Ein Abend in Bellevue
Als der Komponist und Virtuose Felix Mendelssohn ein Kind war, mag er in diesem Park am Ufer der Spree gespielt haben. Dann betrachtete er vielleicht das schöne, nicht allzu große klassizistische Schloss Bellevue. Damals war es neu und lag weit vor der Stadt. Felix Mendelssohn wurde nicht alt. Kindheit, Jugend, Ruhm und Werk mussten in 38 Jahren Platz finden.
Als am vergangenen Sonntag zu später Stunde mal kurz Pause ist von Staatsbesuch, Staatsbankett und Staatszirkus spielt im großen Saal von Bellevue ein deutsch-französisches Quartett das Intermezzo (Si apre in una nuova finestra) aus Mendelssohns Streichquartett Nr. 2 in a-Moll, Op 13. Es ist eine überirdisch schöne Melodie, voller Eleganz, die die Jahrhunderte seit ihrer Komposition übermütig überspringt. Und schlicht genug ist, dass jedes Kind sie pfeifen kann. Mendelssohn war achtzehn, als er sie schrieb.
Wenn man den Kopf zur Decke des großen Saals von Bellevue hebt, wo der Widerschein der Kerzenleuchter herumspukt, wirbeln die Epochen ineinander wie Wäschestücke im Schleudergang. Einerseits müssen wir schon weiter sein als im 19. Jahrhundert, denn wir haben ja ein Smartphone in der Tasche. Andererseits ist der Kampf um Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa nicht gewonnen. Derzeit, es ist eigentlich kaum zu glauben, liegen wir sogar in der Defensive.
Vor den Fenstern ist es längst Nacht, man blickt auf eine bukolische Landschaft unter einem hellen Mond und es sieht überhaupt nicht aus wie Berlin da draußen. Wo sind wir dann?
Im Saal sind Angela Merkel, die Christians Wulff und Lindner, Friedrich Merz, Scholz, Macron und der Hausherr, der Bundespräsident und seine Frau , noch weitere Gäste. Sie alle sitzen so herum und freuen sich des Lebens. Es hat etwas von einem seltsamen Traum, als sei man vor den Spätnachrichten eingeschlafen, hätte zuvor aber einen Kostümfilm aus der Zeit der Aufklärung gesehen.
Macron ist der Star des Abends. Unsere Spitzenpolitik sucht seine Nähe, freut sich sichtlich, dass die europäische Politik so ein charismatisches Talent aufbieten kann. Keine Spur von Zwist oder Konkurrenz. Sie stehen zusammen wie die Pinguine. Dann versammeln sich alle um Ulrich Wickert, als könnten sie etwas abbekommen von seiner Weisheit und Lebenskunst.
Es ist spät, aber niemand ist müde. Das Essen wird serviert, als die ganze Sache schon beendet sein sollte. Tja, das Essen. Es war mit großer Mühe zubereitet und auf höchstem Niveau arrangiert. Auf dem Teller lagen diverse Elemente, als wollte man die gutbürgerlichen Klassiker Erbsensuppe, Sauerbraten, Spätzle, Spargel dekonstruieren. Aber zu was setzt man das wieder zusammen? Welche Geschichte erzählen die Gerichte? Es gab mehr Fragen als Antworten. Tolle Einzelleistungen, aber die Botschaft bleibt diffus. Genau wie bei der Ampel.
Dann ist es Mitternacht und somit Geisterstunde auf Schloss Bellevue. Eine Handvoll Menschen steht noch in den leeren Fluren und Salons herum. Man plaudert über dies und das. Einer von uns ist Bundeskanzler. Er gibt sich verschwiegen und unterhaltsam zugleich. Olaf Scholz verfügt über einen sechsten Sinn, denn er checkt, wer seine Gesprächspartner sind und was sie bewegt, ohne groß nachzufragen. Seine Miene ist differenziert: Ein Auge lacht, eines wacht.
Felix Mendelssohn starb 1847. Ein Jahr später tobte in ganz Europa eine Revolution. Darauf folgte eine harte, lange Reaktion. Kriege wurden vom Zaun gebrochen, eine weitere Revolution brach aus. Weimar, die Nazis, die Shoah, die Teilung und die Wiedervereinigung. Dieses alte Schloss hat das alles erlebt.
Ist unsere Freiheit, ist das Glück nur ein Intermezzo?
Die Aktualität führt uns immer wieder zum Thema der organisierten Kriminalität. In den Niederlanden, in Belgien und nun auch in der französischen Provinz haben sich kriminelle Strukturen etabliert, denen nur sehr schwer beizukommen ist. In der Bekämpfung der verschiedenen Formen der OK nimmt Italien eine Pionierrolle ein, auch in der kulturellen Darstellung des Phänomens. Nachdem ich das Buch von Roberto Saviano über Giovanni Falcone gelesen hatte, habe ich nun angefangen, mir die nach seinen Vorlagen gestaltete Serie Gomorrah anzusehen. Sie ist schon älter, aber ihre Relevanz ist leider nur gestiegen. In Meloni-Italien hat es Saviano auch noch mal schwerer. Und wie bei allen guten Serien dieser Art ist es so, dass man bald den größten Schurken die Daumen drückt, weil bei aller Bosheit immer auch ihre Menschlichkeit durchscheint.
https://www.youtube.com/watch?v=VGTLZEf28uw (Si apre in una nuova finestra)In unseren Städten kreuzen wir dauernd den Bismarck, Kaiser, Fürsten, Heilige sowie Dichter und Musiker, aber gewisse Personen, die kommen kaum vor. Dabei stärkt es die Demokratie, wenn man auf jene zurückblickt, die damals schon gekämpft haben, um eines Tages so frei zu sein wie wir heute. So erkennen wir, dass unser Alltag, etwa die Wahl zum Europaparlament am 9. Juni, einmal eine Utopie war. So jemand ist Emma Herwegh – erst vor kurzem erschienen ihre Schriften in der Edition Paulskirche (Si apre in una nuova finestra), nun haben Joachim Telgenbüscher und ich ihr eine Folge unseres Podcasts gewidmet:
https://podcasts.apple.com/de/podcast/emma-herwegh-der-harte-kampf-f%C3%BCr-ein-geeintes-europa/id1733559978?i=1000656964175 (Si apre in una nuova finestra)Da sich das Ende der Herrschaft der Tory-Partei in UK nähert, deren Handlungen und Äußerungen direkt aus dem Flying Circus der Monty Python (Si apre in una nuova finestra) stammen könnten, blicke ich mit zunehmendem Interesse auf jene paar Funken, die uns anzeigen, dass sich dort noch nicht völlige Finsternis ausgebreitet hat.
https://www.theguardian.com/food/article/2024/may/27/the-20-best-easy-chicken-recipes (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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