WeinLetter #60: Kessler Sekt und der deutsche Schaumwein-Markt
Liebe Wein-Freund:in,
Du liest den WeinLetter #60. Heute gibt's: Sekt. Blubber. Schauwein. Ich lese ständig: Sekt Cup hier! Bester Deutscher Sekt da! Jedes Essen&Weinen-Magazin, das bei Drei nicht auf dem Rebstock ist, prämiert: Sekte! (Ich meine schon die Mehrzahl, Anm. d. Redaktion) Raumland. Griesel. Blubbi-blubb. Sie alle räumen da und dort ab. Und wer sie trinkt, denkt: Ach, wer braucht noch die Schampagne. Naja, nicht ganz, denn trinkst du "Venus" von Agrapart & Fils, willst du zum Mars, Digga! Dann aber haben mir böse Algorithmen mutwillig eine Grafik der so nüchternen American Association of Wine Economists in mein LinkedIn-Feed gespült, das sagt: Deutsche trinken nur noch 3,2 Liter Sekt im Jahr. Weltweit spitze. Aber: Historisch fast tiefster Stand. Vor zehn Jahren waren das noch zwei (Am-)Pullen mehr! Wohin ging's? Was ist da los? Wie geht das zusammen? Hier Meisterschaft, da Abstieg? Bei näherer Betrachtung zeigt sich ein total zerklüfteter Markt. Dem gehe ich jetzt nach! Und zwar zunächst da, wo alles anfing, auch ein bisschen meines, weil ich bei der nämlichen Zeitung volontiert habe und nach jeder 12-Seiten-Sportproduktion immer im Team ein "Jägergrün" oder ein "Hochgewächs" getrunken wurde. In Esslingen! Kessler Sekt in Esslingen ist die älteste Weinkellerei Deutschlands. Ich trinke Kessler seit 1998, 2004 ist Kessler pleite geganen, 2005 wurde Kessler von vier Privatleuten gekauft. Ich habe mit dem Geschäftsführenden Gesellschafter Christopher Baur - geboren in Bad Cannstatt, aufgewachsen in Esslingen - ein langes Interview über das Schaumwein-Geschäft geführt! +++ Empfehlt (und shared) diesen WeinLetter bitte weiter. Unterstützt den WeinLetter gerne auch finanziell und werdet aktives Mitglied! (Si apre in una nuova finestra) Aber vor allem:
Trinkt friedlich!
"Alle haben uns auf die Schultern geplopft - aber es war eine schwierige Zeit": Kessler-Geschäftsführer Christopher Baur FOTO: SVEN CICHOWICZ
"Es wird immer noch süß getrunken. Das ist irre!"
Interview Thilo Knott
Es ist die älteste Sektkellerei Deutschlands - und Christopher Baur ist ihr Geschäftsführender Gesellschafter. Als Kessler Sekt aus Esslingen 2004 pleite war, hat er sie mit Partnern aus der Insolvenz gekauft: "Es war eine verrückte Idee!" Wie bringt man so eine Traditionsmarke wieder hoch? Warum ist die Nachfrage nach Corona so groß, dass er seine Sekt-Bars zumachen muss? Und wie steht es allgemein um den deutschen Schaumwein? Das Interview.
WeinLetter: Herr Baur, Sie betreiben zwei Sektbars - in Esslingen und Stuttgart. Anfang des Jahres mussten Sie beide Locations zumachen – weil die Menschen Ihren Keller leer getrunken haben. Geht es Ihnen so gut?
Christopher Baur: Ja, leider ging es nicht anders. Wir hatten – unerwartet – Lieferengpässe. Und zwar mit unseren kompletten Hauptlinien. Die Shops sind zwar nicht maßgeblich für unseren Absatz, es sind Kommunikationsmaßnahmen. Aber fairerweise haben wir die auch geschlossen und den Mitarbeiter:innen eine wohlverdiente Pause gegönnt.
Was war genau passiert?
Wir kommen aus einer längeren Pandemie-Phase, die auch für Kessler schwierig war. Wir machen gut 35 Prozent der Umsätze mit Gastronomie und Direktvertrieb. Das fiel alles weg. Der Rest ging in den Lebensmitteleinzelhandel. Jetzt haben wir in der Sektbranche sehr lange Zyklen. Wenn ich ein Hochgewächs heute abfülle, kann ich das frühestens in zwei Jahren verkaufen. Ich habe während der Pandemie meine Produktion nach unten angepasst. Nur: Im zweiten Halbjahr 2022 ist der Konsum geradezu explodiert. Warum auch immer. Es gab Wachstumsraten, die haben wir in der Produktion einfach nicht durchgehalten.
Sie mussten die Stores zu machen, weil Sie nicht so schnell produzieren können, um flexibel auf solche Peaks zu reagieren?
Genau deshalb waren wir nicht mehr lieferfähig. Sekt ist kein Gin, den ich in relativ kurzer Zeit und in Mengen produziert bekomme. Wir benötigten Zeit, um wieder Bestände aufzubauen. Alle haben uns auf die Schultern geklopft und gesagt: Wie gut geht es euch doch bei diesem reißenden Absatz! Aber: Es war eine sehr schwierige Zeit.
