?
Ich bin der Überzeugung, dass die (lebens-)lange sexuelle Treue zu nur einem Menschen ein patriarchales Konstrukt ist, weil es a) die Frauen im Vergleich zum natürlichen Paarungssystem der Female Choice „gerechter“ auf die Männer verteilte und dadurch b) sesshaften Gemeinschaften die Stabilität brachte, die es den Männern ermöglichte, die Welt nach ihren Vorstellungen, Werten und Prioritäten zu gestalten. Durchgesetzt wurde diese „Umverteilung“ durch Zwangsverheiratung von Kinderbräuten durch ihre Väter. Da das Konstrukt die natürliche Form der weiblichen Sexualität, die Female Choice, komplett unterdrückt, halte ich das Infragestellen lebenslanger, sexuell treuer Partnerschaften für einen feministischen Akt. (Das ist nur die Ultrakurzfassung meiner Überzeugungen, die ausformulierte Fassung findet man in „Female Choice“.)
Wann immer ich das formuliere, kommt als erstes Protest. Frauen würden ja heute nicht mehr als Minderjährige zwangsverheiratet, sondern entschieden sich frei für die sexuelle Treue und/oder die Ehe und deshalb könne Monogamie gar kein patriarchales Konstrukt sein. An der Stelle muss ich dann meist atmen und gebe auf, weil die Vorstellung, bei dieser Person mit der Aufklärung ganz von vorne zu beginnen, mich sehr ermüdet. Aber so kommt man ja auch nicht weiter.
Die große Frage lautet also: Wie frei ist eine Entscheidung in einem alternativlosen System, in dem die Norm sogar per Gesetz festgelegt ist?
Früher glaubte ich, man könne freie Entscheidungen treffen in dieser von Männern für Männer gestalteten Zivilisation. Aus meiner Sicht hatte der Feminismus so viel erreicht, dass es nur an der individuellen Abmachung etwa eines heterosexuellen Paares liegt, wer Haushaltsführung und Kinderversorgung übernimmt und wer weiter die Brötchen verdient. Ebenso sei es nur eine Frage persönlicher Haltung, ob eine Frau respektiert, gehört und ernst genommen würde. Zeichen für patriarchale Strukturen konnte ich keine sehen. Wenig überraschend hat meine Blindheit dazu geführt, dass ich rund zehn Jahre in einer monogamen Beziehung gelebt habe, über acht davon sogar verheiratet. Es war das schiere Unwissen gekoppelt mit eigenen Erfahrungen, das da aus mir sprach. Erst als ich bei der Recherche zu „Female Choice“ immer tiefer in die Geschichte und Ausprägungen der Frauenunterdrückung durch eine männliche Zivilisation eingetaucht bin, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, in wie vielen Bereichen wir auch heute noch patriarchale Strukturen finden. Ich schreibe das nur deshalb auf, damit deutlich wird, dass mir die Haltung, heute sei doch alles ganz anders und feministische Anklagen gelten nicht mehr, nicht fremd ist.
Die monogame Langzeitbeziehung (verheiratet oder nicht) ist ein patriarchales Konstrukt ohne Möglichkeit, sich frei dafür zu entscheiden, and here’s why.
