Worte nach Jahren
Kaum etwas ist so schwer, wie gegenüber nahestehenden Personen über schmerzhafte Gefühle zu sprechen, die von ihr selbst verursacht oder ausgelöst werden. Aber es lohnt sich, sich der Angst vor dem Gespräch zu stellen.
Konfliktkommunikation ist ungefähr so angenehm wie eine Wurzelbehandlung und wenig überraschend hat kaum jemand Lust darauf, Probleme, Verletzungen, eben: Konflikte offen anzusprechen. Das gilt umso mehr, wenn die Person, mit der man sprechen muss, einem nahesteht. Eltern, Geschwister, BeziehungspartnerIn oder beste/r FreundIn. Die Vorstellung, etwas auszusprechen, das vielleicht schon lange in uns gärt, und damit unweigerlich eine Zäsur in das vermeintlich gute Verhältnis zu bringen, schnürt den Hals zu wie eine Garotte.
Die Angst ist so eine hohe Hürde, dass wir nicht schaffen, unserem Vater zu sagen, wie sehr wir seine Anerkennung entbehren, oder unserer Partnerin, wie sehr wir darunter leiden, dass sie nicht mehr mit uns schläft, oder unserer Mutter, wie sehr uns ihre Übergriffigkeit quält. Willkürlich ausgedachte Probleme, klar. Meist rationalisieren wir unsere eigene Angst weg, indem wir uns einreden, dass es nur noch nicht den richtigen Moment für ein Gespräch gab oder ein Gespräch ja doch nichts ändern würde. Nicht unsere eigene Angst hält uns zurück, sondern sehr nachvollziehbare Gründe, hier, siehst du?
Dabei gibt es nur einen einzigen richtigen Moment: wenn wir selbst unsere Angst überwinden.
Die Angst eines Kindes
Was ist das für eine Angst? Angst wovor? Und woher kommt sie?
Die Angst ist die unseres inneren Kindes, also unserer im Kindesalter gemachten Erfahrungen. Verlustängste und Konfliktvermeidung sind zwei Ausprägungen kindlicher Überlebensstrategien. Ein kleines Kind kann nur überleben, wenn sich eine erwachsene Person um es kümmert, logisch. Also reagiert das kindliche Gehirn auf alle möglichen vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen mit einem Verhaltensprogramm, das die Chance erhöht, dass die erwachsene Person (i.d.R. ein Elternteil) bei uns bleibt. Dieser Prozess ist unvermeidbar, denn im Gegensatz zu vielen anderen Säugetieren vollzieht sich die menschliche Gehirnentwicklung zu einem Großteil außerhalb des Mutterleibs. Unsere kindlichen Erfahrungen werden woanders im Gehirn abgespeichert als die erwachsenen, nämlich näher am Stammhirn. Logisch, die erwachsenen Gehirnstrukturen existieren ja im Kindesalter noch gar nicht. Wir können daher nicht verhindern, dass das Kindergehirn staunend durch die Welt wackelt und sich außerhalb einer bewussten Kontrolle durch Erwachsene seinen eigenen Reim auf sie macht, mag er nun falsch oder richtig sein.
Blöd ist nur, dass uns das innere Kind auch im Erwachsenenalter und da vor allem in innigen Verbindungen dazwischengrätscht. Das beschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zu unseren Eltern, sondern gilt für alle Menschen, die uns so nahe stehen, dass sie uns weh tun können. In engen Verbindungen erkennt das innere Kind seine früheste Beziehungserfahrung wieder - nämlich die zu seiner Mutter und/oder seinem Vater - und fühlt sich daher “zuständig”. Es übernimmt die Kontrolle.
Wenn zwei erwachsene Liebespartner/Innen miteinander streiten, dann kann es also sein, dass einander eigentlich zwei Kinder gegenüber stehen. Zwei Kinder, die mit ihren kindlichen Mitteln versuchen, einen Konflikt unter Erwachsenen zu lösen. Aber nicht nur sind die Mittel oft eher ungeeignet, die Übernahme durch das innere Kind bedeutet in solchen Momenten auch ein zutiefst verinnerlichtes Machtungleichgewicht. Ich bin hilflos, du stehst über mir, du hast die Macht, mich zu verletzen.
Solange man nichts von dieser, ich nenne sie mal Psychologie des Erwachsenwerdens weiß, wird man wahrscheinlich das gleiche Muster immer und immer wieder abspulen, obwohl es nie zu einer Lösung oder persönlichem Glück führt. Das kindliche Reaktionsrepertoire ist dabei sehr vielgestaltig, es reicht von people-pleasing über zwanghafte Konfliktvermeidung und Eifersucht bis hin zu übersteigerten Verlustängsten.
