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Bahnstreik: Wir sind nicht unbeteiligt

Vom 7. bis 8. Dezember wurde in Deutschland im Personen- und Güterverkehr gestreikt. Die Forderungen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sind klar: mehr Geld, eine Inflationsausgleich, eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden bei gleichem Lohn und die Erweiterung des GDL-Geltungsbereichs. Bahnpersonalvorstand Martin Seiler sagt, dass die Streiks “verantwortungslos und egoistisch” seien: “Die Lokführergewerkschaft vermiest Millionen unbeteiligten Menschen das zweite Adventswochenende”, zitiert Der Spiegel.

Aber stimmt es denn überhaupt, dass diese Millionen, die nicht nur die Dienstleistungen von arbeitenden Menschen in Anspruch nehmen, sondern auch auf sie angewiesen sind, unbeteiligt seien? Ich finde nicht. Wir sind nicht nur für uns selbst, sondern auch füreinander verantwortlich. Wir spielen eine wichtige Rolle für die Arbeitskämpfe anderer – ob wir es (wahrnehmen) wollen und oder nicht.

Wenn die GDL mehr Geld für weniger Arbeit fordert, dann öffnet sie die Tür für eine gewaltige Erneuerung. Sie stellt eine Arbeitskultur in Aussicht, in der wir nicht leben, um zu arbeiten, sondern arbeiten für das Nötigste, und mit dem Rest unserer Zeit einfach nur leben. Dieses Leben, ohne dass die Arbeit der Sinn und Zweck davon ist, ohne dass sie den Großteil unserer Zeit und Kraft als Geisel hält, ist im Moment undenkbar. Zu arbeiten gilt nämlich als Tugend, obwohl sie Ausbeutung ist.

Arbeit ist keine Tugend. Arbeit ist Arbeit.

Wenn wir aber überzeugt sind, dass unsere Ausbeutung gut für uns ist, dann kommen wir nicht einmal auf die Idee, uns dagegen zu wehren. Wir stellen uns an die Schlange mit dem Wunsch, bitte bitte unbedingt als Nächstes dran zu sein. Es ist eigentlich genau dieser Missstand, der undenkbar sein sollte. Die Reduzierung der Arbeitszeit als Forderung stellt das Konzept der Arbeit als Tugend infrage und wertet die Freizeit auf. Die Reduzierung von 38 auf 35 Stunden mag noch nicht die Welt retten, aber es markiert den Beginn einer Ära, in der die Forderung, weniger arbeiten zu wollen, von dem Stigma herausgeholt und normalisiert wird. Es ist entscheidend, was wir daraus machen.

Wenn wir die Idee, dass die Streiks nichts mit uns zu tun hätten, dass wir unbeteiligt seien, aufgeben, können wir eine gesellschaftliche Verantwortung erfüllen und auch uns selbst ein Stück weiter befreien. Wenn wir Streikenden mit all unseren Möglichkeiten unterstützen – sei es nur ein Tweet, ein positives Wort im Gespräch mit anderen oder vielleicht sogar die Organisation eines eigenen, parallelen Streiks – dann unterstützen wir eigentlich auch uns selbst. Wir ermöglichen nicht nur anderen, sondern auch uns selbst ein Leben mit Menschenwürde. Ein Leben, in dem Zeit übrig bleibt. Ein Leben, in dem wir leben können.

Screenshot von einem Instagram-Post. Es ist ein Meme für die Heilung. Luna, die schwarze Katze von Sailor Moon, schaut traurig nach oben, es schneit. Sie fragt: how do we get through this? und im zweiten Bild unten umarmen sich Sailor Moon und Luna, und drunter steht: together. Bild vom instagram-Account hopehealingarts. (Si apre in una nuova finestra)

»Vergewaltigung der Sprache«? Herr Söder, wie bitte? Was ist das denn für eine Sprache? Ach, sorry, kurz vergessen, heute werden ja mal nicht unsere Frauen vor den Muslimen geschützt, sondern unsere Sprache und Literatur vor den Frauen. – Christiane Frohmann (Si apre in una nuova finestra)

Veranstaltung: taz-Talk, 18.12.2023 19:00 Uhr mit Daniel Schulz

Foto: Cihan Çakmak / S. Fischer Verlag. Collage: taz.de

Am 18. Dezember um 19 Uhr spreche ich mit dem taz-Journalist und Buchautor Daniel Schulz über mein Buch “Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss”. Ihr könnt den Talk live streamen (Si apre in una nuova finestra) und das Buch überall bestellen (Si apre in una nuova finestra).

Weitere Termine könnt ihr meiner Website (Si apre in una nuova finestra) entnehmen. Für Anfragen für Lesungen, Diskussionen und mehr, bitte eine Mail an contact@sibelschick.net.