Es war nicht gut.
Du kannst Kunden verlieren, du musst viel und offen kommunizieren. Es war Krisenkommunikation. Und Ostern stand vor der Tür! Ostern und Weihnachten sind nach wie vor Peaks im Schaumwein-Geschäft. Wir haben alle Vermarktungsaktivitäten nicht mehr hochgefahren. Wir mussten Stabilität ins Unternehmen bekommen. Um Qualität zu halten, und nicht unter dem Druck Schnell-Schnell zu handeln. Es war das erste Mal so, dass wir Nachfrage und Kellerbestand nicht übereinander gebracht haben.
"Es sind Kommunikationsmaßnahmen": Stuttgart, Calwerstraße, Kessler-Sektbar FOTO: KESSLER SEKT
Was ist Ihre Lehre aus dieser Folge der Pandemie: Dass es keine Sicherheiten mehr gibt?
Die Planungsunsicherheit ist für unsere Branche extrem gestiegen. Das ist so. Weil auch nach der Pandemie, als schrittweise wieder geöffnet wurde, nicht klar war, wie du planen kannst.
Was ist Ihre Antwort?
Ein Unternehmen wie Kessler, das knapp 2 Millionen Flaschen Sekt produziert, ist darauf ausgelegt, dass wir ein langsames Wachstum haben sollten. 10 Prozent sind ein realistisches, aber auch machbares Ziel für uns. Wir können nicht einfach im einen Jahr 25 Prozent wachsen, weil der Kunde nach all der Corona-Einschränkung jetzt wieder den Sekt entdeckt hat. Und im nächsten Jahr fahren wir dann eine Null-Runde. Unsere neue Aufgabe lautet: Wachstum managen. Das ist neu, das Problem hatten wir nie.
Gilt das für die gesamte Branche?
Die Lage am Sektmarkt allgemein ist nicht einfach, es gibt eine Stagnation, was etwa den Konsum der Deutschen angeht. Wir sind ein kleiner Player, der sich in einer Nische bewegt - im Premium-Segment. Das sind die Anbieter mit einem Portfolio ab acht Euro. In diesem Segment gibt es viel Platz und eine durchweg positive Energie. Das ist ein wachsender Markt in Deutschland.
"Das ist Easy-Drinking": Hochgewächs aus Chardonnay, Jägergrün aus Riesling FOTO: THILO KNOTT
Es ist ein zerklüfteter Markt: Hier die Qualitätsanbieter, da die Großen, die für den Massenmarkt produzieren?
In Deutschland bieten wir heute ganz tolle Schaumweine an – kein Vergleich mit der Situation vor zehn Jahren. Wir müssen uns vor der Champagne und den hochwertigen Spumantes aus Italien überhaupt nicht verstecken. Dieses Segment in Deutschland entspricht aber überhaupt nicht den Erwartungen, die man in Deutschland an Sekt hat.
Wie ist die Erwartung der Deutschen?
Der Gesamtmarkt ist dominiert von drei großen Playern: Rotkäppchen-Mumm-Gruppe, Henkel und Schloss Wachenheim. Da haben sie mit all den Marken darunter den Großteil des Marktes abgedeckt. Die Gattung Sekt steht hier eher für günstig und süß.
Sie sprechen von den berühmten Halbtrockenen.
Trocken und halbtrocken machen rund 85 Prozent des Absatzes aus. Das ist irre. Es wird in der Masse nach wie vor süß getrunken.
Von wegen Extra brut!
Die traditionelle Sektkultur ist auch noch sehr anlassbezogen: Geburtstage, Feiertage wie Weihnachten, Silvester und Ostern. Aber das bricht langsam auf durch qualitativ hochwertige Produzenten wie Raumland, Vaux, Griesel, von Buhl. Das nehmen die Kunden wahr, das hat die Gastronomie kapiert. Wir machen eine Bar in Stuttgart auf – und die Menschen strömen. Das ist jetzt ein Samstagnachmittag-Feeling, das ist Easy Drinking, das ist qualitativ hochwertiger Genuss.
Wenn Sie sagen, in dieser Nische gebe es viel Platz: Haben Sie überhaupt Konkurrenz?
Klar haben wir die. Wir konkurrieren mit Crémant, Spumante, auch mit Champagner, also mit internationalen Premium-Produkten - nicht mit klassisch deutschem, lieblichem Sekt. Der Brut-Bereich ist ein ganz kleiner Markt, der aber groß genug ist für uns.
Es ist das älteste Sekthaus Deutschlands: Gründer Georg Christian Kessler (1787 - 1842), Gemälde von Jean-Baptiste Louis Germain FOTO: KESSLER SEKT
Herr Baur, Sie sind Geschäftsführender Gesellschafter bei Kessler. Sie sind 2005 mit drei Partnern eingestiegen. Das älteste Sekthaus Deutschlands musste 2004 nämlich Insolvenz annehmen. Wie war das?