Der gesetzliche Rahmen
(Abre numa nova janela)In den meisten westlichen oder durch westliche Werte geprägten Ländern ist Polygamie verboten. Wer also mit oder ohne Wissen seines Partners oder seiner Partnerin eine zweite Person heiraten will, kann das nicht tun oder wird bestraft, wenn er/sie es heimlich doch getan hat. Das Gesetz beschränkt sich auf Ehen, ohne diesen formalen Rahmen kann natürlich jeder Mensch mit so vielen anderen Menschen zeitgleich zusammenleben, wie er/sie möchte. Und sofern es Nachwuchs gibt, ist dieser in ehelichen und nicht-ehelichen Verbindungen gleichermaßen geschützt. Da mittlerweile sogar das Ehegattensplitting, das Ehepartner gegenüber Nicht-Verheirateten steuerlich begünstigt, in der Diskussion steht, scheint die Eheinstitution nur mehr ein Relikt zu sein, ohne das jeder Mensch komplett frei entscheiden kann, richtig? Falsch. Denn auch ohne das Steuersplitting gibt es zig rechtliche Vergünstigungen für Verheiratete – etwa beim Erb- und Adoptionsrecht, bei Familienversicherungen, im Scheidungsfall oder für Vollmachten und Auskünfte im Krankheitsfall einer der Parteien. Wer diese Vorteile nutzen möchte oder muss, muss im Gegenzeug auf seine freie Beziehungsausgestaltung verzichten und sich auf ein/n PartnerIn festlegen. Es gibt also eine durch Staat und Versicherungen getragene Diskriminierung nicht-ehelicher Beziehungen oder ihrem Äquivalent für homosexuelle Beziehungen, der eingetragenen Lebenspartnerschaft.
Dieser gesamte Aufbau sagt nichts anderes als: „Natürlich kannst du deine Idee von Partnerschaft frei ausleben, aber wenn sie von dem abweicht, was ich als Staat unter Partnerschaft verstehe, musst du Nachteile in Kauf nehmen.“
Nicht die beste Voraussetzung für eine freie Entscheidung.
Keine Alternative
Nach wie vor gibt es kaum Ausnahmen von der Regel einer sexuell treuen Langzeitbeziehung.
Oh, in meinem wundervollen Berliner Elfenbeinturm gibt es natürlich auch polyamore Menschen und solche in offener Beziehung. In den Echokammern des Internet sowieso. Und die Versuchung ist groß, aus dieser anekdotischen Evidenz heraus anzunehmen, dass andere Formen des Zusammenlebens längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Einzig: sie sind es nicht. Das sind nur Minderheitsblasen.
In Medien, Werbung und Filmen sieht man fast ausschließlich das klassische Happily-ever-after. Hier und da sind zwar auch homosexuelle Paare abgebildet (was ich begrüße), aber es sind eben immer: Paare. Die ménage à trois mag zwar noch ein poetisches Motiv sein – aber dabei steht meist das Sexuelle im Vordergrund. Von Paaren abweichende Konstellationen sieht man nur in Form von platonischen Freundschaftsgruppen. Polyamorie etwa, also mehrere Menschen, die einander eben nicht nur Freunde, sondern auch Liebespartner sind, sieht man nie, weil das zu sehr nach Kommune riecht, nach Gruppensex und Swingerparty.
Zwar sinkt der Anteil von Erwachsenen, die mit Partner oder Partnerin zusammenleben (Abre numa nova janela), seit 1996 (von 66% auf 60%) und auch die Zahl der verheirateten Paare geht zurück (von 91% auf 84%), aber der Rückgang ist leicht und gemächlich. Hinzu kommt, dass alternative Formen des Zusammenlebens nur schwer statistisch erfassbar sind. Denn wo Menschen eine formelle Registrierung ihrer romantischen Situation (zu recht, wie ich finde) verweigern, kann jede Statistik nur auf Selbstaussagen beruhen – und die sind alles andere als zuverlässig.
All das bedeutet letztlich, dass wer sich nicht in progressiven Milieus (online oder offline) bewegt, wenig bis gar nichts von diesen alternativen Partnerschaftsformen mitbekommt. In konservativeren und weniger gebildeten Schichten unterscheidet sich das alltägliche Umfeld sich sehr krass von meinem Elfenbeinturm. Und wo Kinder in Milieus groß werden, in denen keine Alternativen zur monogamen Langzeitbeziehung vorkommen, da wird das Hinterfragen der Norm beinahe unmöglich.
Normativität und Soziale Ächtung
Heute gibt es zwar keinen Pranger mehr auf dem Marktplatz, an den unangepasste Menschen gestellt werden, doch sozialer Druck sorgt auch heute noch für eine gewisse Uniformität unter den Menschen.