Zwei Pässe sind zwei zu viel

Zwei Autos habe ich
Und zwei Wohnungen.
Zwei Kinder habe ich
Von zwei Frauen.

Am Montag sage ich nein.
In meiner Wache keine
Turboeinbürgerung.
Ein Leben lang
Behördengang.

Was wollen die mit zwei Pässen,
wenn sie den Deutschen eh nicht kriegen?

Zwei Nächte hintereinander verbringen wir in den Notaufnahmen von zwei verschiedenen Krankenhäusern. Ich bin gerade bei meiner Cousine zuhause, sie wurde vor kurzem operiert. Da ruft mich meine Oma an. Ihr geht es nicht gut, ich soll kommen und sie ins Krankenhaus fahren, bittet sie. Ich nehme ein Taxi, hole sie ab und fahre sie in das nächstgelegene Krankenhaus, es ist ein Privates. Sie erhält eine Infusion. Der Schatten gegenüber ihres Betts hat einen Wellenmuster, wie eine Tapete aus den 1970er Jahren.

Der Arzt sagt sie müsse einen Lungenarzt sehen, aber lieber in einem staatlichen Haus, hier würde es zu teuer. Sie bekommt aber prophylaktisch eine Spritze mit Gerinnungsmittel, damit wir heute Nacht in Ruhe schlafen können.

Am nächsten Tag fahre ich sie zur Uniklinik. Sie will nicht, sie sagt ihr fehle nichts, und muss erst von meiner Mutter und Tante überredet werden. Die Uniklinik ist nicht sehr beliebt, weil das studentische Personal sehr jung ist. Das heißt es wird nicht sehr voll sein, und das ist der Grund, dass wir hier sind. In anderen staatlichen Krankenhäusern zertrampeln sich die Patient*innen gegenseitig. Es gibt nicht genug Personal, die sind alle nach Deutschland. Es gibt kein funktionales Schlangensystem, also kommt zuerst rein, wer die schärferen Ellbogen hat. Hier ist es etwas ruhiger. Am Eingang sitzen zwei Polizeibeamte. Vielleicht liegt es daran?

Wir melden uns an. Hier warten mindestens 40 Andere. Circa eine Stunde dauert es, es ist nicht allzu lang. Ich gehe zwischendurch einmal zur Toilette, es gibt keine Handseife, keine Handtücher.

Meine Oma wird hineingerufen, ihr Türkisch ist so lala, ich muss die Fragen des medizinischen Personals für sie oft wiederholen. “Kinder”, sagt sie. “Es sind doch alles nur Kinder.” Sie hat recht. Neben ihrem Bett, hinter dem weißen Vorhang mit Blutflecken, sitzen vier-fünf sehr junge Menschen mit medizinischer Arbeitskleidung, die sich laut und fröhlich unterhalten, quasi wie in einem Café. Auf dem Computerbildschirm spielt Fenerbahçe gegen Beşiktaş. Jemand kommt, um meiner Oma einen Gefäßzugang zu eröffnen. Sie trägt keine Handschuhe, desinfiziert sich nicht die Hände, es gibt auch keinen Handdesinfektionsmittel in weiter Sicht. Sie reißt zwei Stücke Panzerband und klebt sie auf ihre Hose. Dann steckt sie die Nadel in die Haut meiner Oma und öffnet den Gefäßzugang. Statt einen Rollenpflaster, nutzt die Person die zwei Panzerbandstreifen aus ihrer Hose, um den Gefäßzugang an der Hand meiner Oma zu befestigen. Rau und hart kleben sie auf ihrer zarten Haut, als wäre sie keine 85-jährige kranke Frau, sondern eine Baustelle. Es gäbe keine Pflaster, sagt sie uns dann. Die Person riecht sehr stark nach Parfüm.

“Gott hatte dich doch herausgerettet”, sagt meine Oma. “Und jetzt bist du wieder hier.” Das Lustige ist, dass Gott auch meine Oma herausgerettet hatte. Und jetzt ist sie wieder hier.

Saure Zeiten erscheint weiterhin einmal im Monat, allerdings ohne Kolumne abwechselnder Autor*innen. Dieser Platz war reserviert für Menschen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz greifen. Autor*innen für die Kolumne zu suchen, zu finden, anzufragen und zu begleiten kostet Zeit, und das Honorar, das ich ihnen für ihre Arbeit zahle, kostet Geld. Meine Abo-Zahlen gehen seit der Corona-Pandemie zurück. Unter diesen Bedingungen kann ich die Kolumne leider nicht länger anbieten. Bitte überlege, heute ein Abo über Steady (Si apre in una nuova finestra) oder Patreon (Si apre in una nuova finestra) abzuschließen. Sollte ich irgendwann wieder genug Einnahmen haben, führe ich die Kolumne erneut ein. 

Liebe Grüße
Sibel Schick 🍋

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