Wer ist jetzt überrascht?
Wer ist von den Deportationsplänen der AfD (Si apre in una nuova finestra) überrascht? Jedenfalls nicht diejenigen, die in den letzten Monaten zuhörten. Diejenigen, die beobachten, dass in Deutschland die “Debatten” immer rassistischer und menschenfeindlicher werden. Menschen, die sich in Deutschland eigentlich noch nie so wirklich sicher fühlen durften. Jene, die aus eigener Erfahrung und aus dem Wissen, das ihnen tagtäglich geliefert wird, schlussfolgern können, dass Deportationen in naher Zukunft nur eine nachvollziehbare Konsequenz der letzten Jahre sein können. Viele sind nicht überrascht. Wer jetzt überrascht ist, sollte nicht morgen, sondern gleich heute anfangen, besser zuzuhören.
Ich höre schon: Hast du denn ein Beispiel, Sibel? Können Sie es denn begründen, Frau Schick?
Am 7. Oktober 2023 verübt Hamas einen Massaker an jüdische Menschen in Israel, vergewaltigt, mordet, verschleppt, traumatisiert. In Deutschland müsste das eigentlich eine substanzielle Debatte über die Ursachen und Präventionsmaßnahmen auslösen, würde man zumindest erwarten. Vergeblich. Stattdessen diskutierte das Täterland des Nationalsozialismus über einen vermeintlich aus dem Ausland importierten Antisemitismus. Irgendwie waren schon wieder die Kanaken schuld.
Ich muss wochenlang so ausgesehen haben: 🥴 ← so ungefähr.
Deutschland diskutierte im Anschluss des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 lang und breit über Abschiebungen. Der Kanzler Olaf Scholz sagte in einem Spiegel-Interview, dass Deutschland anfangen müsse, “im großen Stil” abzuschieben. Das sagt er als Antwort auf eine Frage über den Hamas-Angriff und den Antisemitismus in Deutschland. Im Anschluss des größten antisemitischen Terroranschlags seit dem zweiten Weltkrieg. Das muss man sich erstmal reinziehen. Wie sehr das gegen den Antisemitismus in Deutschland geholfen haben darf, wissen wir nicht. Ich denke wenig bis gar nicht.
Ich habe in der Vergangenheit mindestens zwei Mal geschrieben, und heute muss ich es wiederholen: Furzt der Imam, so kackt die Gemeinde. Wenn der Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Spiegel-Interview auf eine Frage über Antisemitismus in Deutschland mit “Wir müssen endlich anfangen, im großen Stil abzuschieben” antwortet, auch noch in Bezug auf den größten antisemitischen Terroranschlag seit der Shoa, dann furzt eben die Gemeinde Deportationspläne auf der Wannsee Konferenz 2.0.
Wir beobachten seit Jahren einen Rechtsruck, wir beobachten seit Jahren eine Erweiterung des Sagbaren und des Machbaren. Woran liegt das? Ich habe eine sehr einfache Antwort: Es liegt daran, dass andere Parteien die AfD imitieren. Expert*innen warnen dabei seit Jahren, dass jene politischen Parteien, die keine Naziparteien sind, so nicht die Wähler*innen von Naziparteien zurückgewinnen, sondern lediglich selbst zu Naziparteien werden können. Das ist schlüssig. Warum sollen sie euch Süßwasserfaschos wählen, wenn sie schon eine Partei haben, die aus lupenreinen Faschos besteht? Wenigstens haben die Naziparteien keine Angst davor einzugestehen, was sie sind, und tun nicht so, als ob ihnen Menschenrechte und so Kram wichtig wäre.
Ich halte ihm einfach mein Bild mit dem fucking Adler unter die Nase. Aber dann fallen mir Kozminskis Worte wieder ein. Dass, wer eingebürgert wurde, auch ausgebürgert werden kann. Scheiß drauf, denke ich. Das ist doch genau, was die wollen. Dass man sich nie zu sicher fühlt.
