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Der große Zaubertrick

Kanzlerlos glücklich/Georg Diez Kippunkte/Cohn-Bendit/Serie Cum Ex/Ottolenghi

Seit die Ampel-Koalition Anfang November vergangenen Jahres ihr Ende fand, hat die Bundesrepublik keine Regierung mehr. David Copperfield hätte es nicht besser hinbekommen: Eben noch regeln Scholz, Habeck und Lindner die Geschicke der größten Macht in Europa, dann – wow – sind alle weg. Schon ein halbes Jahr. Deutschland verschwindet. Ich bemerke an mir noch die alten Reflexe: Bei den diversen Ukraine-Gipfeln in Paris, in Brüssel oder bei den konfrontativen Terminen im Weißen Haus suche ich immer noch nach dem Kanzler. Manchmal ist er da, manchmal nicht – Deutschland huscht als Gespenst über die Weltbühne. Ich weiß natürlich, dass dieser Zustand nicht anhalten wird, bald wird Friedrich Merz zum Kanzler gewählt. Aber man gewöhnt sich ganz gut an diese Form exekutiver Anarchie. Vielleicht ist sie mehr als ein Übergang, sondern ein Symbol kommender Verhältnisse.

Die Zeit ist über das Konzept des großen exekutiven Lenkers der Staatsgeschicke hinweg gegangen. Auch in Frankreich hangelt sich Macron ohne Mehrheit durch das Zirkuszelt. Andere Vaterfiguren der Gegenwart, der Papst und der britische König, sind krank, wirken eher durch die ihnen entgegengebrachte Empathie als durch Autorität. Niemand aber dekonstruiert die Aura der modernen Herrschaft so nachhaltig wie Donald Trump. Man möchte ja immer gerne daran glauben, dass solche Macht mit Vernunft, Leistung und einem geheimen Plan verbunden ist, aber im Oval Office sitzt die reine Dummheit. Da hat Hillary Clinton (Abre numa nova janela) völlig recht. Der Glaube an die weise Obrigkeit spukt zwar noch immer durch die Köpfe – auch ich ertappe mich bei der angestrengten Suche nach Mustern und Interessen, um Trump zu verstehen – aber eigentlich ist das völlig sinnlos. Unsere Kultur wendet sich vom Blick an die Spitze ab. Die sakrale Aura eines Führers der freien Welt ist schon länger überholt, der derzeitige Amtsinhaber entledigt dieses und jedes andere Spitzenamt von der Unterstellung besonderer Befähigung. Es wäre an der Zeit für solch eine Emanzipation: Die Male, in denen ich amerikanischen Präsidenten nahekam, boten Szenen von groteskem Pomp, einer Republik unwürdig.

So etwas wäre übrigens auch in Großkonzernen überfällig. Ich habe nicht den Eindruck, dass die so mächtigen, so verehrten deutschen Autobosse besonders weise und vorausschauend agiert haben. Und doch konnten sie vor Kraft kaum laufen, lebten ein hierarchisches Führungsmodell. Der Chef ist ein gewohntes, aber doch in die Jahre gekommenes Modell, eher Volkskunde und Folklore als Zukunft. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte noch die drückende Vorstellung vom Regierungschef als Landesvater, seinen Bürgern als Kindern. Doch die Zeiten ändern sich. Wer benennt seine Kinder nach Kanzler oder Präsident? Wer hängt sich ihr Bild in die Stube oder sehnt sich nach einem Treffen mit ihnen, wenn es nicht sein muss? Welcher junge Mensch möchte seine Zeit dafür opfern, im Staatsapparat quälend langsame Prozesse im pausenlosen Tohuwabohu der digitalen Öffentlichkeit zu steuern? Das Ehepaar Macron ist die erste skandalfreie Familie im Élyséepalast seit den de Gaulles – zum Dank müssen sie sich vor Gericht gegen Gerüchte wehren, Brigitte sei als Mann zur Welt gekommen. Wer soll sich diesen Wahnsinn noch antun? Heute findet man nur noch mit Mühe Menschen, die Chef werden möchten – das hat eben auch mit einem Führungsbegriff zu tun, der nicht mehr zeitgemäß ist.

Ein Großteil der Wähler rechtsradikaler Parteien, auch der Freunde Putins, hängen dem alten Muster aber noch an. Ihnen ist Ordnung viel lieber als die Vielstimmigkeit der modernen Gesellschaft, auch wenn es ihnen dabei schlechter ergeht. Aber sie sind nicht in der Mehrheit.

Vielleicht erleben wir da gerade einen Wechsel. Schon heute sind es ja mehrere Ebenen und Personen, die unser Leben im Alltag regieren: Kommune, Region, Nationalstaat und die Europäische Union. Die Gerichte haben einen wachsenden Einfluss, die Verbände und die Medien auch. Analog zur Entwicklung am Arbeitsplatz, im Sport, in Wohngemeinschaften und Familien könnten Staaten und Staatenbündnisse künftig eher von Teams geleitet werden. In denen Machtworte selten sind, Widerspruch normal und die Egos Menschen, die Politik als wichtige, aber befristete Aufgabe erledigen, die morgens kommen und abends nach Hause gehen und keine Stars sind. In den Ländern, in denen die Menschen am glücklichsten sind, also Finnland, Norwegen, der Schweiz und anderen Glücksländern wird es genauso gehandhabt.