Das eigene innere Kind zu erkennen, ist nicht leicht. Aber meiner Erfahrung nach hat man zuindest eine heiße Spur, wenn man in seiner eigenen Vita schaut, ob in Beziehungen zu nahestehenden Menschen immer wieder das gleiche Verhalten aufgetreten ist (und ggf. zu Problemen führte). Das innere Kind neigt dazu, das gleiche Reaktionsschema immer und immer wieder abzuspulen. Wir zeigen in Liebesdingen immer wieder das gleiche Verhalten, wir regen uns bei jedem Mutter-/Vaterbesuch wieder über ihn/sie auf, wir sagen zu ausbeuterischen Vorgesetzten immer wieder Ja, obwohl wir Nein sagen müssten. Obwohl wir in vielen anderen Dingen des täglichen Lebens dazulernen, uns weiterentwickeln, reifer werden, ist das innere Kind sehr veränderungsresistent. Wir bleiben in sozialen Beziehungen oft dauerhaft kindlich. Wenn man solche Verhaltens- oder Reaktionsautomatismen in seiner eigenen Vergangenheit findet, besteht eine ganz gute Chance, dass da irgendeine (früh-)kindliche Prägung am Werk ist.
Und damit zurück zu dem Verschweigen unserer tiefsten Gefühle vor denen, die sie angehen. Unser inneres Kind malt uns die grässlichsten Schreckensszenarien an die Wand, damit wir nur ja die andere Person nicht gegen uns aufbringen und damit unser eigenes Leben gefährden.
“Wenn du das ansprichst, wird sie/er böse, und dann können wir einpacken.”
“Wenn du sagst, wie du dich wirklich fühlst, wird er/sie dich verlassen.”
“Willst du wirklich deine Liebesbeziehung aufs Spiel setzen, nur weil sich da gerade etwas nicht gut anfühlt?”
“Du wirst ganz allein sein.”
“Er/Sie wird sofort aufhören, dich zu lieben.”
Ein Kind, das auf das Gegenüber angewiesen ist, spricht hier. Der erwachsene Persönlichkeitsanteil ist in solchen Situationen oft nicht einmal im Raum oder wenn, dann nur als Stichwortgeber des Kindes - um zum Beispiel rationale Gründe gegen das Sprechen zu finden. Beide Anteile handeln auf schlechtestmögliche Weise Hand in Hand.
Wir sprechen nicht. Jahre nicht, Jahrzehnte nicht. Stattdessen erhalten wir den Anschein von Frieden aufrecht. Schlucken dieses eine Gefühl herunter. Dieses eine Gefühl, das wir immer in uns spüren, wenn wir mit unseren Eltern, Geschwistern, LiebespartnerInnen sprechen. Dieses eine Gefühl, von dem wir uns so sehr wünschen, es nicht mehr spüren zu müssen. Eine unausgesprochen Übereinkunft von “Don’t ask, don’t tell” hält uns mit der Person in einem Gleichgewicht, das keines ist.
Ich möchte alle Menschen ermutigen, sich der kindlichen Angst zu stellen und auszusprechen, was die andere Person schon lange wissen sollte.
Die schrecklichen aushaltbaren Konsequenzen von Mut
Natürlich kann niemand vorhersagen, wie das Gegenüber reagieren wird. Das hängt von der Art des Konflikts (also dem, was das schlimme Gefühl auslöst) ab, von der emotionalen Reife aller Beteiligten, von äußeren Umständen.
Aber ich teile hier einige meiner Beobachtungen, die natürlich subjektiv sind und keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit erheben.
Die Angst vor den Folgen eines schwierigen Gesprächs ist das Schlimmste, danach wird es leichter, weil klarer. Angst erzeugt Stillstand, das Gegenteil von Konfliktlösung. Endlich zu sprechen, hat immer eine neue Situation zur Folge, die kindlicher und erwachsener Anteil neu bewerten können. Ich bezeichne so eine Veränderung unabhängig von der weiteren Entwicklung als etwas Gutes, denn das Schlimmste hat man zu dem Zeitpunkt schon hinter sich.
Es gibt dabei Tränen und sie sind wichtig und richtig. Es gibt keinen erwachsenen Grund, sie nicht zuzulassen.
Der Druck, jahrelang ein unausgesprochenes Gefühl mit sich herumgetragen zu haben, lässt sehr schnell nach.
Jemanden mit einem Schmerz zu konfrontieren, den man sich jahrelang verbissen hat, ist … viel. Auch für die Person, die zuhört. Vielleicht weint sie auch, vielleicht wird sie wütend oder defensiv. Während ich seit Jahren über das Gefühl nachdenke, hört die Person gerade zum ersten Mal davon, und braucht Zeit, es zu prozessieren. Wenn das Gespräch also nicht sofort so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, heißt das nicht, dass es eine schlechte Idee war. Die allererste Reaktion ist nicht zwingend die endgültige Reaktion.
Es bedarf Rückgrat und Liebe beim Gegenüber, sich einem solchen Gespräch zu stellen, und das sollte man anerkennen. Es gibt Menschen, die in einer solchen Situation das Gespräch sofort abblocken, und es gibt solche, die sitzenbleiben und aushalten, was man selbst zu sagen hat. Das ist viel Wert und verdient Respekt - ebenfall unabhängig von der weiteren Entwicklung. Auch die zuhörende Person hat damit Mut bewiesen.