– Necati Öziri: Vatermal (Si apre in una nuova finestra)
Deutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft sollen in der Zukunft besser abgeschoben werden können, soll es auf dem Faschotreffen bei Potsdam gegangen sein, das ist so der große Nazi-Plan, um dem “großen Austausch” entgegenzuwirken. Viele Deutsche kennen sich absolut nicht mit dem Einbürgerungsprozess in Deutschland aus. Die Eingebürgerten können das Deutschsein besser als jene, die die deutsche Staatsbürgerschaft geschenkt bekommen haben. Sie müssen es sich nämlich erkämpfen und die Anforderungen sind unfassbar hoch. Die ganze “Integration” müssen sie ausgespielt haben, man muss Deutschland besser bedienen als gebürtige Deutsche. Das Integrationsmärchen diktiert, dass uns am Ende des Integrationsregenbogens ein mit Pässen gefülltes Goldfass mit Deutschlandfarben erwartet. Bling bling.
Aber Märchen sind eben Märchen. Und wir sind zu alt für sowas.
Wir die Eingebürgerten wissen, dass man auch heute ausgebürgert und aus Deutschland rausgeschmissen werden kann. Zehn Jahre lang nach der Einbürgerung sind wir nämlich Deutsche auf Bewährung. “Diese Bewährungsfrist betrug früher fünf Jahre, die große Koalition aus SPD und Union verdoppelte sie 2019 einfach mal – danke dafür!” schreibe ich in meinem Buch “Weißen Feminismus canceln (Si apre in una nuova finestra)”. Wenn die Behörden die Meinung vertreten, dass du bei deiner Einbürgerung falsche Angaben gemacht hast, kannst du jederzeit wieder gehen. Was Lüge und Wahrheit ist, definierst nicht du, sondern die Behörden. Ist es unter diesen Umständen wirklich so verwunderlich und so weit von der hiesigen Realität entfernt, dass Deutsche aus Deutschland auch aus anderen als oben erwähnten Gründen deportiert werden können?
Auf Instagram schreibt Tupoka Ogette (Si apre in una nuova finestra) in Bezug auf die Correctiv-Recherche: “Seid nicht überrascht. Seid nicht schockiert. Bitte. Seid ready. Seid ready im wahren Leben. Und zwar abseits von Social Media. Sprecht mit Kolleg*innen, in der Familie, mit Freund*innen, mit Nachbarn. Lasst nicht locker. Übt es zu argumentieren, habt eure Fakten parat, bildet euch. Bleibt im Kontakt, auch wenn Meinungen mal auseinander driften. Stärkt Allianzen. Führt die schwierigen Gespräche. Lest die Bücher, gebt sie weiter. Check in bei den BIPOC um dich herum. Geht wählen, wenn es an der Zeit ist.”
Gesetze können sich jederzeit ändern. Das tun sie ohnehin permanent. Und dass sich Gesetze ändern, ist nicht verwerflich – die demokratische Flexibilität ist notwendig für Verbesserungen. Aber genau diese notwendige Eigenschaft macht die Demokratie auch fragil. Daher muss mit ihr sehr, sehr verantwortungsvoll umgegangen werden. Wer diese Verantwortung ernst nimmt, ist heute nicht überrascht.
Saure Zeiten erscheint weiterhin einmal im Monat, allerdings ohne Kolumne abwechselnder Autor*innen. Dieser Platz war reserviert für Menschen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz greifen. Autor*innen für die Kolumne zu suchen, zu finden, anzufragen und zu begleiten kostet Zeit, und das Honorar, das ich ihnen für ihre Arbeit zahle, kostet Geld. Meine Abo-Zahlen gehen seit der Corona-Pandemie drastisch zurück. Unter diesen Bedingungen kann ich die Kolumne leider nicht länger anbieten. Bitte überlege, heute ein Abo über Steady (Si apre in una nuova finestra) oder Patreon (Si apre in una nuova finestra) abzuschließen. Sollte ich irgendwann wieder genug Einnahmen haben, führe ich die Kolumne erneut ein.
Liebe Grüße
Sibel Schick 🍋