Im Frankreich des 16.Jahrhunderts warf Étienne de la Boëtie die Frage auf, warum sich eigentlich so viele Menschen dem Willen eines einzigen unterwerfen, ihre Freiheit freiwillig gegen Knechtschaft eintauschen. Ein König kann ja Gehorsam nicht erzwingen, jedenfalls nicht von allen – der muss schon von alleine kommen. Und was, wenn nicht?

Bald gibt es übrigens eine neue Ausgabe und Übersetzung (Abre numa nova janela) der servitude volontaire, auch als Contr’un bekannt. Die Zeit wird langsam reif.

Eben noch fiel die Mauer ohne einen einzigen Schuss, Bill Clinton stand mit Rabin und Arafat vor dem Weißen Haus und Michail Gorbatschow war der beliebteste Mensch der Deutschen. Und jetzt sitzen wir dermaßen in der Patsche. Was ist dazwischen passiert?

Einer der vielen Vorteile dieses Newsletters ist meine große Freiheit. In der Zeitung tue ich mich schwer damit, ein Buch meines Freundes Georg Diez zu besprechen. Die große Öffentlichkeit ist eifersüchtig: Man soll keine anderen Bindungen neben ihr haben. Aber hier sind wir ja unter Freundinnen und Freunden und ich kann Georgs Kipppunkte hemmungslos empfehlen. Wir sind seit vielen Jahren befreundet, verstanden uns auf Anhieb und seitdem ununterbrochen, waren mal Kollegen, mal nicht. Sein neues Sachbuch geht den verpassten Chancen und verfehlten Ausfahrten nach, zeigt aber auch auf, welche zivilgesellschaftlichen Ressourcen uns wieder aus der gegenwärtigen Gefahr hinausführen können. Man hört vergessene, aber immer noch interessante Stimmen wie Anthony Giddens und Douglas Coupland. Ein schon jetzt viel beachtetes, brisantes Buch über unser verspieltes politisches Erbe.

Es ist immer ein Vergnügen, Daniel Cohn-Bendit zuzuhören. Kaum einer hat so viel für Europa, die deutsch-französische Freundschaft und für die Freiheit getan wie er. Und das geht schon lange so: Charles de Gaulle hatte den 68er-Helden nach den dramatischen Tagen im Mai kurzerhand des Landes verwiesen.Ich war noch im Kindergarten, als meine Eltern, damals Studenten, dabei halfen, Dany über Schleichwege bei Saarbrücken nach Frankreich zurück zu schmuggeln. Da waren sie allerdings nicht die einzigen, vielmehr war eine große Menge Studies unterwegs, um dem prominenten Kommilitonen zu helfen, was der Gendarmerie auffiel. Er soll dann nächtens und mit weniger Unterstützung über die Grenze gelangt sein, aber da werde ich schon geschlafen haben.

https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/l-invite-de-8h20-le-grand-entretien/l-invite-de-8h20-le-grand-entretien-du-mercredi-26-mars-2025-8885902 (Abre numa nova janela)

Der irdische Lohn für diese Mühen hielt sich in Grenzen: Dany war nie Minister, wurde kein Lobbyist, erst recht kein Oligarch, sondern blieb der res publica treu. Von denen gibt’s nicht so viele. Nun legt er in Frankreich einen memoirenartigen Gesprächsband mit Marion van Enthergen vor – und achtzig wird er auch.

Und weil schöne Anlässe in Frankreich immer durch alle Medien gehen, hier ein Hinweis auf eine Begegnung in Le Monde

https://www.lemonde.fr/m-perso/article/2025/03/28/un-apero-avec-daniel-cohn-bendit-aujourd-hui-je-ne-me-sens-que-juif_6587239_4497916.html (Abre numa nova janela)

Seit Helmut Dietls genialer Satire Schtonk, die auf der Geschichte der gefälschten Hitler Tagebücher basierte, freue ich mich bei jedem Skandal schon auf seine filmische Bearbeitung. Und weil ich bei der ganzen Cum-Ex Sache nie richtig verstanden habe, wie das eigentlich sein konnte, tut mir ein wenig Nachhilfe ohnehin ganz gut. Beides kombiniert nun die unterhaltsame Satire Serie zum Skandal, unbedingt amüsant, toll gespielt und man lernt auch noch was.

https://www.zdf.de/video/serien/die-affaere-cum-ex-102/die-affaere-cum-ex-106 (Abre numa nova janela)

Schon seit vielen Jahren möchte ich eines der Restaurants von Yotam Ottolenghi besuchen, aber irgendwie kommt die Weltgeschichte dazwischen. Ich war kurz davor, nach Tel Aviv zu reisen, aber dann wurde es mir zu unsicher. Beziehungsweise ich wollte keinen Platz im Baerbockschen Evakuierungsflieger beanspruchen müssen, bloß, weil ich einmal nice essen wollte. Es gibt noch welche in London, glaube ich, aber wegen des Brexits bin ich nachtragend - und wegen der Sache mit Jeanne d’Arc manchmal auch noch. Eines Tages wird es schon klappen und bis dahin gilt eben: selbst ist der Koch!

https://www.theguardian.com/food/2025/mar/22/yotam-ottolenghi-recipes-for-roast-chicken-with-butter-beans-and-potatoes-with-peppers-and-garlic (Abre numa nova janela)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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