Jede Mehrheitsgesellschaft ist immer auch normativ, ob sie nun will oder nicht. Menschen neigen dazu, sich an ein Mehrheitsmodell anzupassen. Um nicht aufzufallen, um nicht ausgeschlossen zu werden, um ein Gemeinschaftsgefühl zu erreichen, um nicht verurteilt zu werden. Das ist unvermeidlich. Das führt dazu, dass Menschen Dinge tun, weil „man das einfach so macht“. Das Wörtchen „man“ ist hier stellvertretend für die Mehrheitsgesellschaft, für einen abstrakten Druck, der daraus entsteht, dass eben sehr viele Leute Dinge auf eine bestimmte Art tun. Sich bei eigenen Lebensentscheidungen nach denen anderer Menschen zu richten, ist ein verbreiteter, weil sehr bequemer Weg. Man muss nicht groß überlegen, muss nicht tausend Optionen durchdenken, die Entscheidung trifft sich quasi wie von allein. Wie komfortabel!
Diese Grundnormativität kann man noch relativ leicht überwinden. Anders sieht es aus, wenn man in einem sehr urteilsfreudigen Umfeld lebt. Denn dort kann der normative Druck nahezu unbegrenzt nach oben erhöht werden. Die Werkzeuge der Normativität reichen von ständigen Nachfragen (Noch kein Kind? Noch keinen Partner?) über religiös geprägte Sexualmoral (Wilde Ehe, Ehrverlust) und vergifteten Zuspruch (Du findest auch noch den/die Richtige/n) bis hin zu blanken Hassverbrechen.
Sich ständig rechtfertigen oder zumindest erklären und andauernd lästige Fragen beantworten zu müssen, ist anstrengend, die Aussicht, das Schwarze Schaf der Familie zu sein, für das sich die Eltern womöglich sogar schämen, ist bedrohlich.
Der soziale Druck geht dabei nicht nur von gewöhnlicher Spießigkeit aus, auch religiöse und kulturelle Hintergründe spielen in einer globalisierten Welt eine große Rolle. Arrangierte Ehen und Zwangsheiraten (Abre numa nova janela) sind nicht ausgestorben, nur weil die christlich geprägte Welt sich überwiegend davon abgewandt hat. Abweichungen von traditioneller Eheschließungspraxis und Sexualmoral können in migrantischen Familien vor allem für Frauen schlimme Folgen bis hin zu Femizid haben.
Die Angst vor dem Verlust von sozialem Rückhalt ist ein enorm wirksames Werkzeug, um Menschen „auf Linie“ zu halten. Die Angst vor Sanktionen, die Leib und Leben bedrohen, sowieso.
Erworbene Wünsche
Während Wünsche nach Schlaf oder sexueller Befriedigung (bei einem gesunden Menschen) angeboren sind, weil sie auf einen evolutionären Trieb zurückgehen, ist der Wunsch nach Beziehung und Ehe erworben – meist schon früh im Kindesalter. (Ja, sorry, ich kann auch nichts dafür, dass unsere kindlichen Erfahrungen in alle möglichen Erwachsenenangelegenheiten reinfunken.)
Wir sehnen uns nach der absoluten Geborgenheit, die wir als kleine Kinder von unseren Eltern bekommen haben (oder hätten bekommen sollen), und projizieren sie im Erwachsenenalter auf eine romantische Verbindung. Unser Beziehungsverhalten spiegelt weit häufiger unsere kindliche Prägung wider, als ein erwachsenes, aufgeklärtes und eben: freies Bewusstsein. Es ist nicht etwa eine aktive Gehirnwäsche, die ist gar nicht nötig. Unser Kindergehirn sammelt die Bestandteile generationsübergreifender Gleichschaltung einfach so im Laufe des normalen und gesunden Wachstumsprozesses quasi am Wegesrand auf.
Die blöde Nachricht ist daher, dass man diese Art der frühkindlichen Prägung kaum verhindern kann, sie entzieht sich weitgehend der Kontrolle durch aktive elterliche Erziehung.