Wir haben das Unternehmen aus der Insolvenz gekauft. Es war ein privater Gesellschafterkreis. Wir waren vier Personen und hatten die Idee, Kessler wieder zu dem Sekthaus zu machen, das es einmal war. Das hat ein bisschen gedauert.
Was heißt das?
Ich bin ja kein Winzer, komme nicht aus der Branche. Aber wir haben uns zunächst das Portfolio angeschaut: Es gab 22 unterschiedliche Schaumwein-Sorten. 22! Und ich habe das auf fünf Sorten reduziert. Und zwar auf die historischen Marken: Hochgewächs, Jägergrün, Kabinett, Gold und Rosé. Fünf! Wir haben diese für die Kund:innen undurchschaubare Komplexität rausgenommen.
"Wir haben Komplexität rausgenommen": Der Firmensitz von Kessler Sekt in Esslingen FOTO: KESSLER SEKT
Das war nicht der einzige Punkt, warum es Kessler schlecht ging.
Dann mussten wir die Qualität wiederherstellen. Das war schwierig, weil wir aus der Insolvenz die ganzen Grundweine übernommen haben. Das drehst du nicht mal kurz. Es gab ja Verpflichtungen. An diesem Protfolio hat sich dann auch nicht mehr viel geändert seitdem – ein zweiter Rosé Reserve ist noch hinzugekommen und eine Vintage-Linie mit Jahrgangssekten in limitierter Auflage. Das war’s. Aber so haben wir das Unternehmen Schritt für Schritt wieder auf Erfolg gedreht.
Kessler war damals national ausgerichtet. Haben Sie auch das Verbreitungsgebiet verändert?
Ja, wir haben den nationalen Markt erst einmal ganz eingestellt und uns voll auf die Region konzentriert. Auf Baden-Württemberg und vor allem den Mittleren Neckarraum und Stuttgart. Wir haben unseren historischen Stammsitz in Esslingen für die Öffentlichkeit modernisiert, heute führen wir mehr als 1.000 Besucher:innen-Gruppen pro Jahr durch. Du musst die Marke erlebbar machen, nah am Kunden und der Kundin sein. Das geht mit Regionalität einfacher – auch wenn wir jetzt wieder national vertreten sind, etwa bei der Karstadt-Gruppe, im KaDeWe. Aber es dauert: Die große Cuvée George, das dauert sieben Jahre, bis du so ein Produkt auf den Markt bekommst. Wir haben an den Basics gearbeitet: Nimm‘ die Komplexität aus dem Produkt-Portfolio und den Prozessen. Konzentrier‘ dich auf die Region. Und arbeite an der Qualität, die einer Marke wie Kessler wieder würdig war.
Wie haben Sie das Problem mit den Grundweinen gelöst?
Wir haben zunächst am Geschmacksprofil gearbeitet und es verändert.
Wie geht das?
Wir haben verstärkt auf internationale Schaumwein-Rebsorten gesetzt. Burgunder-Rebsorten, viel Chardonnay, nur Riesling haben wir beibehalten. Wir sind ja kein Winzersektgut, geprägt von den heimischen Rebsorten.
Kessler hatte noch nie eigene Weinberge.
Wir kaufen seit jeher ein. Seit 2014 ist die Dachgenossenschaft Cavit aus dem Trentino mit im Gesellschafterkreis. Es ist ein Verbund von mehr als 5.000 Winzer:innen. Die wissen, wie man Grundweine wie Chardonnay und andere Burgunder-Rebsorten für Schaumweine macht. Die frühe Lese garantiert zum Beispiel weniger Alkohol. Ein Hochgewächs aus 100 Prozent Chardonnay schmeckt dadurch immer gleich gut. Mit der Integration dieser Genossenschaft in den Kessler-Verbund können wir unsere hohe Qualität garantieren. Das ist wunderbar für uns.
"Es war eine verrückte Idee": Christopher Baur FOTO: SVEN CICHOWICZ
Das ist Christopher Baur und die Kessler-Story
Christopher Baur ist seit 2005 Geschäftsführender Gesellschafter der Esslinger Sektkellerei Kessler. Er hat das Unternehmen mit drei Partnern aus der Insolvenz übernommen. „Es war eine verrückte Idee“, sagt er. Zuvor hat er bei der Essener Medion AG im Bereich Consumer Electronics gearbeitet und bei der Schweizer Bon Appétit Gruppe, die nach seinem Weggang von der Rewe-Gruppe gekauft wurde. Die Wein-Dachgenossenschaft Cavit aus dem Trentino ist 2014 in den Gesellschafterkreis mit 50.1 Prozent eingestiegen. Christopher Baur ist in Bad Cannstatt geboren und in Esslingen aufgewachsen. Warum er bei der ältesten Sektkellerei Deutschlands eingestiegen ist? „Ich war schon immer ein Genussmensch und kannte als Esslinger die Marke Kessler sehr gut.“ Kessler hat 2022 1,9 Millionen Flaschen Schaumwein (à 0,75) verkauft und damit den Absatz innerhalb von zehn Jahren verdoppelt.