Berlin ist gerade unerträglich schwül und ich sehne das Gewitter herbei. Nach einem Gewitter ist die Luft immer so schön klar. Keine Ahnung, wie ich gerade hier drauf komme.
Ich finde es hilfreich, in mir drin danach zu forschen, was ich mir eigentlich von einem Aussprechen erhoffe. Erleichterung? Versöhnung? Genugtuung? Loslassen? Verständnis? Erst danach überlege ich, wie ich mein Anliegen formuliere.
Das innere Kind hat eine ganz existenzielle Angst vor dem Gespräch, es fühlt sich, als wäre sein Leben tatsächlich in Gefahr, wenn die andere Person nicht so reagiert wie gewünscht. Aber diese Gefahr ist nicht real. Selbst wenn der vom inneren Kind imaginierte schlimmste Fall eintritt und die Liebesbeziehung zerbricht oder der Kontakt zu den Eltern abreißt: Man kann und man wird das überleben. Vielleicht heult man Rotz und Wasser, vielleicht knallen Zimmertüren und vielleicht endet eine Freundschaft. Aber man lebt weiter. Anders vielleicht als vorher, um Erfahrungen und Erkenntnisse reicher. Und unter Umständen mit neugewonnenem Raum.
Lange unterdrückte Gefühle auszusprechen, bedeutet immer eine Zäsur. Im bequemsten Fall gibt es eine Versöhnung, in der sich beide aufrichtig wohl fühlen. Im anstrengendsten Fall muss man die Anteile des Ichs und die Lebensprämissen wie Mosaiksteinchen umherschieben, bis sich ein neues Bild der eigenen Existenz ergibt, das sich richtig anfühlt.
Mit dem Kind durch die Hölle und wieder hinaus
Das Schwierige an dem inneren Kind ist die Tatsache, dass ihm - auch wegen der, vereinfacht gesagt, unterschiedlichen Lage im Gehirn - so schwer beizukommen ist. Ich habe mit therapeutischer Hilfe geschafft, die Kommunikation zwischen meinen beiden Ichs zumindest deutlich zu verbessern, so dass es mir seitdem möglich ist, a) sofort zu erkennen, ob gerade die kleine oder die große Meike spricht, und b) mein inneres Kind selbst etwas zu beruhigen (Stichwort Re-/Self-Parenting (Abre numa nova janela)). Dadurch erreichen seine Gefühle nicht mehr die Intensität, die nötig ist, um den erwachsenen Anteil zu überstimmen.
Die therapeutische Arbeit mit dem inneren Kind ist das Härteste, was ich jemals in meinen Therapien durchgemacht habe, ich fühlte mich nach diesen Sitzungen immer wie durch den Fleischwolf gedreht. Weil diese Arbeit natürlich genau dahin führt, wo man vor Angst und Schmerz fast den Verstand verliert. Durch diese Gefühle hindurchzugehen, war für mich wie Folter. Aber danach hatten sie sehr viel von ihrem Schrecken eingebüßt, so dass ich viel emotionale Autonomie bekommen habe.
Leider bezahlt die Krankenkasse keine Therapie, nur weil man sich mal gerne besser kennenlernen will. (Zu recht.) Aber der emotionale Stress, den das innere Kind bei Konflikten spürt, kann so oft auftreten oder eine so hohe Amplitude haben, dass der dazugehörige Mensch psychische Erkrankungen entwickelt. Gerade wenn die Person, mit der der Konflikt verknüpft ist, im gleichen Haushalt lebt oder man täglich mit ihr arbeitet, wird das ständige Theater unseres inneren Dreikäsehochs zu einer konstanten Belastung.
(Ich habe meine supertolle Wundertherapeutin 2018 über die Suchfunktion der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (Abre numa nova janela) gefunden, nur ein Fingerzeig, falls jemand sich (wie ich) keine Selbstzahltherapie leisten kann.)
Bis zu meinem heutigen Wissens- und Gefühlsstand war es ein langer und harter Weg. Eine romantische Beziehung hatte ich seit meiner Scheidung nicht, da steht der Feldtest also noch aus. Aber ich habe vor einigen Wochen ein Gespräch mit meiner Mutter geführt, das ich schon vor zehn oder fünfzehn Jahren hätte führen sollen. Ich habe über zwei Stunden geweint, war mehrere Tage völlig erschöpft und das Gespräch hat zwischen hat nur zum Teil bewirkt, was es sollte. Aber hier bin ich: leichter als vorher, klarer als vorher, ohne ständige Beklommenheit, wenn ich an unser nächstes Telefonat denke.
Ich habe es überlebt, obwohl die kleine Meike mir zehn oder fünfzehn Jahre lang erzählt hat, dass ich es nicht überleben würde.
Ich lebe, du kleines, ängstliches Häschen.
Ich führe hier unten die Situation mit meiner Mutter noch etwas aus, lege den Text aber aus nachvollziehbaren Gründen hinter die Paywall.
Paywall nerven, das weiß man, das ist bekannt. Aber ich muss auch Miete zahlen. Hier, die Maus.
Sofort weiterlesen (Abre numa nova janela)
Já é um membro? Iniciar sessão (Abre numa nova janela)