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Braverman und Prioritäten

Seit ich keine Lust auf, und vor allem keine Kraft mehr für, Deutschland habe, überlege ich, wo ich denn stattdessen leben könnte. Mir ist klar, dass in der Türkei zu leben kein nachhaltiger Plan ist. Aber wohin?

Als mir mein Privileg, gehen zu können, wo ich hin will, klar wurde, dachte ich unter anderem: London! Schließlich wäre das meine erste Wahl damals gewesen, hätte ich es mir leisten können, dort zu leben. Weil es mein Jugendtraum war, als Goth-Alien, sesshaft in Antalya, zwischen täglichen Grenzüberschreitungen, weil ich so anders aussah, und dem kommenden Gefahr des Faschismus, in dem freien, geilen London zu leben. Das Problem war bloß: Das Leben dort war zu teuer. Deshalb kam ich nach Deutschland. Aber inzwischen bin ich ja erwachsen und habe die Kontrolle über mein Leben, dachte ich, hahahahahaha. Und dann fing ich an, die Nachrichten aus England etwas aufmerksamer zu lesen.

Ich sprach gleichzeitig mit Menschen, die in London leben. Menschen, die migrantisch sind oder zumindest nicht weiß, warum sie in London leben, und wie sie sich denn bitteschön die teuren Mieten leisten können. Die durchschnittliche Monatsmiete in London beträgt über 2.000 Pfund – wer soll das zahlen?

Alle erzählten mir die gleiche Geschichte: Sie sind super zufrieden. Ja, manchmal gibt es keine Tomaten, aber dafür haben sie ihre Ruhe in Sachen Rassismus. Klar, die Mietpreise sind ein Albtraum, aber es gibt ja außerhalb günstigere Optionen. Klar, eine Fahrt mit der U-Bahn kann bis zu 8 Pfund kosten, aber fährt man wirklich so oft U-Bahn, wo man jetzt so locker von zuhause arbeiten kann? Klar wartet man die ganze Nacht in der Notaufnahme, bis man behandelt werden kann, aber wenn es um „ernste“ Sachen wie Krebs geht, ist die Versorgung immer noch besser als zB. in der Türkei.

Also, alle schienen irgendwie total glücklich und zufrieden. Das stimmte nicht mit den Nachrichten, die ich las, überein: Krebspatient*innen, die für eine lebensnotwendige Operation bis zu zwei Jahre warten müssen. Familien, die einmal die Woche groß kochen und an den restlichen Tagen kalt essen, um Energiekosten zu sparen. Eltern, die selber nur noch einmal am Tag essen, damit etwas für ihre Kinder übrig bleibt. Tafel, die aufgrund erhöhter Nahrungspreise keine Sachspenden mehr erhalten und Menschen in Not zurückweisen müssen.

Könnte alles Positive, was mir in Bezug auf das schöne Leben in England erzählt wurde, nur Verleugnung sein? Führten die Menschen etwa Selbstgespräche: Sich selbst die Lage schönreden, um irgendwie klarzukommen?

Heute morgen las ich den Newsletter von Times of London. Ich würde ihn nicht empfehlen, die Zeitung ist nicht sehr seriös. Ich verfolge ja aus einem bestimmten Grund – und lese fast jede Ausgabe. Heute durfte ich zum Beispiel etwad Spannendes über Suella Braverman lesen – das ist die ehemalige Home Secretary, die zum Rücktritt gebeten wurde. Grund dafür, also der offizielle Grund, ist ein Artikel, den sie für The Times schrieb. Darin instrumentalisiert Braverman Antisemitismus, um ihrem internalisierten Kanakenhass freien Lauf zu lassen – so wie es aktuell auch in Deutschland Gang und Gebe ist. Es ist klar, dass sich diese politischen Opportunist*innen weder für jüdische noch für palästinensische Menschen, ihre Rechte, Würde und Sicherheit interessieren. Es geht um Machtausübung und darum, wie sie irgendwie von dieser katastrophalen Lage profitieren können – auch Braverman geht es darum, sich als rechte Politikerin zu etablieren. Für Belege dafür, muss man nicht lange suchen. Man muss sich nur kurz ihre Aussagen bisschen genauer ansehen.

Nach ihrem Rücktritt warf Braverman dem PM Rishi Sunak vor, die Versprechen, die er ihr im Voraus im Gegensatz zu ihrer Unterstützung machte, nicht gehalten zu haben. Es geht um politische Vorhaben.

The first was to cut legal migration to 245,000 a year in line with the 2019 Tory manifesto by reducing the number of international students and increasing salary thresholds for work visas.

The second was to introduce legislation to exclude the operation of the European Convention on Human Rights (ECHR) and other international legal treaties from Britain’s asylum law.

The third was a promise to override the government’s Brexit deal on Northern Ireland and scrap all European Union laws still in British legislation.

Finally, she says he agreed to issue unequivocal statutory guidance to schools that protect biological sex, safeguard single-sex spaces and empower parents to “know what is being taught to their children”.

Das ist super. Nein, das ist nicht super, das ist eigentlich total beschissen. Aber es ist auch super. Ich erkläre. Moment.

Stellen wir uns kurz vor: Wir sind eine Politikerin, die dafür bezahlt wird, Probleme zu lösen. Die Probleme dominieren das Land: Krisen herrschen in Bereichen Wohnen, Nahrung und Gesundheit. Alle drei sind Grundbedürfnisse, alle drei sichern das Überleben von Menschen, das heißt dass die Krise lebensbedrohlich ist und Menschen unweigerlich sterben (werden). Und worüber macht sich Braverman Sorgen? Wofür verspricht sie Sunak ihre Unterstützung? Um die Migration zu stoppen, die Rechte von trans Personen zu verletzen, Menschenrechte zur Debatte zu stellen und Brexit zum Abschluss zu bringen.

Woher kennen wir das nochmal – diese Fokussierung auf nationale Grenzen, Dämonisierung und Entrechtung von marginalisierten Minderheiten? Diese Vermeidung echter und Vergrößerung bestehender Probleme?

Hehe. Die sind irgendwie alle gleich.

So regiert man nicht. Man regiert nicht, indem man von echten Problemen ablenkt und marginalisierte Minderheiten zur Zielscheibe macht. So kann man kein Land aus irgendeiner Krise lenken. Aus der Krise kommt man nur, indem die Krisenursachen bekämpft werden: Flache Hierarchien, mehr Gleichheit – nein, halt stopp, nicht „mehr“ Gleichheit, sondern überhaupt Gleichheit. Eine absolute Gleichheit.

Suella Bravermans und Rishi Sunaks dieser Welt abschaffen, damit wir leben können.

Saure Zeiten erscheint weiterhin einmal im Monat, allerdings ohne Kolumne abwechselnder Autor*innen. Dieser Platz war reserviert für Menschen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz greifen. Autor*innen für die Kolumne zu suchen, zu finden, anzufragen und zu begleiten kostet Zeit, und das Honorar, das ich ihnen für ihre Arbeit zahle, kostet Geld. Meine Abo-Zahlen gehen seit der Corona-Pandemie zurück. Unter diesen Bedingungen kann ich die Kolumne leider nicht länger anbieten. Bitte überlege, heute ein Abo über Steady (Si apre in una nuova finestra) oder Patreon (Si apre in una nuova finestra) abzuschließen. Sollte ich irgendwann wieder genug Einnahmen haben, führe ich die Kolumne erneut ein.

Liebe Grüße
Sibel Schick

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