Die gute Nachricht ist, dass man sie im späteren Leben überwinden kann. Wie leicht oder schwer dieser Prozess ist, hängt unter anderem von der neuronalen Vernetzung „kindlicher“ und „erwachsener“ Gehirnregionen ab. Aber es geht.
Für eine freie Entscheidung in Beziehungsfragen reicht womöglich, sich die frühkindliche Verschaltung bewusst zu machen, aber ohne diesen geringsten aller möglichen Schritte halte ich eine bewusste Entscheidung für oder gegen Monogamie und Ehe nicht für möglich.
Erst Befreiung, dann Entscheidung
Obwohl also niemandem in westlich und/oder christlich geprägten Länern eine juristische Strafe droht, wenn sie oder er anders als die Norm lebt, gibt es eine ganze Menge Mechanismen, die unterschiedliche Menschen dazu bringen, gleich zu handeln und dem Ideal der monogamen Langzeitbeziehung nachzujagen. Wenn jemand (m, w, d), der nie anders als monogam gelebt hat, der nie normative Prozesse in Frage gestellt hat (oder allenfalls im Zusammenhang mit Minderheiten), der nichts von frühkindlicher Prägung weiß und seine Milieublase für die Realität hält – wenn dieser Jemand behauptet, sich frei für sein Mehrheitsleben in monogamer Paarbeziehung entschieden zu haben, dann sage ich: Du bist blind.
Ohne diese Mechanismen durchschaut und sich von ihnen bis zu einem gewissen Grad emanzipiert zu haben, halte ich es für unmöglich, sich frei für diese Norm zu entscheiden. Denn erst das Abrücken von normativem Druck, das Freimachen, schafft den Raum, der nötig ist, um Alternativen zu sehen und von allen Seiten zu betrachten. Eine freie Entscheidung setzt doch voraus, dass man mehrere Optionen hat, deren jeweiligen Vor- und Nachteile man sachlich gegeneinander abwägen kann. Wo dieser Schritt nie erfolgt ist, kann es keine Freiheit geben.
Zur Verdeutlichung mag hier ein weiteres Beispiel für normativen Druck und unseren Umgang damit herhalten: weibliche Schönheitsroutine.
Jede Frau erlebt mehr oder weniger regelmäßig in ihrem Leben, dass sie in dieser von Männern für Männer gemachten Gesellschaft vor allem jung, schön und ohne Körperhaar zu sein hat. Dieser weiblichen Norm angepasste Frauen unterwerfen sich einem strikten und zum Teil zeit- und geldaufwändigen Schönheitsregime. Und wie bei der unhinterfragten Monogamie behaupten solche Frauen oft, sie täten das für sich selbst. Sie fühlten sich enthaart und geschminkt einfach besser. Doch dieses höhere Wohlbefinden ist keineswegs das Ergebnis der Schminkprozedur oder Körperrasur. Angepasst zu sein – also der gesellschaftlichen Schönheitserwartung nachzukommen, bedeutet, dass man weniger Angst vor Be- und Verurteilung haben muss, vor Spott, blöden Bemerkungen und Kritik. Man fühlt sich entspannter, weil man weniger soziale Ächtung fürchten muss. Das ist ein Unterschied. Die Verknüpfung der höheren Entspannung mit dem Normgegenstand erschafft ein sich selbst erhaltendes System, in dem man gleichzeitig Ausüberin von Druck ist und Opfer dieses Drucks.
Ich sage nicht, dass lange Beziehungen schlecht sind, ich sage nur, dass sich kaum jemand wirklich frei dazu entschieden hat. Und ich wünsche mir viel mehr Radikalität in der medialen Diskussion um romantische Konstellationen als nur die Frage, ob homosexuelle Verbindungen heterosexuellen rechtlich gleichgestellt werden sollten. Damit wir unsere Leben nicht mehr entlang gesellschaftlicher Konventionen gestalten, weil “man das eben so macht”, sondern uns frei, wirklich frei im Geist entscheiden, wie lange wir mit wem leben und Sex haben wollen.
Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
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